REZ_Haecker_JIG_49-2_2017.pdf

June 11, 2018 | Author: Choné Aurélie | Category: Documents


Comments



Description

Sonderdruck aus: Jahrbuch für Internationale Germanistik XLVIII––Heft Heft21(2017) (2016) Jahrgang XLIX

ISSN 0449-5233 br.

ISSN 2235-1280 eBook

2016 2017 Verlag Peter Lang Bern • Berlin • Bruxelles • Frankfurt am Main • New York • Oxford • Wien

Jahrbuch für Internationale Germanistik

Anschriften Herausgeber Prof. Dr. Mun-Yeong Ahn, Noeul 3 No 14, 108-601, Sejong City, 339-721 Süd-Korea Prof. Dr. Laura Auteri, Università degli Studi di Palermo, Dipartimento di Scienze Umanistiche, Viale delle Scienze, ed. 12, I-90128 Palermo Prof. Dr. habil. Rudolf Bentzinger, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften, Deutsche Texte des Mittelalters, Jägerstraße 22–23, DE-10117 Berlin Prof. Dr. Anil Bhatti, Centre of German Studies (SLL&CS), Jawaharlal Nehru University, New Dehli – 110067, Indien Prof. Dr. Michael Dallapiazza, Dipartimento di Lingue, Letterature e Culture Moderne, Università di Bologna, Via Cartoleria 5, I-40124 Bologna Prof. Dr. Elvira Glaser, Universität Zürich, Deutsches Seminar, Linguistische Abteilung, Schönberggasse 9, CH-8001 Zürich Prof. Dr. Rüdiger Görner, Queen Mary University of London, Centre for Anglo-German Cultural Relations, Mile End Road, GB-London E1 4NS Prof. Dr. Wolfgang Hackl, Universität Innsbruck, Institut für Germanistik, Innrain 52, AT-6020 Innsbruck Prof. Dr. Isabel Hernández, Dpto. de Filología Alemana, Directora del IULMyT, Facultad de Filología - Edif. D-2.345, Avda. Complutense, s/n, E-28040 Madrid Prof. Dr. Mark L. Louden, University of Wisconsin, Department of German, Van Hise Hall, USA-Madison, Wisconsin 53706-1525 Prof. Dr. Carlotta von Maltzan, University of Stellenbosch, Department of Modern Foreign Languages, P. Bag X 1, ZA-7602 Matieland, South Africa Prof. Dr. Gaby Pailer, Institute for European Studies, Vancouver Campus, 1855 West Mall, Vancouver, BC Canada V6T 1Z1 Prof. Dr. Dr. h.c. Hans-Gert Roloff, Freie Universität Berlin, Fachbereich Philosophie und Geisteswissenschaften, Forschungsstelle für Mittlere Deutsche Literatur, Habelschwerdter Allee 45, DE-14195 Berlin. Privat: Lindenallee 12, DE-17440 BauerZemitz, Tel. +49/38374 559956, Fax +49/38374 559957 Prof. Dr. Karol Sauerland, Universität Warszawa, ul. Nowogrodzka 23 m 6, PL-00-511 Warszawa Prof. Dr. Dr. h.c. Franz Simmler, Freie Universität Berlin, Fachbereich Philosophie und Geisteswissenschaften, Institut für Deutsche und Niederländische Philologie, Habelschwerdter Allee 45, DE-14195 Berlin Prof. Dr. Paulo Astor Soethe, Universidade Federal do Paraná, Setor de Ciências Humanas, Letras e Artes (SCHLA), R. General Carneiro, 460, 80060-140 Curtiba-PR, Brazil Prof. Dr. Jean-Marie Valentin, Université de Paris-Sorbonne, Paris IV, Faculté d’Etudes Germaniques, Centre Universitaire Malesherbes, 108 Bvd. Malesherbes, FR-75850 Paris Prof. Dr. Maoping Wei, Shanghai International Studies Uni., Dept. of German, 550 Dalian Road West, 200083 Shanghai/China Prof. Dr. Winfried Woesler, Universität Osnabrück, Fachbereich Sprach- und Literaturwissenschaft, Postfach 4469, DE-49069 Osnabrück Redaktion Jahrbuch für Internationale Germanistik, Redaktion: Dr. Gerd-Hermann Susen, Freie Universität Berlin, Fachbereich Philosophie und Geisteswissenschaften, Forschungsstelle für Mittlere Deutsche Literatur, Habelschwerdter Allee 45, DE-14195 Berlin, Telefon +49 30 8385 5007, Fax +49 30 8385 2821, Mail: [email protected] Verlag Peter Lang AG, Internationaler Verlag der Wissenschaften, Wabernstrasse 40, CH-3007 Bern, Telefon +41 31 306 17 17, Fax +41 31 306 17 27 [email protected], www.peterlang.com

Jahrbuch für Internationale Germanistik In Verbindung mit der Internationalen Vereinigung für Germanistik

herausgegeben von Mun-Yeong Ahn – Laura Auteri – Rudolf Bentzinger – Anil Bhatti – Michael Dallapiazza – Elvira Glaser – Rüdiger Görner – Wolfgang Hackl – Isabel Hernández – Mark L. Louden – Carlotta von Maltzan – Gaby Pailer – Hans-Gert Roloff – Karol Sauerland – Franz Simmler – Paulo Astor Soethe – Jean-Marie Valentin – Maoping Wei – Winfried Woesler

Geschäftsführender Herausgeber Hans-Gert Roloff

Jahrgang XLIX – Heft 2

2017 PETER LANG Bern • Berlin • Bruxelles • Frankfurt am Main • New York • Oxford • Wien

ISSN 0449-5233 br.

ISSN 2235-1280 eBook

Diese Publikation wurde begutachtet. © Peter Lang AG, Internationaler Verlag der Wissenschaften, Bern 2017 Wabernstrasse 40, CH-3007 Bern, Schweiz [email protected], www.peterlang.com Alle Rechte vorbehalten. Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Hungary

Inhaltsverzeichnis

Abhandlungen zum Rahmenthema XLIII ,Deutsch-italienische Literaturbeziehungen‘ Elfte Folge Elisa von der Reckes Tagebücher ihrer Reise nach Rom Von Carola Hilmes (Frankfurt a. M.). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

9

Das deutschsprachige postdramatische Theater in Mailand Von Gloria Colombo (Mailand). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21

Abhandlungen zum Rahmenthema L ,Deutsch-chinesische Literaturbeziehungen‘ Dritte Folge Fremderfahrung als Selbstreflexion: Werther in China Von Mu Gu (Peking). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 43 Junte Gelasi. Günter Grass in China (1979–2016). Übersetzungen – Forschung – Wirkung Von Yanhui Wang (Peking). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 61

Abhandlungen zum Rahmenthema LIV ,Zum Stand der deutschen Sprache und Kultur in nicht-deutschsprachigen Ländern‘ Zweite Folge Chinesische Germanistik im Umbruch: Herausforderungen – Chancen – Debatten. Einleitende Bemerkungen Von Yuan Li / Benno Wagner (Hangzhou). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 109 Die deutsche Sprache in China: eine aktuelle Bestandsaufnahme Von Yuan Li / Fei Lian (Hangzhou). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 115 Geschichte, Entwicklung und Zukunft der chinesischen Germanistik Von Yuqing Wei / Wenwen Qin (Shanghai). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 145 German Studies an chinesischen Hochschulen: Status quo und Zukunft Von Chunrong Zheng (Shanghai) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 157 Zur Forschungslandschaft der germanistischen Linguistik an chinesischen Hochschulen: Perspektiven und Herausforderungen Von Qi Chen / Su Ye (Shanghai). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 169 Chinesische Germanistikstudierende in Deutschland. Aufenthaltszeiten, Fachverteilung, Abschlussgrade, Flowback ins chinesische akademische System Von Jing Zhao (Hangzhou) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 183

5

Der IVG-Kongress 2015 an der Tongji-Universität Shanghai. Planung, Durchführung, Perspektiven Von Michael Szurawitzki (Shanghai) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 195

Neueste deutschsprachige Literatur Ulrike Draesner: Nibelungen. Heimsuchung. Stuttgart 2016 (Michael Dallapiazza). . . . . 209 Sibylle Lewitscharoff: Pfingstwunder. Berlin 2016 (Rita Unfer Lukoschik). . . . . . . . . . . . . 219

Rezensionen Sarah Timme: Die Edda 1943. Bild – Text – Buchgestaltung. Heidelberg 2016. (Michael Dallapiazza) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 237 Mittelalterrezeption in der DDR-Literatur. Hrsg. von Gesine Mierke und Michael Ostheimer, unter Mitarbeit von Mary De Luca und Carolin Menzer. Würzburg 2015 (Jörn Münkner) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 239 Jörg Robert: Vor der Klassik. Die Ästhetik Schillers zwischen Karlsschule und Kant-Rezeption. Berlin / Boston 2011 (Alice Staskova) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 242 Charlotte Schiller: Literarische Schriften. Hrsg. u. kommentiert von Gaby Pailer, Andrea Dahlmann-Resing und Melanie Kage. Unter Mitarbeit von Ursula Bär, Florian Gassner, Laura Isakov, Joshua Kroeker, Re­becca Reed, Karen Roy und Zifeng Zhao. Darmstadt 2016 (Carola Hilmes). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 245 Malte Osterloh: Versammelte Menschenkraft – Die Großstadterfahrung in Goethes Italiendichtung. Würzburg 2016 (Stephan Oswald) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 247 Imelda Rohrbacher: Poetik der Zeit. Zum historischen Präsens in Goethes „Die Wahlverwandtschaften“. Göttingen 2016 (Jutta Linder). . . . . . . . . . . 249 Dieter Burdorf und Thorsten Valk (Hrsg.): Rudolf Borchardt und die Klassik. Berlin / Boston 2016 (Angela Reinthal). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 251 Tomislav Zelić (Hrsg.): Traditionsbrüche. Neue Forschungsansätze zu Hermann Bahr. Frankfurt a. M. 2016 (Agnieszka Zakrzewska-Szostek) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 257 Sonja Valentin: Steine in Hitlers Fenster. Thomas Manns Radiosendungen Deutsche Hörer! (1940–1945). Göttingen 2015 (Michael Dallapiazza). . . . . . . . . . . . . 262 Heidi Reuschel: Tradition oder Plagiat? Die ,Stilkunst‘ von Ludwig Reiners und die ,Stilkunst‘ von Eduard Engel im Vergleich. Bamberg 2014 (Robert Charlier). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 263 Aurélie Choné / Isabelle Hajek / Philippe Hamman (Hrsg.): Guide des Huma­nités environnementales. Villeneuve d’Ascq 2016 (Andreas Häcker) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 267

Berichte und Hinweise Neues über Goethe in China . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 273 Vorschlag für ein Rahmenthema Arbeitstitel: Deutsch-polnische Literaturbeziehungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 279

6

der Forschungsliteratur. So lautet der Eigenname des Dichterkonkurrenten von Martial (korrekt) „Fidentinus“ (S. 19), wird aber im Sekundärliteraturzitat auf S. 58 als „Fidentius“ wiedergegeben. Im Vorwort zur Arbeit seiner (früheren) Doktorandin Anke Sauter spricht Helmut Glück – erneut wenig ,glücklich‘ – von „Bertold Brecht“ (i. e. Bertolt Brecht), was Reuschel in ihrer Wiedergabe unkommentiert übernimmt (S. 84, zweite Zitatwiedergabe, Zeile 4; so auch bei Sauter 2000, S. IX, Absatz 3, Zeile 15). Bei Reuschel selbst steht S. 222, Absatz 3, Zeile 3 „Richarda Huch“ (Ricarda Huch). S. 30, Absatz 1, Zeile 10: „fremdsprachliche Zitate oder Ausdrücke“] fremdsprachige Zitate oder Ausdrücke; S. 39, Absatz 2, letzte Zeile: „wenn auch der maßgeblichste [Autor]“] maßgebliche; S. 150, Absatz 1, Zeile 2: „mit […] in Kapitel gegliederte Problemstellungen“] gegliederten; S. 198, Absatz 2, letzte Zeile: „der zeitlichen Publikation“] dem Zeitpunkt der Publikation; S. 216, Absatz 4, Zeile 2 ff.: „Ohne großartiges Loben“] Lob, Anerkennung; ebd., Zeile 3: „beziehen sich Journalisten in ihren Artikel“] Artikeln; S. 221, Absatz 3, Zeile 1 ff.: „dass Thomas Mann […] in der Erstausgabe nicht auftaucht“] nicht erscheint; nicht erwähnt wird (schlechter Stil; diese Verwendung von umgangssprachlich ,auftauchen‘ häufiger innerhalb des Haupttextes); S. 225, Absatz 1, Zeile 3: „da man für eine derartige Umsetzung, das Buch“] Umsetzung das Buch (Komma entfällt); S. 230, Absatz 1, Zeile 4 ff. (Wiedergabe von Reiners-Zitat aus dem Nachrichtenmagazin Der Spiegel aus dem Jahr 1956): „Ich muß dem Amerikanern […] dankbar sein“; S. 237, Absatz 5, Punkt g, Zeile 1 f.: „Er habe unter persönlicher Gefahr Oppositionelle im Betrieb vor der Gestapo unterstützt.“] beschützt; geschützt; oder: unter den Augen der Gestapo unterstützt (o. ä.); S. 244, Absatz 2, Zeile 11 f.: „die gängige Praxis des Ausstellens von Persilscheinen“] der Ausfertigung; S. 245, Absatz 1, Zeile 3: „wurde, wird“] wurde, soll; S. 403, Absatz 1, Zeile 1: „Dopplungen“] Doppelungen; S. 407, Absatz 2, Zeile 9 f.: „Die eindeutigste Form eines Plagiats ist also in Reinersʼ Stilkunst nicht nachzuweisen“] eindeutige; besser: ausgeprägteste, gewichtigste; S. 410, Anmerkung Nr. 1188, Zeile 2 f.: „Autorenzuweisung“] Autorenzuschreibung; auktoriale Zuschreibung.

Aurélie Choné  /  Isabelle H ajek  /  Philippe H amman (Hrsg.): Guide des Huma­nités environnementales. Villeneuve d’Ascq: Presses Universitaires du Septentrion, 2016; 630 S. Die Natur ist in der Krise? Es lebe die Natur! Auch wenn sie mitunter ein philosophisches Konstrukt, gärtnerisches Artefakt, Ort existentieller Angst oder literarisches Ideal sein mag. 48 AutorInnen, verortet vor allem in der Soziologie und Germanistik, befassen sich vereint interdisziplinär im französischsprachigen Guide des Humanités environnementales in 53 Beiträgen mit Natur und Geisteswissenschaften. Hervorgegangen sind die Artikel aus fünf thematischen Studientagen über den Wald in der deutschen und asiatischen Welt, Mensch und Tier, projizierte Natur, die Erfindung der Natur und über das Wasser sowie einem Kongress zur Ländlichkeit („ruralité“); herausgegeben wurden die Beiträge von der Germanistin Aurélie Choné und den Soziologen Isabelle Hajek und Philippe Hamman, die an der Université de Strasbourg forschen und lehren. Bewusst grenzt sich der Guide des Humanités environnementales ab von eng­ lisch­sprachigen Nachschlagewerken: er sei dezidiert weder als Anthologie noch als Lexikon konzipiert. In den Artikeln will er die Vielsichtigkeit des Naturbegriffs darstellen, literatur- und sozialwissenschaftliche Sichtweisen verbinden und zwei

267

Leitfragen nachgehen: Wie kann man die Natur denken? Und wie kann man mit der Natur leben? Die Einleitung des Guide betont die Komplexität der Beziehungen zwischen Mensch und Natur. Auch das problematische Verhältnis des Morgenlands zur Natur wird umrissen: die Weisung an den Menschen in der biblischen Schöpfungs­ geschichte, sich die Erde untertan zu machen, wie auch bei René Descartes gehe es um die Erforschung und schließlich die Beherrschung der Natur. Mit Eleganz überwinden die Herausgeber die konstruierte Spaltung zwischen Human- und Naturwissenschaften, die doch nicht so unüberwindbar sein könne: „Or, l’homme faisant partie des espèces vivantes, il ne saurait y avoir séparation complète des sciences humaines et naturelles.“ (S. 11) Der Guide soll den „état des savoirs“ in den Literatur-, Geistesund Sozialwissenschaften aufzeigen, also Forschungs- und Wissenstand darlegen, die Beiträge arbeiten dabei historisch und kritisch. Der Guide kommt nicht umhin, Karl Marx und seine ökologischen Überlegungen zu zitieren (in einer verkürzten Übersetzung)1, die er im Kapital entwickelte und die auch so manche weitsichtige nichtausbeuterische Gärtner beherzigen. Hier das Original: Und jeder Fortschritt der kapitalistischen Agrikultur ist nicht nur ein Fortschritt in der Kunst, den Arbeiter, sondern zugleich in der Kunst, den Boden zu berauben, jeder Fortschritt in Steigerung seiner Fruchtbarkeit für eine gegeb[e]ne Zeitfrist zugleich ein Fortschritt in Ruin der dauernden Quellen dieser Fruchtbarkeit.2

Die Beiträge verweisen auch auf Ivan Illich, Jakob Johann von Uexküll, Hans Jonas oder Günther Anders. Ulrich Becks Idee der Risikogesellschaft wird mehrfach rezipiert und diskutiert wie im hoch interessanten Beitrag von Jean Lagane zu Natur- und Industriekatastrophen. Die belgische Politikwissenschaftlerin Nathalie Schiffino geht ebenfalls mit Beck auf das Dilemma zwischen Natur und Risiko ein, reflektiert auch die Konnotationen der grünen Farbe. Was kann das Adjektiv bedeuten, wenn man von roter oder grüner Biotechnologie spricht? Schiffinos Antwort ist klar: Dans la société contemporaine, le „vert“ ou green est devenu emblématique de ce qui respecte la nature. […] Par ce biais, subjectif, des innovations transgéniques peuvent viser à rompre avec l’imaginaire collectif plus sombre de l’industrie. Cela peut aussi contribuer, ne fût-ce qu’inconsciemment, à légitimer l’action publique. (S. 498)

Dem Spannungsfeld Natur und Stadt spüren zahlreiche Aufsätze nach. Zwar mögen satte gepflegte Rasen entlang neuer Straßenbahntrassen Städtern grün und ökologisch korrekt erscheinen, es gelte aber zu bedenken, dass diese Begrünung in den Städten auch „viel Wasser verbrauche“ (S. 202), wie der Soziologe Philippe Hamman über nachhaltigen Urbanismus schreibt. Die Beiträger zeigen, dass Stadt und Natur nicht logischerweise Gegenpole sein müssen. In den unkonventionellen Arbeiten von Pierre Sansot (1928–2005) wie seiner Poétique de la ville wird die Stadt mit seinen Bistrots und Prostituierten zur Natur. Die Soziologin Isabelle Hajek und der Geograph JeanPierre Lévy verweisen gemeinsam auf die lange Tradition der Ökologie der Stadt, die Theorie der Ökosysteme oder klimatologische Studien zu Hitzezellen in den Städten. Der Industrie erscheine naturbewusstes Denken nicht abwegig; 1989 plädiere man in der Forschung und Motorenentwicklung bei General Motors für Kreislaufwirtschaft. Die Natur dient als Modell und Metapher.

268

Dass Natur und Umwelt ästhetische Fragen aufwerfen, zeigen die Aufsätze von Philippe Filliot, Peter Schnyder, Nathalie Blanc, Emmanuelle Peraldo und Laurence Dahan-Gaida. Mit Blick auf Goethe und Flaubert, auf Garten und veredelndes Pfropfen notiert die Komparatistin aus Besançon in ihrem Beitrag zur Epistemokritik der Natur, dass die meisten wissenschaftlichen Fächer sich von den essentialistischen Vorstellungen von der Natur verabschiedet haben und zur Kenntnis nehmen, dass die Natur nur erreichbar sei über ihre historische und kulturelle Form (S. 174). Kunst kann ozeanisches Empfinden der Unendlichkeit hervorrufen. Sie ist nicht dekoratives Konsumobjekt, sondern wird bei Ben, Beuys oder Vostell zur Interaktion, wird totales Erlebnis, Environnement, Happening und Intervention im Stadtraum. Filliots Artikel untersucht Bill Violas Videokunst, Anish Kapoors Leviathan und die Mediations­ räume von Tania Mouraud, in denen die Betrachter das Nichts sinnlich entdecken können, so der Autor: Les installations dans l’art dit „contemporain“ impliquent souvent cette dimension cosmique et immémoriale […] De nombreuses œuvres contemporaines semblent en effet faire rejaillir chez le spectateur un sentiment d’immersion océanique, une sensation d’absorbement, de dépossession de soi… (S. 138).

Mannigfaltig und vergleichend wird es bei der politischen Ökologie. In drei Beiträgen wird sie in Frankreich, dem deutschsprachigen Raum und in Skandinavien methodisch unterschiedlich beleuchtet. Während Sylvain Briens sich sowohl auf Carl von Linnés botanische Arbeiten als auch Karen Blixen, Jens Peter Jacobsen und August Strindberg bezieht, arbeitet die Geographin Patricia Zander an der Ideengeschichte für grüne Politik in Frankreich. Sie verweist auf den Sozialpsychologen Serge Moscovici und seinen Essai sur l’histoire humaine de la nature (1968), in dem er feststellt, dass die Natur ein Konstrukt sei und ständig von den Menschen geformt werde. Zander zitiert die Histoire de l’écologie politique von Jean Jacob und verweist auf die Arbeit des französischen grünen Europaabgeordneten Yves Frémion, der in seiner Histoire de la révolution écologiste (2007) die ökologischen Vordenker für Frankreich darstellt. Der Artikel über die Ursprünge der politischen Ökologie im deutschsprachigen Raum beginnt mit den Memoiren von Ludger Volmer und der pointierten Frage, ob die Grünen eine linke, emanzipatorische Partei oder das Ergebnis eines nationalsozialistischen Blut-und Boden-Projektes seien. Die Germanistin Catherine Repussard illuminiert und nuanciert hier die Ambivalenzen, insbesondere bei Ernst Haeckel, dem Vater der Ökologie und Mitglied des Alldeutschen Verbandes und der Gesellschaft für Rassenhygiene. In der Tat sieht man in deutschen Landen die Natur anders: Wilhelm Heinrich Riehl (1823–1897) formuliert ein Recht auf Wildnis, man schützt Naturdenkmäler und die Heimat, Ort einer Ordnung, bedroht durch die Industrialisierung. Mit Blick auf den kommenden Nazismus sind die deutschen Natur- und Heimatschutzbewegungen im 19. und 20. Jahrhundert allerdings kritisch zu betrachten. Wenngleich die Zahl der sozialwissenschaftlichen Beiträge beachtlich ist, können Studenten und Lehrende in der Germanistik im Guide mehrere Artikel im Bereich der neuen deutschen Literatur, Ideengeschichte und Landeskunde finden. Dass ein tieftes Bewusstsein für Natur und Umwelt im deutschsprachigen Raum zu finden ist, zeigen zwei Beiträge über Naturheilkunde und das Ruhrgebiet im Kaiserreich. Marc Cluet zeichnet die Geschichte alternativer Naturheilanstalten nach, beschreibt

269

dabei auch, wie die so genannte Schulmedizin trotz wichtiger Erkenntnisse durch Robert Koch und Louis Pasteur negativ angesehen wird und so naturverbundener Medizin Vorschub leistet. Rohkost, Sonnenbäder, Kuren an der frischen Waldluft, Kneippsche Wasserbäder sind für das Bildungsbürgertum befreiende Alternativen zum Korsett einer biederen Gesellschaft. Cluet, der zu Kafka und in moderne Wellnesswelten führt, betont die Gründe für den unterschiedlichen Erfolg der Natur- und Wasserheilanstalten in Deutschland und Frankreich und verweist auf die Histoire du naturisme (2004) von Arnaud Baubérot: En France, les élites cultivées réagissaient moins à leur impuissance politique, pourtant quasi constante, en termes institutionnels, sur toute la période 1815–1875.Elles gardaient foi dans le progrès de la science et la diffusion du savoir, et étaient donc moins enclines à des représentations mythifiées de la „nature.“ (S. 483).

Anhand des Ruhrgebiets untersucht Marc Gladieux, wie im industriellen Deutschland vor 1919 bestimmte Diskurse und Bildwelten der Natur vermittelt werden. Recht anschaulich und synthetisch präsentiert er das Wirken des katholischen Westfälischen Bauernvereins und des Sauerländischen Gebirgsvereins. Landwirte wie Wochenendausflügler definieren sich über ihr Verhältnis zur Natur. Im Gegensatz zur wachsenden urbanen Sozialdemokratie, die für eine klassenlose Gesellschaft stehe, gebe sich der Bauernverein konservativ, so Gladieux: La paysannerie, qui se réclame de la triade nature-histoire-christianisme, se conçoit comme le dernier rempart susceptible de préserver l’ordre impérial contre la progression de la civilisation industrielle moderne. (S. 473)

Beim Sauerländischen Gebirgsverein sorge gewiss das Wandern in der Natur für moralische Regeneration, doch sei die gesellige Dimension des Walderlebnisses nicht zu unterschätzen. Der einsame Spaziergänger wird zum Massenausflügler mit germanisch-westfälischer Gruppenidentität: wochentags wird der Industrie Tribut gezollt und am Wochenende verwandelt man sich in einen „Naturschützer“ (S. 476). Dass Deutschland in Sachen der Ökologie oft vorreitend und inspirierend ist, erkennt man nicht nur in Ökostadtteilen wie dem Freiburger Vauban-Viertel, sondern auch in Philosophie und Literatur. Goethe, die Naturphilosophen, Vitalisten, Anthroposophen und Romantiker werden von den Autoren des Guide eingehend behandelt. Über die Feuersymbolik schreibt Annie Zdenek und analysiert Goethes Faust mit Blick auf Naturphilosophie und Paracelsus. In ihrem Beitrag zeigt Aurélie Choné entscheidende Überschneidungen zwischen Ökologie und Spiritualität und verweist auf Spinoza, Thoreau oder Perkins. Auch Gandhi, Carl Jung, Rudolf Steiner und der französische Jesuit Pierre Teilhard de Chardin verbinden beide Sphären. Steiners anthroposophische Betrachtungen der Brennnessel als kriegerisches Kraut, das unsere Haut rötet, können von biodynamischen Gärtnern des Internetzeitalters mit dem Bild des robusten Netzwerks zustimmend vervollständigt werden. Wie unterschiedlich Naturbilder und vor allem die Berge in der deutschen Literatur gestaltet werden können, wie sehr die Diskurse in ihren Zielen variieren, vermitteln zwei weitere lesenswerte Beiträge des Guide. Régine Battiston untersucht, wie im Roman Die Wand (1963), einer weiblichen Robinsonade der österreichischen Autorin

270

Marlen Haushofer, die verinnerlichte Landschaft zu einem Gefängnis werden kann. Die Straßburger Germanistin Barbara Lafond-Kettlitz gibt in ihrem Aufsatz einen hervorragenden Überblick über die Ästhetik der schweizerischen und österreichischen Alpen in den literarischen Diskursen vom 18. bis ins 20. Jahrhundert. Aus dem locus horribilis wird bald ein sublimer, grandioser Ort, bald Zuflucht für Melancholiker, bald einheitsstiftendes Symbol, bald Kulisse für Bergromane und Bergfilme. Überragend auf das internationale Alpenbild sei der Roman Heidi (1880) von Johanna Spyri, notiert die Literaturwissenschaftlerin: C’est le roman […] dont la médiatisation en cinquante langues a le plus marqué l’image des Alpes dans le monde entier; ceci malgré les clichés d’un univers alpin sain et idyllique, malgré l’amour kitsch des montagnes, malgré l’hostilité rousseauiste à la civilisation. (S. 377)

Der Beitrag zeigt auch, wie die Alpen für nationalistische und antisemitische Propaganda in Österreich instrumentalisiert wurden: der Jude passe, so eine Flugschrift des Alpenvereins Sektion „Austria“ von 1932, nicht in den Rahmen des majestätischen Bergpanoramas. Andreas Häcker, Strasbourg „Tout progrès dans l’accroissement de la fertilité (du sol) pour un laps de temps donné est en même temps un progrès de la ruine des sources durables de cette fertilité.“ 2 Karl Marx – Friedrich Engels, Werke, Band 23, Das Kapital, Band I, Vierter Abschnitt, S. 483–530, Dietz Verlag, Berlin / DDR, 1968, Seite 529. . 1

271

Copyright © 2024 DOKUMEN.SITE Inc.