Jacques Derrida. Gott im-Kommen, in: Für eine schwache Vernunft? Beiträge zu einer Theologie nach der Postmoderne (hg.v. Peter Hardt / Klaus von Stosch, Ostfildern: Grünewald, 2007), 66-83.

June 13, 2018 | Author: Peter Zeillinger | Category: Documents


Comments



Description

Peter Hardt/Klaus von Stosch (Hg.)

Für eine schwache Vernunft? Beiträge zu einer Theologie nach der Postmoderne

®

MATTHIAS-GRÜNEWALD-VERLAG

Diese Publikation wurde gedruckt mit Unterstützung der Laubach-Stiftung, Mainz.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

e

verlags

gruppe engagement

Der Matthias-Grünewald-Verlag ist Mitglied der Verlagsgruppe engagement

Alle Rechte vorbehalten © 2007 Matthias-Grünewald-Verlag der Schwabenverlag AG, Ostfildern www.gruenewaldverlag.de Umschlaggestaltung: Finken & Bumiller, Stuttgart Umschlagabbildung: PhotoCase.com Gesamtherstellung: Matthias-Grünewald-Verlag, Ostfildern ISBN 978-3-7867-2683-8

INHALT

Einführung

7

A. STANDORTBESTIMMUNG DER THEOLOGIE NACH DER POSTMODERNE Nach der Postmoderne – Wo steht die Theologie?

13

Josef Wohlmuth, Bonn

Theologie im Raum der Differenzen Überlegungen im Anschluss an Josef Wohlmuth

30

Gregor Maria Hoff, Salzburg

B. JEAN-FRANÇOIS LYOTARD Zeugnis für das Undarstellbare – oder für den Gott Jesu Christi? Eine theologische Antwort auf J.-F. Lyotard

36

Saskia Wendel, Wien/Köln

Zeugnis für das Undarstellbare als Zeugnis für den Gott Jesu Christi? Für eine Theologie jenseits vorschneller Oppositionen 57 Klaus von Stosch, Münster/Köln

C. JACQUES DERRIDA Jacques Derrida: Gott im-Kommen

66

Peter Zeillinger, Wien

Dekonstruktion des Islam? Vorüberlegungen zu einer ausstehenden Unternehmung

84

Joachim Valentin, Frankfurt

D. MICHEL FOUCAULT Heterotopien – Orte der Macht und Orte für Theologie Michel Foucault Hans-Joachim Sander, Salzburg

91

Foucault theologisch überschreiten Replik auf Hans-Joachim Sander

116

Peter Hardt, Köln

E. MICHEL DE CERTEAU De Certeau und die Untersuchung des Glaubens

123

Graham Ward, Manchester

Zeugen für das Heilige Schwacher Glaube in postsäkularer Zeit

135

Christian Bauer, Nürnberg

Autorenverzeichnis

141

Jacques Derrida: Gott im-Kommen Peter Zeillinger, Wien

Terminologische Vorbemerkung Wenn es hier meine Aufgabe sein soll, ausgehend vom Denken Jacques Derridas die »Chancen und Grenzen« der Rezeption dieses Werkes für die Theologie auszuloten, so scheint es – trotz einiger Vorarbeiten – heute immer noch notwendig zu sein, zunächst einige Barrieren zu überwinden, die sich mit der Zeit gerade im deutschsprachigen Raum aufrichten ließen und eine angemessene Rezeption durch zumeist feuilletonistisch geprägte Vorurteile erschweren. Insbesondere der theologisch-affirmative Zugang zu diesem Werk, dessen politische und praktische Bedeutung gerade in den letzten Jahren immer deutlicher erkannt wird, bleibt durch den weitgehenden Ausfall einer angemessenen Textlektüre oft verborgen. Glücklicherweise sind die genannten Barrieren vor allem terminologischer Natur und lassen sich im Rahmen einer ernsthaften systematischen Reflexion durch den Hinweis auf Originaltexte als ärgerliche Missverständnisse entlarven. Da die verbreitete Unkenntnis der Texte zudem nicht bloß das Werk Derridas, sondern oft alle mit dem Etikett »Postmoderne« gebrandmarkten Autoren trifft, sei dem folgenden ein kurzer, jedoch exemplarischer Hinweis auf die Eigenbestimmung dieses Begriffs gerade im Blick auf die in diesem Beitrag angezielte Zeit-Thematik im Kontext der biblischen Tradition vorangestellt. 1. Eine erste Bemerkung betrifft den Titel der Tagung: »Theologie nach der Postmoderne« – und zwar vor allem die Bedeutung der Präposition »nach«, mit der die Veranstalter offensichtlich auf ein gewisses Ende des Hype um die sog. »Postmoderne« anspielen und danach fragen, was im Rückblick von diesem Hype nun aus der Sicht der Theologie für die Theologie bleibt. Diese Frage erscheint sowohl sinnvoll als auch zum richtigen Zeitpunkt gestellt und hat ihren Hintergrund in der gesellschaftlichen wie wissenschaftsgeschichtlichen Wahrnehmung des Phänomens »Postmoderne« als einer Art Epochenbegriff oder zumindest einer Zeitströmung, die verschiedenste Bereiche des gesellschaftlichen Lebens wie auch des akademischen Diskurses je nach Einschätzung entweder »heimgesucht« oder »befruchtet« hat. 66

Allerdings gelänge es nicht, unter diesem Titel, d.h. vor dem Hintergrund eines Epochenbegriffs, ernsthaft vom Werk Jacques Derridas oder eines der anderen Autoren zu sprechen, die in diesem Band auf ihre theologische Relevanz hin befragt werden sollen – inklusive einiger anderer Namen, die man eventuell in diese Liste aufnehmen könnte: Emmanuel Levinas etwa, Alain Badiou, Jean-Luc Nancy, Maurice Blanchot, Jacques Lacan, etliche politische Philosophen wie z.B. Jacques Rancière, Etienne Balibar, Roberto Esposito oder auch Claude Lefort, Marcel Gauchet, etc.95 – Für keinen von ihnen würde es Sinn machen, den schillernden Begriff »Postmoderne« im Sinne einer Ablösung, einer Alternative, einer Überwindung oder eines Wechsels zwischen einem Vorhergehenden und einem Nachkommenden zu verstehen. Insofern steht also das »nach« in der Formulierung »nach der Postmoderne« in der Gefahr, gewissermaßen ins Leere zu laufen, vielleicht sogar jene Thematik zu verfehlen, deren Chancen und Grenzen für eine theologische Rezeption hier ausgelotet werden sollen. – Zugleich jedoch eint die genannten Autoren ein ganz anderer temporaler Gestus, der, wie zu zeigen sein wird, exemplarisch im Werk von Jacques Derrida entfaltet wird und sich auch als unhintergehbar für jede Form eines theologischen Diskurses im Sinne der biblischen, insbesondere einer ihre jüdischen Wurzeln nicht verdrängenden christlichen Tradition mit ihrer Botschaft von einer »befristeten Zeit« (J.B. Metz) erweist. Dieser auch innerhalb einer reflexiv gewordenen Moderne notwendige temporale Gestus deckt sich – und damit schließt sich der Kreis dieser Vorbemerkung – durchaus mit der philosophischen Bestimmung des Begriffs »Postmoderne«, wie sie etwa von Jean-François Lyotard 1982 in seinem programmatischen Text »Beantwortung der Frage: Was ist postmodern?«96 vorgelegt wurde und dessen erstaunliches Missverstehen gerade im deutschsprachigen Raum vermutlich den Grund für das Auseinanderklaffen eines gesellschaftlich relevant gewordenen feuilletonistischen Verständnisses von Postmoderne und jener Einsicht darstellt, die die genannten Autoren französischer Gegenwartsphilosophie zueinander strukturell in Beziehung setzt – und so auch die Frankfurter Tagung sinnvollerweise unter dem Stichwort Postmoderne ste95

96

Auf die Relevanz insbesondere des politischen Denkens zeitgenössischer französischer Autoren hat bereits vor zehn Jahren Johann Baptist Metz hingewiesen: J.B. METZ, Religion und Politik an den Grenzen der Moderne. Versuch einer Neubestimmung. In: DERS., Zum Begriff der neuen Politischen Theologie. 1967–1997, Mainz 1997, 174–191; vgl. dazu auch den Überblicksartikel von W. VAN REIJEN, Das Politische – eine Leerstelle. Zur politischen Philosophie in Frankreich. In: Transit (1995) H.5, 109–122, sowie jüngere politische Sammelwerke wie: O. FLÜGEL/R. HEIL/A. HETZEL (Hg.), Die Rückkehr des Politischen. Demokratietheorien heute, Darmstadt 2004. J.-F. LYOTARD, Beantwortung der Frage: Was ist postmodern? (1982). In: DERS., Postmoderne für Kinder. Briefe aus den Jahres 1982–1985, Wien 1987, 11–31.

67

hen ließ. Einer Postmoderne allerdings, die vielleicht eine andere temporale Bestimmung ins Zentrum der Überlegung rückt als die eines Epochenwechsels und seines möglichen Endes. Worin aber besteht nun diese Temporalität, der bei zahlreichen Autoren auf je spezifische Weise nach-zu-denken und zu »entsprechen« versucht wird? – Lyotard wird diesbezüglich im genannten Text aus der Postmoderne für Kinder recht deutlich: Was ist dann also das Postmoderne? […] Sicher hat es an der Moderne teil. […] | Das Postmoderne wäre dasjenige, das im Modernen in der Darstellung selbst auf ein Nicht-Darstellbares anspielt; […] Ein postmoderner Künstler oder Schriftsteller ist in derselben Situation wie ein Philosoph: […] | sie arbeiten, um die Regel dessen zu erstellen, was gemacht worden sein wird. […] Postmodern wäre also das Paradox der Vorzukunft (post-modo) zu denken.97 [Kursivierung i.O.; Unterstreichung PZ]

Es scheint, dass sich die Postmoderne-Debatte im Bereich von Philosophie und Kunst zumeist an dem auch in diesem Zitat genannten Begriff des Nicht-Darstellbaren »aufgehängt« und dabei zumeist übersehen hat, dass der Diskurs des Nicht-Darstellbaren vielleicht nicht bloß zufällig an den temporalen Ausdruck der Vorzukunft, des futur antérieur, gebunden ist.98 Um dem Nicht- oder Niemals-Darstellbaren angemessen entsprechen zu können, bedarf es der Berücksichtigung eines nicht vom eigenen Wissensdurst, sondern vom Auszusagenden selbst bestimmten Modus, der sich von dem der einfachen Aussage im Sinne des logos apophantikos unterscheidet: Es gilt, jene Regeln zu (er-)finden, die das hier und jetzt ins-Werk-zu-Setzende als ein der Zukunft angemessenes, von der Zukunft her bestimmtes Handeln ausgewiesen haben wird (ohne bereits im »hier und jetzt« einen solchen Maßstab 97 98

68

Ebd., 26, 29f. Es ist zu bedauern, dass auch Saskia Wendel, die mit dem Denken J.-F. Lyotards im Kontext theologischer Überlegungen vertraut ist, gerade diesen temporalen Modus des Lyotard’schen Werkes und der sog. »Postmoderne« in ihren bisherigen Arbeiten nicht zu würdigen vermochte und sich für eine Fundierung systematisch-theologischen Denkens vielmehr dem »immer schon« eines erstphilosophischen Denkens auslieferte, das – fernab von allen Subtilitäten der Argumentation – den temporalen Kern der biblischen Zeitbotschaft, der nicht nur das Bekenntnis des Alten Israel prägt, sondern gerade auch die Erwartung und Hoffnung, die sich in den neutestamentlichen Texten und in der Frühen Kirche ausgedrückt findet, von Anfang an verfehlt. – Vgl. auch zu einer vor diesem Hintergrund symptomatischen Fehllektüre von 1Petr 3,15 durch Hansjürgen Verweyen und ihrer erst verspätet korrigierten Rezeption in der deutschsprachigen Fundamentaltheologie: P. ZEILLINGER, Fundamentaltheologie und Gottfähigkeit. An der Schwelle von Philosophie und Theologie. In: K. APPEL/W. TREITLER/P. ZEILLINGER (Hg.), Vernunftfähiger – vernunftbedürftiger Glaube. FS Johann Reikerstorfer zum 60. Geburtstag, Frankfurt/M.-New York-Wien 2005, 33–63.

besitzen zu können; das eingegangene Wagnis oder Bekenntnis, die »Regel«, wird sich vielmehr stets neu an und in der Zukunft bewähren müssen). Oder – mit anderen Worten: Der Maßstab postmodernen Handelns ist die Zukunft selbst, wobei »Zu-kunft« hier im Sinne des »Ad-vent«, des in keiner Weise vorgreifend Einholbaren, d.h. des erst Zu-Kommenden zu verstehen wäre, also im Sinne dessen, das, da es »im-Kommen« ist, niemals im Präsens (im Sinne einer Aussage, eines formalen Wissens oder einer unhintergehbaren Gewissheit) letztgültig benennbar ist. Insofern sich also der Modus des futur antérieur auf die eine oder andere Weise bei allen genannten Autoren findet (explizit reflektiert zumindest bei Lyotard, Derrida, Levinas, Badiou und Lacan), ist es wohl für die folgenden Überlegungen unverzichtbar, von Anfang an auf einige der beliebtesten Missverständnisse, die man mit dem Begriff »Postmoderne« verbindet, zu verzichten und vielmehr einen ersten Hinweis auf jenen Horizont wahrzunehmen, vor dem sich der Titel dieses Beitrags – »Gott im-Kommen« – in seiner Temporalität bereits im größeren Rahmen der Frankfurter Tagung implizit ankündigt hatte. Auch bei Derrida wird es demnach keinesfalls um einen Epochenwechsel gehen und daher auch nicht um dessen Ende, sondern um ein nicht zuletzt auch von den Rändern der Moderne her notwendig gewordenes Ringen um Zukunft, um das, was im-Kommen ist – ein Ringen, das wohl per definitionem einen sowohl ethischen wie auch politischen Charakter haben wird. 2. Eine zweite, weitaus kürzere Vorbemerkung betrifft eine alternative Lesart des Tagungsthemas, insofern das »nach der Postmoderne« auch im Sinne eines »gemäß der Postmoderne« gelesen werden könnte. Doch auch davon wird im Kontext von Derridas Werk nicht gesprochen werden können (als ob es auch eine Alternative gäbe, als ob »Postmoderne« wiederum bloß eine philosophische Denkrichtung unter anderen wäre). Wenn die Bestimmung von Postmoderne als unhintergehbares Sprechen im Modus der Vorzukunft (und damit zugleich auch im Sinne der biblischen Zeitbotschaft) Sinn macht, so wird sich dies nicht als eine alternative Möglichkeit des Denkens unter anderen darstellen lassen, vielmehr wird das damit Gemeinte in einer noch zu bestimmenden Hinsicht unhintergehbar »am Werk gewesen sein«. Der Begriff »Postmoderne« würde damit letztlich sogar überflüssig werden und höchstens noch den geschichtlichen Moment bezeichnen, an dem sich innerhalb der Moderne die Notwendigkeit einer spezifischen Temporalisierung des Denkens gezeigt hat.99 – »Theologie gemäß der 99

Darin liegt schließlich auch der Grund, warum die Rede von einer »postmodernen Philosophie« oder einer »postmodernen Theologie« im letzten keinen Sinn macht. »Postmoderne« ist weder eine Denkungsart unter anderen, noch eine zeitlich begrenzbare Denk-

69

Postmoderne« wäre dann daher nichts anderes als Theologie selbst, genau so wie eine zeitgemäße Philosophie nicht einfach »postmodern« oder »nichtpostmodern« sein könnte, sondern stets Philosophie sein würde, die im Horizont der bisher erst angedeuteten unhintergehbaren Temporalität und der damit verbundenen Responsivität des Denkens stünde.

1. Jacques Derrida und die Theologie Vor diesem eher allgemeinen Hintergrund zeitgenössischen Denkens könnte das Werk Jacques Derridas vielleicht auch schon deshalb für die Theologie von besonderem Interesse sein, da es nicht zuletzt auch eine Reflexion auf die Möglichkeit von Diskursen überhaupt darstellt – und somit auch über die Möglichkeit von Theologie. Gerade im christlichen Selbstverständnis kann ja Theologie nicht einfach mit dem Glauben als solchem unmittelbar identifiziert werden, sondern stellt zum einen eine Reflexion über den Glauben dar und versucht zum anderen diesen Glauben in einer auch über die eigene Religionsgemeinschaft hinausgehenden, tendenziell sogar universal vermittelbaren Sprache zum Ausdruck zu bringen. »Theologie«, insbesondere in ihrer Gestalt als Fundamentaltheologie, wird hier von ihrem Anspruch her im selben Moment sowohl als Diskurs innerhalb der eigenen Religionsgemeinschaft wie auch als Diskurs innerhalb und in Auseinandersetzung mit der universitas der Wissenschaften bzw. der gesellschaftlichen Realität überhaupt verstanden.100 Für eine konkrete Darstellung der Relevanz des Werkes von Jacques Derrida für die Theologie gäbe es daher auch durchaus verschiedene Ansätze innerhalb der einzelnen theologischen Disziplinen (und auch bereits einige Literatur dazu101). Die folgenden Ausführungen zielen jedoch auf die Bedeutung dieses Werkes für den »theologischen Diskurs als solchem« und zwar insofern (1) die biblische Gottesrede wie auch die christliche Tradition in ihrem Kern selbst diskursiv bzw. narrativ verfasst sind, ja

100

101

70

strömung. Das Wort »Postmoderne« ist – wie vielleicht auch der nicht mit einer Methode zu verwechselnde Begriff »Dekonstruktion«, mit dem Derrida identifiziert wird – eher als Anzeichen einer unhintergehbaren Fragestellung und damit als Ausgangspunkt zu verstehen. Daher auch Lyotards bloß scheinbar paradoxe Formulierung: »Ein Werk ist nur modern, wenn es zuvor postmodern war. So gesehen bedeutet der Postmodernismus nicht das Ende des Modernismus, sondern dessen Geburt, dessen permanente Geburt.« (LYOTARD [s. Anm. 2] 26) Vgl. dazu: J.B. METZ, Die letzten Universalisten. In: C. KRIEG/Th. KUCHARZ/M. VOLF (Hg.), Die Theologie auf dem Weg in das dritte Jahrtausend. FS Jürgen Moltmann zum 70. Geburtstag, Gütersloh 1996, 25–29. Siehe dazu u.a. Y. SHERWOOD/K. HART (eds.), Derrida and Religion. Other Testaments, New York-London 2005); Y. SHERWOOD (ed.), Derrida's Bible (Reading a Page of Scripture with a Little Help from Derrida), New York 2004.

diese Diskursivität überhaupt den logos der Gottesrede erst ausmacht, und zum anderen insofern (2) die Reflexion auf eben diesen narrativen Charakter der christlichen Gottesrede in ihrer systematisch-theologischen Gestalt nur allzu oft ausbleibt und vielleicht darin auch einer der Gründe für jenes Phänomen zu suchen wäre, das Johann Baptist Metz als »Gotteskrise« bezeichnet hat. In diesem Sinne soll Derridas Werk im folgenden zu jener doppelt-einen Zeitdiagnose in Beziehung gesetzt werden, die von Lyotard 1986 in einem sehr allgemeinen Sinn als »Grundlagenkrise«102 und von Metz knapp zehn Jahre später als »Gotteskrise«103 innerhalb der gegenwärtigen theologischen Situation bezeichnet worden ist.104

2. Von der Schrift zur Stimme – und nicht umgekehrt Es sei also – so die These – die Art und Weise des Derrida’schen Denkens, die für einen explizit theologischen Diskurs unverzichtbar und daher grundlegend wäre. Der folgende, in diesen Modus einführende kurze Überblick über die Entwicklung von Derridas Werk ließe sich dabei vorweg mit der Wendung »Von der Schrift zur Stimme – und nicht umgekehrt« zusammenfassen. Nachdem sich Derrida Anfang der 60er-Jahre zunächst noch ohne pointiert eigene Fragestellung vor allem der Lektüre einiger zentraler Diskurse seiner Zeit gewidmet hatte – vor allem der Phänomenologie Husserls, sowie den Texten des aufkommenden Strukturalismus, aber auch bereits den Schriften von Emmanuel Levinas, sowie künstlerisch-literarischen Werken wie denen von Antonin Artaud oder Edmond Jabès, zeichnet sich in der zweiten Hälfte der 60er-Jahre eine aus diesen Lektüren sich ergebende Konsequenz ab, die den Fortgang seines philosophischen Arbeitens bestimmen sollte. – Es hatte sich nämlich erwiesen, dass keiner der Diskurse, denen sich Derrida gewidmet hatte, die eigenen, zumeist unhinterfragt vorausgesetzten Grundannahmen innerhalb des je eigenen Denkens unmittelbar einzuholen vermochte – ohne dass dies als ein »Manko« der Durchführung bezeichnet werden konnte. Stets aber bleibt die Rede von einem Ursprung, einer arché oder einem Prinzip der Prinzipien eine nachträglich vermittelte Rede. Es drängte sich daher die Einsicht auf, dass ein unmittelbarer 102 103 104

J.-F. LYOTARD, Grundlagenkrise, in: Neue Hefte für Philosophie 26 (1986) 1–33. J.B. METZ, Gotteskrise. Versuch zur »geistigen Situation der Zeit«. In: Diagnosen zur Zeit, Düsseldorf 1994, 76–92. Diese Beziehung der genannten Phänomene und Diskurse habe ich bereits in dem Buch Nachträgliches Denken. Skizze eines philosophisch-theologischen Aufbruchs im Ausgang von Jacques Derrida (Münster 2002) verfolgt. Die Grundlagen der folgenden Überlegungen können dort anhand von detaillierten Lektüren Derridas nachvollzogen werden. Formulierung und Stoßrichtung ist nun aber durch die Thematik des vorliegenden Bandes vorgegeben.

71

Zugriff auf eine präreflexive Wahrheit, ein letztes Fundament etc. niemals (in dieser Unmittelbarkeit) sprachlich einholbar sein könnte. Jede Form des Denkens und der Sprache bleibt dem in ihr Ausgedrückten gegenüber nicht nur nachträglich, sondern zugleich auch heterogen. Auch die subtilste Dialektik oder transzendentale Logik vermag dem Diskurs keine Unmittelbarkeit zu dem in ihm Ausgedrückten zu verleihen. – Diese Differenz, die jedes Denken von einer vermeintlichen Unmittelbarkeit trennt, sich jedoch nicht als Differenz zwischen zwei Relata fassen lässt, sondern gewissermaßen das Zu-spät-Kommen jedes Ausdrucks markiert, – diese Differenz ohne angebbares Relatum wird von Derrida nachträglich mit dem berühmt gewordenen Ausdruck différance (mit a) bezeichnet, einem Wort, das sich der hörenden Wahrnehmung entzieht, insofern es in seiner Lautgestalt nicht von der herkömmlichen Differenz, der différence (mit e) unterschieden werden kann. Um die différance (mit a) wahrzunehmen, bedarf es vielmehr der Anstrengung des Lesens und das heißt: der Beschäftigung mit der Schrift und damit mit jenem Medium, das gewissermaßen den Inbegriff der NichtUnmittelbarkeit darstellt. Erst in diesem Horizont wird verständlich, worin der Kern einer der frühen und so oft missverstandenen Aussagen Derridas besteht, wenn es bei ihm nämlich heißt »Alles ist Schrift«, oder eigentlich genauer: »Es gibt kein Text-Außerhalb«, es gibt nichts, das nicht erst in einer lesenden (und damit responsiven) Vermittlung zugänglich wäre. Gerade den Theologen sollte diese Erkenntnis in höchstem Maße vertraut sein. Haben wir es doch gerade in der biblischen Erfahrung und mehr noch in der nachfolgenden christlichen Tradition doch stets mit der Vermitteltheit dessen zu tun, wovon wir zu sprechen und das wir zu bekennen versuchen. – Doch darf dieser Vergleich vielleicht auch nicht zu früh angestellt werden. In keiner Weise nämlich handelt es sich bei Derridas différance-Verständnis und der Erkenntnis, dass alles Begegnende Schrift-Charakter besitzt, um eine religiöse Anspielung oder gar eine theologische Aussage. Vielmehr handelt es sich um eine konsequenzenreiche philosophische Erkenntnis, die dazu nötigt, die Rede von einem Ursprung oder einer arché im klassischen Sinn zu überdenken. – Dabei behauptet Derrida jedoch nicht, dass es in keiner Hinsicht einen Ursprung »gäbe«, sondern bloß, dass die Rede (d.h. die schrift-artige, stets nicht-unmittelbare Rede) und das Denken von einem Ursprung aufgrund ihrer unhintergehbaren Nachträglichkeit diesen stets bereits verfehlt haben. Erst aufgrund dieser Überlegung wird es notwendig, den Begriff »Ursprung« fahren zu lassen. Lediglich die Beziehung zu einer »Vergangenheit, die niemals Gegenwart war« – wie es später in Anlehnung an Levinas heißen wird –, lediglich die Beziehung zu einem VorUrsprünglichen, das niemals (also eben auch nicht als »Ursprung«) greifbar 72

wird, wird nachträglich lesbar. Und genau diese Beziehung zu einer nicht einfach temporal zu verstehenden, sondern Temporalität überhaupt erst ermöglichenden Vorgängigkeit, wird von Derrida mittels einer unhörbaren Intervention in der französische Sprache als différance (mit a) zum Ausdruck gebracht. Diese Erkenntnis wurde entscheidend für das gesamte spätere Werk Derridas. Erst von diesem Moment her nimmt Derridas eigenständiges, nicht mehr bloß »lesendes« Werk seinen Ausgang. Dieser Wendepunkt von einem lesenden und das Gelesene in seiner Konstruktion entlarvenden (dekonstruierenden) Denken zu einem daraus die Konsequenzen ziehenden und um einen angemessenen affirmativen Ausdruck ringenden Denken ist markiert durch die gegenseitige befruchtende Lektüre von Derrida und Levinas ungefähr in den Jahren 1964-66. In diese Zeit fällt u.a. auch Derridas kritische Lektüre von Levinas’ erstem Hauptwerk Totalität und Unendlichkeit (1961), die dessen frühes Verständnis von Alterität als »Exteriorität« hinterfragt, da – kurz gesagt – eine im Sinne einer Exteriorität (eines »Außerhalb«) gedachte Alterität, die sich zugleich der phänomenalen Präsentation entzieht, letztlich überhaupt nicht »erscheinen« und daher auch gar nicht (oder bloß thetisch) ausgesagt werden könnte. Allerdings war sich Levinas dieses Problems zu dieser Zeit bereits selbst bewusst und hatte kurz nach dem Erscheinen von Totalität und Unendlichkeit begonnen, jenes spätere Verständnis der Alteritätsbeziehung zu entwickeln, das allerdings erst im Durchgang durch Derridas Kritik in dem für Levinas’ Denken entscheidenden Text »Rätsel und Phänomen« (1965) einen angemessenen Ausdruck gefunden hat. Alterität ist nun nicht mehr als Exteriorität gefasst, sondern »spurhaft anwesend«. Spur bezeichnet dabei eine »Störung (oder Unterbrechung) der Ordnung« derart, dass sie sich auch nachträglich nicht aus dieser Ordnung heraus verstehen oder in sie integrieren lässt und es insofern notwendig macht, von einem ganz Anderen zu sprechen.105 – Der so verstandene Spur-Begriff lässt sich dabei durchaus im Sinne der biblischen Gotteserfahrungen verstehen, die de facto ebenfalls stets die herrschende Ordnung gestört und sich dem deduktiven Verständnis aus dieser Ordnung heraus widersetzt haben. Es gilt dabei jedoch weiterhin, dass nicht der Spur-Begriff als solcher, nicht die »Spur« als solche eine theologische Qualität besitzt, sondern vielmehr das hier entwickelte Spur-Verständnis zu einer Kategorie des theologischen Diskurses zu werden vermag bzw. der theologische Dis105

Zur Entwicklung des Levinas’schen Spur-Begriffs vgl. P. ZEILLINGER, Phänomenologie des Nicht-Phänomenalen. Spur und Inversion des Seins bei Emmanuel Levinas. In: M. BLAMAUER/W. FASCHING/M. FLATSCHER (Hg.), Phänomenologische Aufbrüche, Frankfurt/M.-New York-Wien 2005, 161–179.

73

kurs vielleicht erst mit Hilfe der Kategorie der Spur als einer Störung (dérangement) der Ordnung überhaupt im engeren Sinne das »Theo-logische« zum Ausdruck brächte ohne dabei in eine exteriore Hinterwelt zu flüchten. Aus diesem Grund gibt Levinas auch das Verständnis von Alterität als Exteriorität in seinem Spätwerk, insbesondere in Jenseits des Seins oder anders als Sein geschieht106 auf und spricht stattdessen vom »Anderen-im-Selben«, also von einer Alterität, die anhand der Störung jeder Identität gewissermaßen sinnlich erfahrbar wird: in der Sensibilität, in der Verwundbarkeit, etc. (Vor diesem Hintergrund wäre auch jener oft übersehene affirmative SubjektBegriff zu entfalten, der nicht nur das Spätwerk von Levinas prägt und durch das Scheitern des traditionellen selbstbezüglichen Subjektverständnisses als eines »Todes des Subjekts« hindurchgegangen ist, sondern sich auch in den politischen Ausführungen von J. Derrida, R. Esposito, J. Rancière oder É. Balibar findet, sowie nicht zuletzt auch in dem aus ganz anderen Traditionen gespeisten Ansatz von Alain Badiou.) Derrida nun, der erst nach Abfassung seiner kritischen Levinas-Lektüre diesem Spur-Begriff begegnet, erhält dadurch offensichtlich erst die Intuition, inwiefern das Scheitern aller vermeintlichen Grundlagendiskurse, zugleich auch in eine affirmative Konsequenz mündet. Um diese Konsequenzen zu entfalten, bedarf es aber einer spezifischen Vorsicht im sprachlichen Ausdruck. Denn im herkömmlichen Verständnis einer Aussage, einer Proposition bzw. eines logos apophantikos ist die Störung (in) der Spur und die damit angezeigte différance (mit a) bzw. die Alterität im Sinne des späten Levinas nicht zum Ausdruck zu bringen, da der Aussagesatz die Störung stets bereits wieder in die Ordnung des Seins integriert und die Alterität damit verfehlt hat. Dies hat bereits der späte Martin Heidegger gewusst, wenn er in seinem Zeit und Sein-Vortrag von 1962 darauf hinweist, die gehörten Sätze nicht im Sinne von Aussagesätzen zu verstehen (obwohl sie natürlich stets als solche gelesen werden könnten). Dies hat aber auch bereits das Alte Israel gewusst, insofern darauf geachtet wurde und wird, das Tetragramm nicht im Sinne eines »begreifenden« Namens zu verstehen, sondern YHWH als denjenigen zu bekennen, der sich verheißt als der, der je dagewesen sein wird. Die Struktur dessen, was in den indogermanischen Sprachen das futur antérieur bezeichnet, findet sich so bereits im biblischen Gottesnamen selbst: »Ich bin der, der ich sein werde« (Ex 3,14). Derrida sieht sich also genötigt, die Beziehung zu dem Nicht-Ursprung – oder vielleicht besser: die Störung jeder metaphysischen Ordnung – durch eine Intervention im sprachlichen Ausdruck selbst zum Ausdruck zu 106

74

Freiburg i.Br.-München 1992 [fr. 1974].

bringen. Nicht als ästhetisches Sprach-Spiel, wie viele fälschlich meinten, sondern um die Lektüre auf dasjenige aufmerksam zu machen, was innerhalb der Grammatik einer Sprache per definitionem nicht zum Ausdruck zu bringen ist. Diese sprachlichen »Interventionen«, die Derridas Texte durchziehen, sind zum Teil recht unscheinbar: das unhörbare a in der différance (mit a) etwa, die von Derrida bei der Wiederveröffentlichung seiner Artikel aus den frühen 60er-Jahren nachträglich in die bereits publizierten Texte eingetragen wird, und damit als eine nachträgliche Konsequenz aus seinen frühen Lektüren angesehen werden muss; andere Gesten sind zum Teil noch unscheinbarer: z.B. die Verwendung der Partikel vielleicht, die Derrida ebenfalls von Levinas übernimmt, und die von 1966 an in immer stärkerem Ausmaß diejenigen Aussagen markiert, von denen er einmal sagen wird, dass sie ihm die wichtigsten gewesen seien. Doch dauert es 30 Jahre bis Derrida diesen Modus des Vielleicht mit Blick auf die deutsche Wortbedeutung erläutert: nämlich als viel-leicht (< mhd. vil lîhte), »es kann sehr leicht sein, dass …«. Das Grimmsche Wörterbuch spricht dabei von der »angenommenen Möglichkeit«, sodass ein Satz, der im Modus des Vielleicht formuliert ist, letztlich ein Bekenntnis des Sprechers zu dem Ausgesagten zum Ausdruck bringt ohne damit jedoch eine letzte Gewissheit oder Sicherheit zu bedeuten. Das Vielleicht Derridas, das in seinen ethischen und politischen Schriften ein große Rolle spielt, bezeugt also ein Engagement für die ausgesagte Sache – ohne letzte Sicherheit. Eine ähnliche Funktion kommt auch der gehäuften Verwendung des Konjunktivs und nicht zuletzt eben des futur antérieur zu, dem hier die Aufmerksamkeit gilt. Alle diese sprachlichen Gesten (die übrigens auch das Spätwerk von Levinas kennzeichnen) drücken das Ringen um einen affirmativen Ausdruck desjenigen aus, was sich dem unmittelbaren sprachlichen oder denkerischen Zugriff entzieht. – Ohne dass Derrida jemals den Begriff »Postmoderne« verwendet oder auch nur mit ihm geliebäugelt hätte, lässt sich daher sein Werk durchaus im Sinne jener Postmoderne-»Definition« verstehen, die Lyotard in der Postmoderne für Kinder beschreibt: Es gälte, jene Regeln zu erfinden, die später einmal gegolten haben werden; es gilt, jene Regeln zu erfinden, die dasjenige, was sich nicht im Präsens, nicht in einem Wissensdiskurs ausdrücken lässt, dennoch zum Ausdruck gebracht haben wird. Aber wie? Die Beantwortung dieser Frage steht noch aus. – Auch hier wird es aber jedenfalls nicht schwer fallen, den theo-logischen Diskurs mit diesem Sprachverständnis in Verbindung zu bringen – auch wenn nicht schon die bloße Anwendung irgendwelcher sprachlicher Gesten als solche »theo-logischen« Charakter haben wird.

75

Damit komme ich zum letzten Punkt dieser kursorischen Werk-Entwicklung, die den Horizont endgültig öffnet für eine Konkretisierung des Derrida’schen Denkens hinsichtlich sowohl ethischer wie auch politischer Fragestellungen – sowie auch im Hinblick auf die Entwicklung eines der biblischen Gotteserfahrung angemessenen theo-logischen Diskurses. Obwohl Derrida zunächst einmal bekannt geworden war als derjenige Autor, der die These »Alles ist Schrift bzw. Text« in die Welt gesetzt hätte (wobei, wie zu zeigen war, es sich aber um keine These, sondern um eine Konsequenz handelte), obwohl also Derrida mit einem universalen SchriftBegriff in Verbindung gebracht wurde, ist sein Werk keineswegs eine »Wissenschaft von der Schrift«, es ist keine »Grammatologie« (obwohl Derrida ein gleichnamiges Buch geschrieben hat), sondern die Dekonstruktion entfaltet sich vor dem Hintergrund, dass sich auch der universale Schrift-Charakter alles Begegnenden nicht einfach in einer Einzelwissenschaft bündeln und analysieren lässt. Aus diesem Grund ist seine Grammatologie auch nicht die Etablierung einer Schrift-Wissenschaft, sondern der Aufweis ihres Scheiterns. So heißt es etwa am Ende des ersten, systematischen Teils des Buches: »Grammatologie, Denken, das noch eingemauert bliebe in der Präsenz.«107 – Bei der Entfaltung des universalen Schrift-Charakters kann Derridas Denken daher nicht stehen bleiben und es ist von Anfang an erkennbar, inwiefern es sich dem Ringen um einen angemessenen sprachlichen Ausdruck zuwendet. Ein Schlüssel für den Übergang zu den ethischen und politischen Texten der 80er- und 90er-Jahre, der zuweilen fälschlich auch als »ethische Wende« bezeichnet wurde, – der Schlüssel für die innere Notwendigkeit dieses Übergangs ist dabei ein kleiner Text, ein Polylog mit einer unbekannten Anzahl von Stimmen, den Derrida zu Beginn der 80er-Jahre zum Thema »Feuer und Asche«108 verfasst hat. Das Besondere dieses Textes liegt neben seinem Inhalt vor allem auch in der performativen Geste seiner Publikation. Derrida legt nämlich beim Erscheinen der Buchfassung dem geschriebenen Polylog zugleich eine Audio-Cassette bei, auf der er und die französische Schauspielerin Carole Bouquet den Text mit verteilten Rollen lesen und dabei nicht umhin kommen, ihn gegenüber der Schriftfassung zugleich mehr und weniger eindeutig werden zu lassen. Mehr eindeutig wird der Text, insofern in der gesprochenen Fassung nun das Geschlecht des Sprechers/der Sprecherin sehr wohl hörbar ist, während die Schriftfassung zumeist keinen diesbezüglichen Hinweis gibt. Weniger eindeutig wird der Text jedoch, insofern z.B. der bedeutungstragende Akzent auf 107 108

76

J. DERRIDA, Grammatologie, Frankfurt/M. 61996 [fr. 1967], hier: 170 (vgl. 169f). J. DERRIDA, Feuer und Asche, Berlin 1988 [fr. 1982/87].

dem frz. la/là, dessen Lesbarkeit in der Schrift zwischen dem weiblichen Artikel und dem Ortsadverb »da« unterscheiden lässt, in der gesprochenen Fassung nicht hörbar ist. – Auf diese Weise macht Derridas gelesener Text deutlich, dass es Schrift in Reinkultur letztlich gar nicht gibt. Es gibt keine Schrift, die einfach als Schrift begegnen würde. Stets ist bereits eine gewisse Lektüre, ja sogar eine Deutung, eine Vermittlung und Verleiblichung, eine Inkorporation mit im Spiel. Der lesende Sprecher einer Schrift hat dieser Schrift immer schon auf die eine oder andere Weise Stimme verliehen und die Schrift dabei zugleich mehr und weniger eindeutig werden lassen. Schrift und Stimme (im jeweils weitesten Sinne dieser Begriffe) sind stets aufeinander verwiesen, wobei jedoch im Gegensatz zum traditionellen Primat der Stimme, nun die Stimme der Schrift erst nachfolgt und von ihr »Zeugnis gibt«. Diese neuerliche Nachträglichkeit ist entscheidend. Alles Denken und Handeln, jeder gesetzte Akt (ob im engeren Sinne sprachlicher Natur oder nicht) erweist sich durch Derridas Analysen als ein antwortender, ein responsiver und insofern nachträglicher Akt, der das ihm Vorgängige »zum Ausdruck bringt«. In diesem Kontext ist schließlich auch Derridas Vernunft-Verständnis anzusiedeln. In einem recht späten Text aus dem Jahr 2003 formuliert Derrida seine Absicht, »die Ehre der Vernunft [zu] retten«109 – und zwar zu retten vor jeder Art von Objektivismus oder universaler (wissenschaftlicher) Rationalität, wie sie Husserl in der »Krisis der europäischen Wissenschaften« bereits 1935 in Wien kritisiert hatte. Doch nicht das, wovor Derrida die Vernunft »retten« möchte, ist in unserem Kontext von Interesse, sondern, welches Verständnis von »Vernunft« damit von Derrida selbst zum Ausdruck gebracht wird – und welche Aufgabe mit dem Begriff »Vernunft« dabei zugleich verbunden wird. Ich fasse dieses Verständnis aus Platzgründen anhand des Mottos zusammen, das Derrida seinem Text vorangestellt hat und das er einem Buch seines Freundes Dominique Janicaud entnommen hatte: »Das Unberechenbare in der allgemeinen Ordnung der Berechnung ergreifen.«110 Aufgabe der Vernunft wäre es also, das sich dem unmittelbaren Zugriff Entziehende dennoch vermittelbar zum Ausdruck zu bringen. (Die gemeinsame Struktur mit dem in 1Petr 3,15 ausgedrückten Motto systematischer Theologie ist hier kaum zu übersehen.)111 Oder nochmals anders ausgedrückt: Aufgabe der Vernunft wäre es, einer sich dem unmittelbaren Zugriff entziehenden (Schrift-)Erfahrung »zeugnishaft« oder »bekenntnis109 110 111

J. DERRIDA, Schurken. Zwei Essays über die Vernunft, Frankfurt/M. 2003, 159–215, hier: 160. Ebd., 159. s.o. Anm. 4.

77

haft« »Stimme zu verleihen« – d.h. in Abwesenheit einer letzten, fassbaren Bedeutung, die in einer Schrift vermittelte Erfahrung im Akt eines Zeugnisses oder Bekenntnisses konkret wirksam werden zu lassen. Innerhalb dieses Schemas lassen sich – soweit ich sehen kann – mehr oder minder alle ethischen und politischen Ausführungen des sog. »späteren Derrida« zusammenfassen. – Worin bestehen aber nun diese ethisch-politischen Aspekte des Derrida’schen Werkes – und inwiefern sind sie für die christliche Theologie von Relevanz? …

3. Ethik & Politik des Ereignisses Derridas ethisches Denken ist geprägt von der Wahrnehmung und Anerkennung des Unberechenbaren, Ereignishaften – etwa wenn er bei seiner Erörterung der Möglichkeit von »Vergebung« formuliert: »Ich kann also, wenn ich vergebe, nur da vergeben, wo es Unvergebbares (Unverzeihliches) gibt«112, denn: »Wenn ich vergebe, weil etwas verzeihlich und leicht zu entschuldigen ist, vergebe ich nicht.« (UM 29) – Ein theologisches Denken, das um die Schwierigkeiten weiß, die mit dem Thema der Vergebung verbunden sind, wird vielleicht mit solch paradoxen Aussagen weniger Probleme haben, als der Philosoph. Dennoch: Die Frage bleibt, inwiefern die bei Derrida immer wieder zu findende, fast wie ein Imperativ klingende Aussage, es müsse »das Unmögliche« getan werden (z.B. UM 30), inwiefern diese »Ethik« (wenn es denn eine ist) jemals praxisrelevant werden könne.113 Die Struktur der ethischen Fragestellungen scheint in Derridas Werk jedenfalls immer die gleiche: Vergebung oder Gabe überhaupt, Gerechtigkeit, Gastfreundschaft, Demokratie, Versprechen, Geständnis, die Freundschaft vor jeder Freund-Feind-Unterscheidung, bis hin zu religionsnahen Begriffen wie Glaube oder dem Messianismus ohne Messias, – alle diese Themen, die Derridas Texte der letzten zwanzig Jahre bevölkern, beinhalten den Bezug auf das Unmögliche, Unberechenbare, niemals Einholbare, und werden dabei dennoch zugleich als das Unverzichtbare, das unhintergehbar Ausständige und unmittelbar Geforderte bezeichnet. – Wie wäre mit diesen Paradoxien umgehen? Wie sind sie zu verstehen? Wie können sie gelebt werden? 112 113

78

J. DERRIDA, Eine gewisse unmögliche Möglichkeit, vom Ereignis zu sprechen, Berlin 2003, hier: 29. [= UM] In einem theologischen Kontext wäre allerdings vielleicht auch diese Schwierigkeit der Lebbarkeit eines radikalen ethischen Imperativs innerhalb der biblischen Tradition nicht ganz ungewohnt …

In einer chronologischen Lektüre des Derrida’schen Werkes wird deutlich, dass in den jüngsten Texten eine Thematik in den Vordergrund tritt, die man nachträglich auch schon in seinen frühesten Arbeiten implizit am Werk sehen kann und daher eigentlich sein ganzes Denken durchzieht: nämlich das Thema des Zeugen bzw. des Zeugnisses oder Bekenntnisses. Im Herbst 2002 hatte Derrida in New York sogar ausdrücklich ein Seminar unter diesem Titel gehalten und darin zahlreiche Gesten aus seinen Texten zusammengefasst. Das »Zeugnis« ist dabei nicht von vornherein als religiöser Begriff zu verstehen. Ganz im Gegenteil: Vielleicht lässt sich erst durch eine nähere Bestimmung des Zeugnisses überhaupt erahnen, worum es innerhalb eines religiösen Diskurses im Kern gehen könnte: nämlich um das Bekenntnis und das Sich-richten-an, um die Adresse an ein unhintergehbar Vorgängiges. Derrida fasst den Begriff des Zeugnisses jedenfalls nicht sogleich religiös, sondern versteht darunter ein »Bekenntnis zu einem Ereignis«, wobei der Begriff des Ereignisses für Derrida den Inbegriff dessen darstellt, was sich zum einen jeder Vorwegnahme entzieht und zum anderen im selben Moment unbedingt gefordert ist, um überhaupt gerechtfertigterweise von einem ethischen oder politischen Handeln, das sich nicht einfach als Berechnung entlarven lässt, sprechen zu können. »Es gibt Ereignis nur, insofern das, was geschieht, nicht vorhergesagt war« (UM 47), heißt es etwa in einem Seminar aus dem Jahr 1997, das den bezeichnenden Titel trägt »Eine gewisse unmögliche Möglichkeit das Ereignis zu sagen (dire l’événement)« (UM)114 – wobei unter der Wendung »das Ereignis sagen« nicht etwa ein »Sprechen über das Ereignis« gemeint ist, sondern vielmehr: Das Ereignis überhaupt erst sich ereignen zu lassen. Derrida belässt es also keineswegs dabei, den ethischen und politischen Akt als einen »unmöglichen« zu beschreiben und zu analysieren, sondern er fragt nach der Möglichkeit, dieses Unmögliche in einem konkreten Akt ins Werk zu setzen. – Es sollte dabei klar sein, dass diese Frage nach der Möglichkeit des Unmöglichen nicht verwechselt werden sollte mit einer transzendentalphilosophischen Frage nach der Bedingung der Möglichkeit, die letztlich auf einen konstativen Sprechakt, d.h. auf einen Aussagesatz hinausläuft. In diesem späten Seminar gibt Derrida vielmehr ein erstaunlich klares Beispiel für das »Sagen des Ereignisses« – und zwar hinsichtlich des Aktes eines »Versprechens«. Das »Ich verspreche« ist ein Sprechen, das nicht ein vorhergehendes Ereignis aussagt, sondern das ein Ereignis hervorbringt. [– wobei Derrida im folgenden sofort betont, dass er mit dem Versprechen nicht ein eingeschränktes Verständnis 114

Übers. mod. – Der frz. Originaltitel lautet »Une certaine possibilité impossible de dire l’événement«.

79

von Versprechen meint, sondern im Versprechen einen Grundakt der Sprache überhaupt sieht –] […] | Das Versprechen ist das Element der Sprache überhaupt. Vom Ereignis zu sprechen, das hieße hier nicht, ein Objekt zu bezeichnen, das ein Ereignis darstellte, sondern ein Ereignis auszusprechen, das vom Sprechen selbst hervorgebracht wird. (UM 52. 53)

Wenn das Zeugnis im oben genannten Sinne – also das »Stimme verleihen demjenigen gegenüber, das sich jeder Berechnung entzieht« – ein »Bekenntnis zu einem Ereignis« darstellt (z.B. dem Ereignis der Vergebung, der Gabe, der Gerechtigkeit, aber auch der Demokratie, der Gemeinschaft, etc.), so besitzt dieses Zeugnis genau jene temporale Struktur, von der dieser Beitrag von Beginn an zu sprechen versprochen hat und auf die alles hinauslaufen würde: nämlich die Struktur des futur antérieur, der Vorzukunft. Das Zeugnis bzw. Bekenntnis verspricht und übernimmt Verantwortung dafür, dass es von einem nicht-anders-Fassbaren, von einem Nicht-Deduzierbaren gesprochen haben wird. Das Zeugnis spricht selbst dann im Modus des Futur antérieur, wenn es nicht dessen grammatikalische Gestalt angenommen hat. Das Zeugnis bekennt sich zu dem, was sich einer unmittelbaren Erfahrung in der Gegenwart entzieht. Und dennoch verspricht es, bereits hier und jetzt das sich bewährende Bekenntnis gesagt zu haben.

4. Das Futur antérieur Derridas Verständnis des Verhältnisses des Menschen zur Welt ist das eines von einer vorgängigen Erfahrung in die Pflicht genommenen Zeugen, eines Zeugen jedoch, der per definitionem nicht schon ein unmittelbares Verständnis des Gegebenen hat und dennoch genötigt ist, ihm zu entsprechen, ihm zu antworten – oder wie auch immer man diesen responsiven Akt fassen möchte. Der Zeuge kann dies jedoch nur, indem er dem ihm Vorliegenden in irgendeiner Weise Stimme verleiht. Das Zeugnis-Subjekt ist in diesem Sinne also ein antwortendes, ein nachträgliches Subjekt. – Der Inhalt des Zeugnisses kann dabei nur den Charakter eines Versprechens oder Bekenntnisses haben: »Ich verspreche bzw. ich bekenne, ich übernehme Verantwortung dafür, dass dies eine Gabe/eine Vergebung/ein gerechter oder demokratischer Akt/ein Geständnis … [oder was auch immer] gewesen sein wird.« Diese responsive und zugleich anamnetische Grundstruktur des gleichzeitigen Bezugs zum Sein wie zur Alterität (epekeina tes ousias), eine Struktur, die sich bei Derrida durch das ganze Werk hindurchzieht, lässt keineswegs irgendeiner Form von Beliebigkeit Raum, sondern erweist sich als eine durchaus effiziente und vor allem affirmative Bedingung ethischen und politischen Handelns. Auch wenn niemals eine letzte Gewissheit mit dem kon80

kreten Handeln verbunden sein kann, so ereignet sich das Bezeugte dennoch bereits im Hier-und-Jetzt des zeugnis- bzw. bekenntnishaften Akts, insofern das Zeugnissubjekt bereits hier und jetzt dafür gerade stehen muss, dass sich das von ihm bezeugte Ereignis bewahrheitet haben wird. D.h. die Wirksamkeit des Ereignisses beginnt nicht erst irgendwann in der Zukunft, sondern in der Gegenwart. Dennoch bleibt die Bewahrheitung, dass dies ein Ereignis gewesen sein wird, immer noch ausständig. Das »schon und noch nicht«, dieser bekenntnishafte Zug des futur antérieur, ist damit – obwohl bei Derrida niemals religiös aufgeladen – eines der Grundelemente seines Werkes.

5. Zur theologischen Relevanz des Derrida’schen Œuvres Ich hoffe, einigermaßen verständlich gemacht zu haben, inwiefern der konsequente Gestus des Derrida’schen Denkens (vom universalen Schrift-Charakter, zum unausweichlichen Stimme-Verleihen im Sinne eines Zeugnisses/Bekenntnisses zu dem, was sich jedem unmittelbaren Zugriff verweigert, bis hin zum Engagement dafür, dass dieses Zeugnis bzw. Versprechen Bestand haben wird) dem theo-logischen Sprechen, also der diskursiv-narrativen Theologie nicht bloß nahe kommt, sondern ihre Grundlagen zum Ausdruck bringen vermag. – Daher (nochmals) meine erste These: 1. These: Der Derrida’sche Diskurs eröffnet die Möglichkeit, auch die spezifische Eigenart theo-logischen Sprechens im Sinne der biblisch-christlichen Gotteserfahrung zum Ausdruck zu bringen. Unter »theologischem Sprechen« bzw. unter Theo-Logie im engeren Sinne verstehe ich hier jenen biblischen Auftrag, der gewissermaßen zum Grundstein argumentierender christlicher Gottesrede geworden ist – im Sinne von 1Petr 3,15: »Seid stets bereit zur apologia jedem gegenüber, der nach der Hoffnung fragt, die in euch ist.« – Leider ist im deutschsprachigen Raum Mitte der 80er-Jahre eine Fehlübersetzung dieses Verses aufgetaucht, die meinte, in diesem Zusammenhang nicht bloß von einer »apologia der Hoffnung«, sondern sogar von einem »Logos der Hoffnung« sprechen zu müssen, den es in der apologia zu bewähren gälte. Diese Fehlübersetzung, die einige Verbreitung gefunden hatte, wurde zuletzt zumindest in der zweiten Auflage des Handbuchs für Fundamentaltheologie korrigiert.115 – Wichtig in unserem Kontext und im Blick auf die theologischen Relevanz des Derrida’schen Denkens scheint mir jedoch der in diesem Vers ausge115

Eine detaillierte Auseinandersetzung mit der Geschichte dieser Fehlübersetzung und den Versuch einer angemessenen Deutung von 1Petr 3,15 habe ich in der FS für J. Reikerstorfer unternommen: s.o. Anm. 4.

81

drückte grundsätzliche Hiatus zwischen der elpis bzw. pistis, also der christlichen Hoffnung bzw. dem christlichen Glauben und jener zunächst fast juridisch zu verstehenden apologia zu sein, zu der der Christ angesichts von Rückfragen gegenüber der Welt aufgerufen ist. Der theologische Logos hätte nach 1Petr 3,15 also eben jenen Spagat bekenntnishaft ins Werk zu setzen, den Derrida mit seinem Janicaud-Zitat ausgedrückt hatte: »Das Unberechenbare in der allgemeinen Ordnung der Berechnung ergreifen.« – Ich denke, dass sich der theologische Diskurs (als Diskurs) heute im Sinne des dargestellten Derrida’schen Denkens verstehen müsste – ohne deswegen aus Derrida’schen Aussagen sogleich theologische Aussagen zu machen. 2. These: Die Zeitform des »futur antérieur«, die Vorzukunft ist der angemessene Modus zum Verständnis theologischer Aussagen im Sinne eines Bekenntnisses bzw. Zeugnisses im Kontext der befristeten Zeit – und im Unterschied zur metaphysischen Rationalität. Johann Baptist Metz hat immer wieder ein spezifisch theologisches ZeitDenken eingeklagt, das im Sinne einer »Befristung der Zeit« dem herrschenden linearen Zeitverständnis »ohne Finale« zu widerstehen vermag. In zweierlei Hinsicht würde Derridas verzeitlichtes Denken diese Forderung erfüllen: (1) Der bereits beim frühen Derrida erkennbare anamnetische Bezug auf das Vor-Ursprüngliche nötigt das responsive Subjekt, diesem durch eine ereignishafte Intervention zu entsprechen. Der Zeuge muss in seinem Zeugnis zum Symptom dessen werden, was er bezeugt.116 Innerhalb der biblischen Tradition ist diese Erfahrung im Selbstverständnis der Propheten, wenn nicht gar ganz Israels, aber auch im Wirken des vorösterlichen Jesus, sowie nachösterlich nicht zuletzt auch bei Paulus erkennbar: »Nicht mehr ich lebe, sondern Christus lebt in mir« (Gal 2,20). Der Christ wird in diesem Sinn zum sichtbaren Symptom seines Glaubens. Das Zeugnis/Bekenntnis, das nicht einfach bloß im Inhalt, sondern vor allem in seiner eigenen Sprach- bzw. Schriftgestalt zum Ausdruck kommt, wäre daher als Versprechen im Modus des futur antérieur zu deuten und stünde im Einklang mit der Lyotard’schen Formulierung der Aufgabenstellung der Postmoderne: Die Regeln dessen zu (er-)finden, was gegolten haben wird. Die Rede von Gott hätte stets den Charakter eines Bekenntnisses – selbst dann, wenn es um systematisch-theologische Aussagen geht. – (2) Aber auch in praktischer, d.h. ethischer und politischer Hinsicht wäre das futur antérieur, wie es im Werk Derridas (aber nicht bloß dort) entfaltet wird, der 116

82

Vgl. P. ZEILLINGER, Das Ereignis als Symptom. Annäherung an einen entscheidenden Horizont des Denken. In: DERS./D. PORTUNE (Hg.), nach Derrida. Dekonstruktion in zeitgenössischen Diskursen, Wien 2006, 173–199.

angemessene Modus theologischer Aussagen: Nur jenes Handeln, das als ein Versprechen im Blick auf den Anspruch des Anderen auch hier und jetzt bereits gesellschaftlich wirksam wird ohne sich selbst dabei mit der Vollendung seines Anspruchs gleichzusetzen, nur ein solches bekenntnishaftes Handeln kann als ein ethisches oder politisches Handeln im Sinne der biblischen Tradition und der christlichen Gottesrede verstanden werden.117 Das Verständnis theologischer Aussagen im futur antérieur widersetzt sich jeder Ideologisierung wie auch der bloßen Vertröstung auf eine unbestimmte Zukunft. – In diesem Sinne verwendet Jacques Derrida auch die bekannte Formel »à-venir«, »im-Kommen«; etwa in der Wendung »democratie à-venir«, »die Demokratie im-Kommen«. Diese Wendung bedeutet dabei gerade nicht, dass dasjenige, was stets im-Kommen bleibt, auf unbestimmte Zeit aufgeschoben wäre, sondern ganz im Gegenteil: dass nur derjenige Akt, der sich nicht mit sich selbst bereits identifiziert, also derjenige demokratische Akt, der sich nicht bereits als die Fülle der Demokratie versteht, überhaupt die Demokratie ankommen zu lassen vermag. In diesem Sinne wurde auch der Titel dieses Beitrags gewählt: Dieu à-venir/Gott im-Kommen, weil nur diejenige Gottesrede, die ihr Gottesverständnis nicht einfach mit Gott selbst identifiziert (und dies in ihrer Gestalt auch erkennbar werden lässt), den Gott unseres Bekenntnisses – wenn es denn noch eines ist – ankommen zu lassen vermag. Dies mag für eine ernstzunehmende Systematische Theologie selbstverständlich sein, doch erst der aktive und auch sprachlich wahrnehmbare Vollzug eines bekenntnishaften Sprechens im Modus des futur antérieur überwindet die religiöse Ideologie und eröffnet den Horizont für eine gesellschaftlich relevante und alteritätssensible politische Theologie in der Nachfolge des biblischen Gottesglaubens.

117

Ein unmittelbarer Vergleich mit dem »ubi«, das in Jon Sobrinos Christologie der Befreiung (Mainz 1998) zur Kernfrage nicht bloß christlicher Praxis, sondern auch christlicher Theologie wird, drängt sich hier auf.

83

Copyright © 2024 DOKUMEN.SITE Inc.