Kritik, Verhör und Verdacht.

June 13, 2018 | Author: Michael Makropoulos | Category: Documents


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Michael Makropoulos

KRITIK, VERHÖR UND VERDACHT Eine theoretische Skizze1 Wenn es eine Passage gibt, in der Foucault unterhalb aller Deklarationen, also von der systematischen Tiefenstruktur seines Diskurses her, beweist, daß er ein Aufklärer ist, dann ist es diese: „Wir müssen uns nicht einbilden, daß uns die Welt ein lesbares Gesicht zuwendet, welches wir nur zu entziffern haben. Die Welt ist kein Komplize unserer Erkenntnis. Es gibt keine prädiskursive Vorsehung, die uns die Welt geneigt macht. Man muß den Diskurs als eine Gewalt begreifen, die wir den Dingen antun; jedenfalls als eine Praxis, die wir ihnen aufzwingen. In dieser Praxis finden die Ereignisse des Diskurses das Prinzip ihrer Regelhaftigkeit.“2 Foucault beweist hier allerdings nicht nur, daß er ein Aufklärer ist, er zeigt auch, daß er ein später, nämlich ein kritischer Aufklärer ist. Denn die Welt, die kein Komplize unserer Erkenntnis ist, hat hier nicht nur etwas Verborgenes, sondern etwas prinzipiell Unzugängliches, etwas ganz und gar Fremdes und Erkenntniswidriges, sodaß jedes Wissen von ihr nur ein arbiträres und performatives, also ein autopoietisches Wissen sein kann, ein radikal konstruktivistisches Wissen, das sich trotz der Dinge, auf die es sich bezieht, nicht um diese Dinge dreht, sondern in sich selbst kreist. Es ist ein Wissen, das auf sich selbst bezogen ist, auf die Selbstkonstitution einer rationalen und sozialen Welt; es ist ein Wissen, das der übrigen Welt auferlegt wird und sie zugleich überhaupt erst in diesem Gewaltakt als etwas bestimmt, dem etwas auferlegt und schließlich Gewalt angetan wird. Man mag sich an der scheinbaren Widersprüchlichkeit des Gedankens stoßen – aber vielleicht ist diese Passage am Ende gar nicht so widersprüchlich oder aporetisch, wie sie prima vista erscheint: In dieser Passage sind in knappen Worten die zwei logischen Möglichkeiten des aufgeklärten Weltverhältnisses kurzgeschlossen, die die Differenz zwischen der frühen, weithin klassischen, und der späten, fast bodenlos reflexiven Aufklärung bilden, nämlich die Konzeption der Welt als einen zwar widerständigen, aber doch prinzipiell intelligiblen Gegenstand der Erkenntnis, und die Konzeption der Welt als etwas ganz und gar Erkenntniswidriges, das im übrigen 1

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Unveröffentlichtes Arbeitspapier zum 5. Workshop der Forschungsgruppe „Theorie der Massenkultur“ zum Thema „Kultivierungen des Verdachts“, Berlin, April 2008. Michel Foucault: Die Ordnung des Diskurses. München 1974 (1970), S. 36f.

2 als solches überhaupt erst dann sichtbar wird, wenn man den Versuch, es zu erkennen, bereits unternommen hat. Das Kriterium dieser Differenz ist zunächst tatsächlich ein moralisches, nämlich die negative Bewertung der Heteronomie und insbesondere der Heteronomie durch rationalistische Erkenntnis. Der Inbegriff für das Weltverhältnis der klassischen Aufklärung ist schließlich die wissenschaftliche Naturbeherrschung im buchstäblichen Sinn des Wortes, die Manifestation rational begründeter Souveränität des Menschen der Natur gegenüber – auch wenn er dennoch stets ein Teil von ihr bleibt. Die erkenntnistechnische Voraussetzung dieser Disposition hat Kant in unüberbietbarer Weise beschrieben. Die Naturforscher, erklärte Kant, „begriffen, daß die Vernunft nur das einsieht, was sie selbst nach ihrem Entwurfe hervorbringt, daß sie mit Prinzipien ihrer Urteile nach beständigen Gesetzen vorangehen und die Natur nötigen müsse, auf ihre Fragen zu antworten, nicht aber sich von ihr allein gleichsam am Leitbande gängeln lassen müsse; denn sonst hängen zufällige, nach keinem vorher entworfenen Plane gemachte Beobachtungen gar nicht in einem notwendigen Gesetze zusammen, welches doch die Vernunft sucht und bedarf. Die Vernunft muß mit ihren Prinzipien, nach denen allein übereinkommende Erscheinungen für Gesetze gelten können, in der einen Hand, und mit dem Experiment, das sie nach jenen ausdachte, in der anderen, an die Natur gehen, zwar um von ihr belehrt zu werden, aber nicht in der Qualität eines Schülers, der sich alles vorsagen läßt, was der Lehrer will, sondern eines bestallten Richters, der die Zeugen nötigt, auf die Fragen zu antworten, die er ihnen vorlegt“.3 An der Legitimität dieses Verfahrens gibt es schon semantisch keinen Zweifel: Natürlich ist Nötigung eine Form des Zwangs, aber dieser Zwang ist keineswegs schon Gewalt – und umgekehrt könnte man argumentieren, daß Foucault gerade dadurch, daß er hier von Gewalt spricht, die Souveränität der aufgeklärten Vernunft möglicherweise nachhaltiger delegitimiert als jede noch so ausgefeilte Erkenntniskritik es je vermochte. Aber die aufgeklärte Vernunft unterwirft die Natur nicht, sondern befragt sie nur aufs Eindringlichste.4 Sie unter3 4

Immanuel Kant: Kritik der reinen Vernunft. Frankfurt/Main 1977, B XIIIf. Das hat übrigens Goethe mit Blick auf die Newtonsche Zerlegung des Lichts sehr anders gesehen: „Es ist dieses das sogenannte experimentum crucis, wobei der Forscher die Natur auf die Folter spannte, um sie zu dem Bekenntnis dessen zu nötigen, was er schon vorher bei sich festgesetzt hatte“. Zit. n. Albrecht Schöne: Goethes Farbentheologie. München 1987, S. 65.

3 zieht sie einem beständigen Verhör, und Kants doppelte Instrumentierung dieses Verhörs mit den experimentell verifizierten Urteilsprinzipien begründet die Superiorität der Vernunft und legitimiert ihren Richterstatus. Auf der anderen Seite ist die Natur zwar eine störrische, eine sich verbergende, aber dennoch keine erkenntniswidrige, sondern eine prinzipiell intelligible Wirklichkeit. Vielleicht ist sie wirklich einfach nur wie ein störrisches Kind, das angeleitet und auf den rechten Weg gebracht werden muß. Oder sie ist ein Reservoir, aus dem mit wissenschaftlich-technischen Mitteln verfügbares Material einer rationalen humanen Welt gewonnen werden kann. Vielleicht ist sie aber auch eine Ressource, deren Möglichkeiten erst erschlossen und festgestellt werden müssen. Bezeichnenderweise ist es nämlich kein Delinquent, der in Kants Beschreibung von der Vernunft ins Verhör genommen wird, sondern ein Zeuge. Genau das ist für den späten, den vernunftkritischen Aufklärer nicht mehr akzeptabel. Man mag darin die politische Konsequenz aus der langen, ausgesprochen problematischen und nicht selten dramatisch gewalttätigen Geschichte dieses Naturverhältnisses sehen und daraus die vehemente Ablehnung jeder Form von Heteronomie ableiten und begründen. Man kann darin auch die erkenntnistheoretische Konsequenz aus der modalen Ontologie der modernen Physik identifizieren, für die es kein beobachtungsunabhängiges Objekt der Erkenntnis mehr gibt. Man kann in dieser Delegitimierung des Signifikanten – in einer weiteren Radikalisierungsstufe – nicht zuletzt auch die Manifestation eines absoluten ‚linguistic turn‘ sehen, für den jedes objektive Ereignis ein diskursives Ereignis und darin die schrankenlose Hypostasierung der einen, auf Naturbeherrschung ausgerichteten Vernunft ist. Aber man wird in allen drei Fällen dennoch annehmen müssen, daß es sich hier nicht nur um eine Differenz der Wirklichkeitsauffassung zwischen früher und später Aufklärung handelt, sondern auch um eine Differenz, in der das Verfahren der rationalen Erkenntnisgewinnung als solches nicht nur moralisch, sondern logisch in Frage steht, weil es sich der Wirklichkeit nur um den Preis ihrer Veränderung bemächtigen kann. Und das heißt schlicht, überhaupt nicht bemächtigen kann. Darin besteht das zweite Kriterium für die Differenz zwischen früher und später Aufklärung, nämlich die unabweisbare Selbstreferenz der Erkenntnis angesichts der irreduziblen Komplexität der Welt. Die These, die auf diesem Hintergrund mit Blick auf das Thema des Workshops zur Diskussion gestellt werden soll, besagt, daß diese Differenz der Aufklärungen sich dadurch im Instrument der

4 Erkenntnis, nämlich dem Verhör in seiner metaphorischen wie in seiner verfahrenslogischen Form niederschlägt, daß dessen leitendes Kriterium sich verändert. Dieses leitende Kriterium ist der Verdacht als gezielte Hypothese in kritischer Absicht. Der Verdacht, so ließe sich argumentieren, hat eine eigene Historizität, seine Systematik hat einen besonderen historischen Index. Denn der Verdacht wird in dem Maße entgrenzt und unspezifisch, in dem die Wirklichkeit nicht zuletzt durch die Freisetzung der Erkenntnis aus ihren moralischen Bindungen an Komplexität gewinnt und die durchaus moralisch begründete panoptische Autorität einer souveränen juridischen Vernunft strukturell verunmöglicht. Man könnte – heuristischerweise – sagen, daß die spezifische Disposition des Verdachts als Charakteristikum aufklärerischer Vernunft im Laufe dieser Entwicklung einerseits zu einer Verfahrenstechnik im Bereich der Strafjustiz reduziert und andererseits zu einem intellektuellen Habitus verallgemeinert wird. Wir hätten es mit einem Auseinandertreten von prozeduralem und habituellem Verdacht zu tun. Der juristische terminus technicus für die gezielte und verfahrenstechnisch begrenzte Form des Verdachts ist „normiertes Mißtrauen“.5 Das ist nicht unbedingt ein begrenztes und gezieltes, aber doch ein reguliertes Mißtrauen. Dem gegenüber stünde der Habitus des Verdachts als dessen deregulierte Entgrenzung. Und ‚Kultivierungen des Verdachts‘ wären dann, etwas hochtrabend ausgedrückt, ‚Institutionalisierungen des Mißtrauens‘ – allerdings nicht Institutionalisierungen eines normierten, auf bestimmte oder zumindest bestimmbare Sachverhalte konzentrierten, sondern Institutionalisierungen eines generalisierten, an alles, also an die gesamte Totalität der Wirklichkeit herangetragenen Mißtrauens. Hermeneutisch wäre dies ein Verhältnis zur Wirklichkeit, das von einem fundamental unterminierten Weltvertrauen zeugt. Dieses generiert – methodisch gewendet – eine diskursive Realitätskonstruktion, die sich ihrer konstituierenden Fiktionalität bewußt ist, weil sie weiß, daß sie auf ein Ganzes zielt, das sie immer nur als solches unterstellen und behaupten, aber niemals erfassen

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So der Titel einer einschlägigen rechtsphilosophischen Arbeit. Vgl. Lorenz Schulz: Normiertes Mißtrauen. Der Verdacht im Strafverfahren. Frankfurt/Main 1997. Für die Wissenschaft greift hier Mertons essentielle Bestimmung des „organisierten Skeptizismus“ als „ein methodologisches als auch ein institutionelles Gebot“. Robert K. Merton: „Die normative Struktur der Wissenschaft“, in: ders., Entwicklung und Wandel von Forschungsinteressen. Aufsätze zur Wissenschaftssoziologie, Frankfurt/Main 1985 (1942), S. 86-98, hier S. 98.

5 und bestimmen kann, solange sie sich als immanente Konstruktion diesseits eines gottgleichen Panoptismus situieren muß.6 Das hätte Konsequenzen gerade für das intellektuelle Derivat des Verdachts, nämlich jene Kritik, die sich nicht als investigatorische Vernunft manifestiert, die den Verdacht gezielt als Erkenntnisinstrument einsetzt, mit dessen Hilfe Tatsachen und Hypothesen innerhalb eines gegebenen Deutungsrahmens heuristisch miteinander verschränkt werden, sondern eine Kritik ist, die diesen Deutungsrahmen, innerhalb dessen Investigation verbleiben muß, wenn sie erfolgreich sein will, selbst zur Disposition stellt.7 Kritik als kritische Haltung des ‚nicht so‘ und ‚nicht dermaßen‘, wie Foucault Begriff und Sache der Kritik erläutert hat, fände dann möglicherweise genau in der Unterscheidung von normiertem und generalisierten Mißtrauen ihre spezifische Differenz zur Kritik als Frage nach der ‚Bedingung für die Möglichkeit von‘ etwas, wie Kant sie verstehen wollte und wie sie innerhalb der selbstgesetzten Grenzen ‚des‘ Diskurses ihre systematische Positivität hat. Die Institutionalisierung des generalisierten Mißtrauens korrespondierte dann demgegenüber als relativ dauerhafte subjektive Disposition, also als Habitus, mit der Struktur einer Wirklichkeit, die nicht nur eine widerständige Realität um Sinne Blumenbergs wäre, sondern eine, die sich letztlich jedem gezielten – also instrumentell begrenzten und verfahrenstechnisch geregelten – Zugriff der Erkenntnis entzöge.8 Seine soziale Trägergruppe wäre eine kritische und zumindest ihrem Selbstverständnis nach Wirklichkeit nicht affirmierende und regulierende, sondern problematisierende und immer wieder aufs Neue konstruierende und dekonstruierende Intelligenz mit ihren diversen gesellschaftlichen Ressourcen, ‚Infrastrukturen‘ und Legitimationspotentialen, die die bürgerliche Gesellschaft als prinzipiell selbstungewisse 6

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Mir scheint, daß es sich in Ricœurs Passagen zum Verdacht als Prinzip der Interpretation um diese Disposition handelt, wobei tatsächlich Freud der Hauptkandidat für diese Disposition sein dürfte, sofern Marx es auf die Entlarvung der ideologischen und Nietzsche es auf die Dekonstruktion der moralischen Welt abgesehen hatte. Freud dagegen zielte auf einen ganzen Planeten: Das Unbewußte. Vgl. Paul Ricœur: De l’interprétation. Essai sur Freud. Paris 1965, S. 42ff. Es ist – zum Beispiel – nicht sinnvoll, wenn eine Strafverfolgungsbehörde bei jeder Ermittlung aufs Neue Klären muß, ob eine Tat ein Verbrechen ist oder nicht und was überhaupt die Kriterien für die Kriminalisierung von Abweichungen sein können. Vgl. Hans Blumenberg: „Wirklichkeitsbegriff und Möglichkeit des Romans“, in: Hans Robert Jauß (Hg.), Nachahmung und Illusion (Poetik und Hermeneutik 1), München 1964, S. 9-27, hier S. 13f bzw. .

6 und modalontologisch fundierte bereitgestellt und benötigt hat – von den Residuen der verbliebenen Geistes- und sozialwissenschaftlichen Fakultäten als wissenschaftliche Dauerkontrolle einer offenen Gesellschaft im Sinne Plessners bis zu den dramatisierten Öffentlichkeiten einer ubiquitären Kultur- und Bewußtseinsindustrie.9 Diese ‚Infrastrukturen‘ des habitualisierten und generalisierten Mißtrauens, diese sozialen Sphären der ‚Kultivierung des Verdachts‘, bilden die Kampffelder jener „öffentlichen Auslegung des Seins“, die Mannheim zufolge ein Zeitalter kennzeichnen, dessen „Denkbasis“ nicht „in einem auf Monopolsituation basierten Denken vorgegeben“ und „in geheiligten Büchern niedergelegt“ sei.10 Vielleicht ist sind es gerade diese Kämpfe, in denen die kritische Intelligenz einen sozialen Ort zu finden glaubt, die darüber hinwegtäuschen, daß diese Intelligenz niemals die Position des politischen, sozialtechnischen oder hermeneutischen Funktionärs einnehmen kann und immer ein wenig von einem penseur maudit haben wird, weil sie immer ‚aufs Ganze‘ geht. So gesehen war es deshalb nur konsequent, daß Foucault das Angebot, ein eigenes Institut für Gouvernementalitätsstudien einzurichten, das François Mittérand ihm 1981 nach seinem ersten Wahlsieg unterbreitete, dankend abgelehnt hat.

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In Erweiterung seiner Bestimmung der Soziologie: „Eine zur Institution erhobene Dauerkontrolle der sozialen Verhältnisse in Wissenschaftsform – und darauf läuft Soziologie als Fach hinaus – rechtfertigt sich (...) nur gegenüber einer dauernd widerspenstigen, unstimmigen Wirklichkeit; genauer gesagt, einer Wirklichkeit, die dadurch in Unordnung geraten ist, daß sie den Normierungsversuchen ihrer Juristen und Politiker immer wieder sich entzieht, weil Richtung und Geschwindigkeit ihrer Umbildung von ihnen nicht mehr eingefangen werden können.“ Helmuth Plessner: „Der Weg der Soziologie in Deutschland“, in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. X, Frankfurt/Main 1985 (1960), S. 191-211, hier S. 208f. Karl Mannheim: „Die Bedeutung der Konkurrenz im Gebiete des Geistigen“, in: Der Streit um die Wissenssoziologie, Erster Band, hg. v. Volker Meja und Nico Stehr, Frankfurt/Main 1982 (1929), S. 325-370, hier S. 334 bzw. 339. Dieses Denken, so Mannheim, habe einen „teleologischen“ und vor allem „interpretativen Charakter“, was sich durchaus mit Ricœurs Sinn „restaurierender“ Hermeneutik identifizieren ließe, die dieser der „Schule des Verdachts“ entgegengestellt hat. Ricœur, De l’interprétation, S. 42.

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