Der Spiegel 19 2012

March 24, 2018 | Author: Ralf Peter | Category: Angela Merkel, Politics (General), Energy And Resource, Government


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Hausmitteilung7. Mai 2012 Betr.: Facebook, China, Piraten A nfangs hatte Paul, Pfarrerssohn aus Bad Soden, 17 Jahre alt, sich nur zu einem kurzen und anonymen Gespräch bereit erklärt; am Ende unterhielt er sich zweieinhalb Stunden lang mit SPIEGEL-Redakteur Manfred Dworschak, 52. Wie kein anderer der vielen Facebook-Nutzer, die Titelautor Dworschak interviewte, hatte Paul die Gefahren und Abgründe des Netzwerks kennengelernt. Auch mit Kripo-Beamten des Hessischen Landeskriminalamts, Psychologen und Sexualforschern sprach Dworschak – und fühlte sich wie ein Völkerkundler, der eine unbekannte Kultur erforscht. „Die Generation der 12- bis 27-Jährigen regelt ihr halbes Leben über das Netzwerk“, sagt Dworschak. „Sie schließen Freundschaften, zanken und versöhnen sich so wie wir früher, aber alles passiert via Facebook.“ Paul, der Pfarrerssohn, gehört nicht mehr so recht zur Gemeinde. „Nach seinen Erlebnissen ist er der vorsichtigste Nutzer, den man sich vorstellen kann“, sagt DworDworschak in Frankfurt am Main schak (Seite 124). D ie neunte Etage des Chayong-Krankenhauses im Zentrum von Peking war streng bewacht, SPIEGEL-Korrespondent Wieland Wagner, 52, wurde von Uniformierten abgefangen, er musste seinen Ausweis fotografieren lassen. Denn einer der Patienten auf dem Flur, jener Mann, den er aufsuchen wollte, war der blinde Bürgerrechtler Chen Guangcheng, 40, der dort eingeliefert worden war, nachdem er in der vergangenen Woche die US-Botschaft verlassen hatte; bis Redaktionsschluss in der Nacht zum Samstag hoffte er vergebens auf die Ausreise. Im Krankenhaus kam Wagner an den Dissidenten nicht heran, im Laufe der Nacht jedoch, auf verschlungenen Wegen, an dessen HandyNummer. Nun wählten Wagner und seine Mitarbeiterin Wu Dandan, 26, von zwei Telefonen aus immer wieder Chens Nummer an – und manchmal kam eine Verbindung zustande, oft nur für Sekunden, für ein paar zerstückelte Worte. Die Splitter, zusammengesetzt, ergeben ein authentisches Interview mit dem DissidenWagner in Shanghai ten (Seite 98). E s ist der Alptraum jedes Journalisten: Zwei Politiker, der Pirat Fabio Reinhardt, 31, und der Grüne Jan Philipp Albrecht, 29, hatten temperamentvoll einen Vormittag hindurch über Datenschutz und Urheberrecht diskutiert, SPIEGELRedakteur Gunther Latsch, 52, hatte das SPIEGEL-Streitgespräch moderiert, ein Stenograf jedes Wort mitgeschrieben, digital aufgenommen. Doch plötzlich standen die SPIEGEL-Leute vor dem Nichts: Am Hamburger Hauptbahnhof war dem Stenografen der Koffer samt Notizen und Aufnahmen gestohlen worden. Als Retter erwies sich Diskutant Reinhardt. Der Pirat, technisch gut gerüstet, hatte darauf bestanden, eine Aufzeichnung mit seinem Smartphone anzufertigen (Seite 32). D E R S P I E G E L 1 9 / 2 0 1 2 JIM LIWANG / IMAGINECHINA Im Internet: www.spiegel.de 5 BERT BOSTELMAN / BILDFOLIO In diesem Heft Titel Generation Facebook – wie der Internetgigant Kinder und Jugendliche verführt .................. 124 Vor dem Börsengang wachsen die Zweifel, ob Facebook die Erwartungen erfüllen kann ..... 126 Deutschland Panorama: Rösler soll gehen / Merkel will EM-Boykott aller EU-Regierungschefs / Absage an Erdgasförderung aus Schiefergestein ......... 17 Europa: Interne Kanzleramtsakten belegen, wie Helmut Kohl den Euro gegen alle Bedenken durchsetzte ............................. 22 Gesundheit: Minister Bahr findet kein Mittel gegen die Kostenexplosion ............................. 27 NRW: CDU-Spitzenkandidat Norbert Röttgen fremdelt mit dem Volk ................................... 28 Bundeswehr: Die heimliche Deklassierung des Generalinspekteurs .................................. 31 Parteien: Im SPIEGEL-Streitgespräch debattieren Grünen-Politiker Jan-Philipp Albrecht und Pirat Fabio Reinhardt über Reiz und Risiko der Basisdemokratie ..... 32 Zuwanderer: Der Zuzug von Bulgaren und Rumänen überfordert die Politik ............. 36 Menschenrechte: Interview mit Michael Vesper, Generaldirektor des Deutschen Olympischen Sportbundes, über das komplizierte Verhältnis von Politik und Sport ..................................... 38 Religion: Katholische Kirchenobere fürchten einen Priesterrebellen aus Österreich ............. 39 Wiedergutmachung: Wie die Bundesregierung bei der Entschädigung ehemaliger NS-Ghettoarbeiter knausert ........................... 40 Verbrechen: Ein Paar soll ein Kind gezeugt haben, um es zu missbrauchen ....................... 42 Akademiker: Annette Schavan und die Plagiatsjäger ............................................. 44 Zeitgeschichte: Der Kampf des Roland Jahn um die Zukunft der Stasi-Unterlagen-Behörde ... 45 Kriminalität: Die Machenschaften des Stradivari-Händlers Machold ......................... 46 Prinzip Hoffnung PLINIO LEPRI / AP Seite 22 Berlin hegte 1998 große Bedenken gegen einen Euro-Beitritt Italiens, so zeigen Geheimakten der Bundesregierung. CDU-Kanzler Kohl fürchtete seine Abwahl – und wischte die Zweifel beiseite. Lufthansa auf Billigkurs Seiten 62, 64 Die Lufthansa will im großen Stil Personalkosten sparen, um möglichst viele neue Flugzeuge anschaffen zu können. Doch bei Mitarbeitern und Kunden regt sich schon jetzt Widerstand. Gesellschaft Szene: Zerstörte Geschäfte in Barcelona nach Krisendemo / Interview mit CSU-Chef Seehofer über seine Facebook-Party .............. 50 Ein Video und seine Geschichte – wie drei Männer aus Leipzig eine Bierflasche in die Stratosphäre schickten .......................... 51 Frauenrechte: Junge Ukrainerinnen demonstrieren mit nackten Brüsten gegen Prostitution und Korruption ........................... 52 Ortstermin: In der Berliner Charité lernt ein verletzter Flüchtling aus Syrien Deutschland kennen ...................................... 58 Legenden des Untergangs Seite 72 Quelle-Erbin Madeleine Schickedanz präsentiert sich als schwache Frau, die von einer skrupellosen Männerclique um Milliarden gebracht wurde. Neue Dokumente belegen: Ihren Ruin hat sie sich offenbar selbst eingebrockt. Wirtschaft Trends: Aldi bekommt Subventionen / Gehaltsgrenze für VW-Vorstände / E-Plus will Mobilfunkmasten verkaufen ................... 60 Lufthansa: Auf dem Weg zum Billigflieger ..... 62 Kunden klagen über enge Sitze und schlechten Service ................. 64 Finanzmärkte: Ohne eine Neuordnung des Bankensektors ist der Euro nicht zu retten .... 66 Deutsche Bank: Gute Geschäfte mit Altlasten aus der Krise ................................... 69 Arbeitsmarkt: Viele, die ihren Job verlieren, landen direkt in Hartz IV ............................... 70 Affären: Wie Quelle-Erbin Madeleine Schickedanz ihre Milliarden verzockte .......... 72 Ernährung: Die EU will alle Ackerflächen für den Weinbau freigeben ............................ 79 Politische Brüste Seite 52 Femen-Protest in Kiew D E R S P I E G E L 1 9 / 2 0 1 2 Junge Frauen aus der Ukraine haben eine neue Form des Feminismus erfunden: Sie nennen sich Femen, stürmen halbnackt auf öffentliche Plätze und demonstrieren gegen Prostitution und Korruption. Der politische Protest mit blanker Brust hat mittlerweile weltweit Nachahmerinnen gefunden. Auch Alice Schwarzer unterstützt die junge Bewegung. 8 GLEB GARANICH / REUTERS Medien Trends: Wer will Gottschalk? / Neue Köpfe im ZDF-Fernsehrat ......................................... 81 Imperien: Die Methoden, denen Rupert Murdoch seinen Aufstieg verdankt, werden ihm nun zum Verhängnis ................... 82 Ausland Panorama: Italiens Premier lässt sein Volk übers Sparen nachdenken / Georgiens Staatschef Saakaschwili legt sich mit Moskau an ..................................................... 88 Ukraine: Die Angst des Wiktor Janukowitsch ..................................... 90 Der polnische Politologe Janusz Reiter über den Platz der Ukraine in Europa ................... 94 Mali: Hexenkessel in der Sahelzone ............... 96 China: Interview mit dem Dissidenten Chen Guangcheng über seine Flucht in die Pekinger US-Botschaft ................................... 98 Pakistan: Dschihad gegen Amerika .............. 100 Global Village: Hundekrieg in Washington .... 104 REUTERS TV / REUTERS China: Raus, und zwar schnell Seite 98 Der blinde Dissident Chen Guangcheng möchte „so schnell wie möglich raus aus China“, sagt er im SPIEGEL-Interview. „Hier gibt es keine Garantien für Bürgerrechte.“ Kultur Szene: Hollywoods neue Lust an Sexthemen / Zwei Ausstellungen erinnern an den Komponisten John Cage ................... 106 Ideengeschichte: Wie der antike Denker Lukrez Aufklärung und Moderne inspirierte ..................................................... 108 Essay: Der Fall Timoschenko und die Probleme moralischer Politik ........... 112 Regisseure: René Pollesch und sein Theaterstück über soziale Netzwerke ........... 114 Philosophie: Die Gesprächs-Autobiografie des Katholiken und Freigeistes Robert Spaemann ........................ 116 Bestseller ..................................................... 118 Kinokritik: Sönke Wortmanns Komödie „Das Hochzeitsvideo“ .................................. 120 Afrika-Safari in Texas Seite 136 5500 Dollar für eine Mendes-Antilope, 6950 Dollar für eine Dama-Gazelle: Sollen Jäger auf Safaris in Texas seltene afrikanische Tiere erlegen dürfen? Die Jagd diene dem Artenschutz, sagen die Rancher. Tierschützer sind empört. Wissenschaft · Technik Der Beginn der Aufklärung Seite 108 In seinem Buch über die Renaissance erzählt der Literaturwissenschaftler Stephen Greenblatt die Geschichte eines vergessenen Textes aus der Antike, in dem der Philosoph Lukrez vor 2000 Jahren unser modernes Menschenbild entwarf. Heikle EM-Reise Prisma: Maulwürfe als archäologische Grabungshelfer / Bewegte Röntgenbilder der Lunge ..................................................... 122 Wildtiere: Lassen sich bedrohte Arten mit der Schusswaffe retten? ................................ 136 Umwelt: Schwaden aus Mikroplastik gefährden das Ökosystem Meer .................... 138 Energie: Kraftwerk ohne Abgas – wie Techniker in Norwegen das Treibhausproblem lösen wollen .................... 140 Sport Seite 146 Sport und Politik, „beides gehört zusammen“, sagt Philipp Lahm. Aufmerksam verfolgt der Kapitän der Nationalelf die Debatte um die EM in der Ukraine – und macht sich Gedanken über die Folgen. Auf die Frage, ob er Machthaber Wiktor Janukowitsch die Hand schütteln würde, antwortet Lahm im Interview: „Das müsste ich mir ernsthaft überlegen.“ CLEMENS BILAN / DAPD Szene: Die Übermacht des THW Kiel bedroht die Attraktivität der Handball-Bundesliga / Der Kardiologe Wolfgang Fehske über den plötzlichen Herztod bei Profi-Sportlern ....... 143 Fußball: In keiner anderen Stadt klammern sich die Menschen so sehr an ihren Verein wie in Dortmund ................. 144 Sportpolitik: Interview mit Philipp Lahm, Kapitän der Nationalmannschaft, über die Debatte um die Fußball-Europameisterschaft in der Ukraine .............................................. 146 Briefe .............................................................. 10 Impressum, Leserservice .............................. 148 Register ........................................................ 150 Personalien ................................................... 152 Hohlspiegel / Rückspiegel ............................. 154 Lahm D E R S P I E G E L 1 9 / 2 0 1 2 9 Briefe voll und nie als Bittsteller behandelt worden. Unter meinen Ansprechpartnern befinden sich gleichfalls Frauen in führenden Managementpositionen. Sie werden auch nach Mutterschutz und Sabbatjahr wiedereingegliedert. JENS ROSSBERG, BONN „Aus genau diesen Gründen meide ich Aldi wie der Teufel das Weihwasser. Ich habe keine Lust, solch ein schon fast menschenverachtendes System durch meine Einkäufe zu unterstützen. Geiz ist nicht immer geil.“ SIBYLLE SCHÖLER, LEONBERG (BAD.-WÜRTT.) SPIEGEL-Titel 18/2012 Nr. 18/2012, Aldi-Insider über die skrupellosen Praktiken ihres Konzerns Fresst Gummibärchen! Warum haben Sie bei Ihren Recherchen nicht auch mal mit Mitarbeitern gesprochen, die sich absolut wohl bei Aldi fühlen? Aldi hat sehr viele qualifizierte, motivierte und schnell arbeitende Mitarbeiter, die gut behandelt und top bezahlt werden. Als Kunde sind mir diese allemal lieber als die vielen Ver.di-Schnecken an den Kassen der Wettbewerber. HANS ULRICH SCHNEIDER, SPEYER Schulbildung egal war. Danach anderen die Schuld zu geben, dass man nichts Besseres findet, ist niedrig. BEAT MICHAEL WAELTY, SCHÖFTLAND (SCHWEIZ) Selten einen so bemüht konstruierten Artikel gelesen. Ein gutgeführtes Unternehmen zeichnet sich immer durch ein gewisses Maß an Rigorosität aus. Das führt – in Einzelfällen – zu menschlichen Verfehlungen, denen unbedingt und konsequent nachgegangen werden muss, darf aber nicht in eine breitangelegte Treibjagd auf eines der erfolgreichsten deutschen Unternehmen münden. DR. MARKUS DICHTL, DÜSSELDORF Theo und Karl Albrecht haben in ihrer Jugend vielleicht den Roman „1984“ von George Orwell gelesen. Sie haben dieses Werk aber wohl nicht als beängstigende Dystopie aufgefasst, sondern als sprudelnde Quelle der Inspiration. WOLFGANG QUAKERNACK, DETMOLD Ja, geht’s noch a bisserl verlogener? Gehe ich jetzt ganz falsch in der Annahme, dass dieselben Leute, die nun „Skandal!“ schreien, gleichzeitig diejenigen sind, die im Internet einen höchst sorglosen Umgang mit ihren Daten pflegen? Also, sei’s drum. Übrigens: Wenn ich das nächste Mal wieder bei Aldi vorbeischaue, mache ich mich extra schick. MATTHIAS KAISER, HAUSACH (BAD.-WÜRTT.) Es ist unfassbar, was bei Aldi hinter den Kulissen abläuft. Ich habe als Tagesvertretung Ware reduziert und zwei Artikel davon selbst gekauft. Daraufhin wurde mir drei Tage später die Kündigung ausgesprochen. Bei einer Bekannten, die im Rechtsstreit mit Aldi ist, wurde angeblich Geld in die Kasse gelegt, und als es bei der Abrechnung nicht mehr da war, wurde sie mit ganz miesen Mitteln dazu getrieben, ein Schuldeingeständnis zu unterschreiben. MARLENE HESSELE, KALENBORN (NRW) Die angeführten Sachen als „paranoides Verhalten“ zu titulieren ist so etwas von lebensfremd. Weswegen ist Aldi so erfolgreich, weswegen ist interner Diebstahl so selten? Weil Kontrolle genauso wie Vertrauen immens wichtig sind. Mein Fazit: viel Luft um nichts! ANDREAS KÜNZEL, BLAICHACH (BAYERN) Kassenbereich einer Aldi-Filiale in Berlin Erfolgsorientierte Tugenden, von den Albrecht-Brüdern und ihren Firmen glaubhaft vorgelebt, werden mich als „40-Jahre-Jubiläums-Aldianer“ wohl bis an mein Lebensende faszinieren. Ihr oft unerträglichen Wutbürger und ewig unzufriedenen Neidhammel, fresst Gummibärchen von Aldi, 89 Cent pro 300 Gramm, damit eure Schandmäuler endlich mal Ruhe geben und euer Resthirn euch sagt, von wem diese Preisspiralen nach unten, zum wachsenden Wohlstand breiter Massen, wohl maßgeblich beeinflusst wurden. GERHARD OCHS, AURACHTAL (BAYERN) Endlich traut sich jemand, den allgegenwärtigen Aldi-Heiligenschein anzutasten und uns vor Augen zu führen, welcher Preis hinter den Kulissen für unsere wohlfeile Schnäppchenkultur zu zahlen ist. PETER SAGOLLA, BIELEFELD Ich betreue für eines der erfolgreichsten deutschen Süßwarenunternehmen die Zentralgesellschaften Aldi Nord und Süd. Ihre Beschreibungen in Bezug auf die Zulieferer sind absolut haarsträubend. In all meinen Gesprächen bin ich stets respekt- Ich war mehr als 21 Jahre lang Filialleiter bei Aldi Süd. Nach einem Burnout zeigte man sich anfangs helfend interessiert und wollte mich in eine Filiale mit angeblich weniger Arbeitsaufwand wiedereingliedern. Aber dort ging das Mobbing/Bossing durch Vorgesetzte los. Ich sollte meinen gepflegten Bart abrasieren. Dagegen habe ich mich mehrfach wehren müssen. Da man keinen Erfolg bei mir hatte, wurden der Druck, die Einschüchterungen und die Kontrolle durch alle Vorgesetzten massiv ausgebaut, bis ich psychisch so fertig war, dass ich die angebotene Abfindung dankend angenommen habe. INGO SCHIEFER, KÖLN Diskutieren Sie im Internet www.spiegel.de/forum und www.facebook.com/DerSpiegel Das Gejammer über die Überwachung ist langsam langweilig. Wer nichts zu verbergen hat, den stört das nicht. Und ohne Kameras klauen die Menschen wie die Raben, dies ist belegbar. Aldi, Lidl, Coop, Migros bieten saubere Arbeitsplätze für Leute, denen unter anderem die eigene 10 ‣ Titel Wie verändert Facebook die Jugend? ‣ Religion Sollten auch Laien die Messe in der katholischen Kirche halten dürfen? ‣ EM-Boykott Spielen sich die Deutschen zur moralischen Supermacht auf? D E R S P I E G E L 1 9 / 2 0 1 2 Briefe Nr. 17/2012, Wie junge Salafisten in Deutschland missionieren; Szene: Einwurf von Matthias Matussek Aus Feigheit tolerant Herrn Matussek gebührt Dank und Anerkennung für seinen mutigen Kommentar in Bezug auf den Koran. Er hat den Nagel auf den Kopf getroffen. STEPHAN MAIER, SCHWALMSTADT-TREYSA (HESSEN) Nr. 17/2012, Die Konzernchefs kassieren Millionen-Pensionen Was für eine elende und stupide Diskussion! Ihr Deutschen werdet es nie lernen – die Leistung der meisten Top-Manager ist exzellent im Gegensatz zu der von Politikern. Bei Fußballern, Rennfahrern, Tennisspielern, da gibt es kein Gemecker Koran-Verteilung in Berlin über die Millionen! Schickt uns die MaWir haben uns in Jahrhunderten die Tren- nager, die Kicker könnt ihr behalten. nung zwischen Staat und Religion erJACK GRIGG, NIEDERWANGEN (SCHWEIZ) kämpft und den Terror der Inquisition abgeschüttelt. Nun tritt die Gruppe der Wer Bananen bezahlt, bekommt nur AfSalafisten auf den Plan, die das Rad der fen. Ich würde lieber in einem Land mit Menschenrechte zurückdrehen möchte. fähigen Managern und unfähigen FußbalDie scheinbare Toleranz, die ihnen staat- lern leben als umgekehrt. licherseits entgegengebracht wird, ist in RODERICH SARTORY, HAMBURG Wahrheit Feigheit, Stellung zu beziehen. GERHARD PFLUG, VELBURG (BAYERN) Millionen Arbeitnehmer mit geringem Lohn müssen zusehen, wie sie ihre FamiJeder kann selbst entscheiden, ob er den kostenlosen Koran annimmt, liest, sich mit dem Inhalt auseinandersetzt, Folgerungen für sich daraus zieht. Zudem kann man unkommentierten Texten keinerlei Manipulationsabsicht unterstellen. Wer trotzdem mit Verboten droht, traut dem mündigen Bürger nicht. Das gefährdet die Demokratie mehr, als wenn man das missionarische Treiben einer eher kleinen, auch im Islam isolierten Gruppe von religiösen Eiferern zulässt. HANS GERBIG, GERSTHOFEN (BAYERN) JURI REETZ / BREUEL-BILD Wer Bananen zahlt, kriegt Affen Daimler-Chef Dieter Zetsche Man muss ja die Katholizismus-Begeisterung und die Papst-Euphorie von Matussek nicht unbedingt teilen, aber seine sarkastische Kritik am Koran beziehungsweise an der Koran-Verteilung durch die Salafisten ist mehr als berechtigt. DIETER WILL, VILSHOFEN (BAYERN) lie ernähren. Es gibt nur eine Lösung: Die Steuern für die Millionäre müssen radikal angehoben werden. Nur dann lohnt es sich wieder, wählen zu gehen. KLAUS BELGARDT, SALZGITTER Korrekturen zu Heft 15/2012 Seite 139, „Liebesgrüße aus Peking“: „Findet Nemo“ ist keine Produktion von DreamWorks, sondern von Pixar. zu Heft 16/2012 Seite 31, „Bayerischer Zündstoff“: Die Behauptung, dass der Staat über die Mineralölsteuer an den steigenden Benzinpreisen mitverdient, ist falsch. Die Energiesteuer wird mit einem festen Betrag pro Liter erhoben und ist somit unabhängig vom Verkaufspreis. 12 D E R Exzellent recherchiert. Solche Gesellschaftskritik im besten Sinne gibt es eben nur im SPIEGEL. PROF. HANS BLOSS, ETTLINGEN (BAD.-WÜRTT.) Für die obersten Führungskräfte besteht neben Festgehalt, Bonusregelung, Aktienplan, Aktienoptionsplan, Wertsteigerungsrechten und Versorgungszusagen noch oft das Recht auf Abfindung bei Eigentümerwechsel, und selbstverständlich wird eine Manager-Haftpflicht bezahlt. Dass manche Manager daneben noch einen unbedeutenden, dennoch bezahlten Nebenjob als Aufsichtsratsmitglied oder gar -vorsitzender ausüben, kann man dabei – finanziell – fast als Sack voller Peanuts abtun. FRANZ TOBIASCH, WESTENDORF (BAYERN) 1 9 / 2 0 1 2 S P I E G E L Briefe Nr. 17/2012, Die Debatte um das Betreuungsgeld gefährdet den Modernisierungskurs der Union Merkels Waterloo Keiner schreit wirklich nach einem Betreuungsgeld! Wie kann man nur wider besseres Wissen – und gegen die Mehrheitsmeinung – solch eine antiquierte und einer rationalen Familienpolitik diametral entgegengesetzte Leistung einführen? Nur damit man als CSU der Stammwählerschaft in Bayern irgendetwas anbieten und nur damit die Kanzlerin ihren schon von Anfang an brüchigen Koalitionsfrieden weiter mit Kitt zukleistern kann. Deshalb wird ganz Deutschland dieser Schwachsinn übergestülpt? MARCEL PETERMANN, KÖLN Statt das Geld für die Betreuung zu Hause auszugeben, sollte es in eine entschlossene Veränderung der Arbeitswelt gesteckt werden. Mehr staatliche Förderung von Betriebskindergärten oder Heimarbeit wären Schritte in diese Richtung. Darum sollten sich die Familien- und die Arbeitsministerin kümmern. EVA OSBERGHAUS, BAD ORB (HESSEN) Nr. 17/2012, Hightech-Pioniere betreiben Totalüberwachung ihrer Körperfunktionen Weniger essen – toll Seit über zwei Jahren messe ich Gewicht und Körperfettanteil mit Hilfe einer Waage, die ans heimische WLAN gekoppelt ist. Die Drahtloswaage schickt die Daten ins Netz, von wo aus sie per Browser oder Smartphone-App abgerufen werden können. Besonders motivierend ist solch ein Gadget, wenn es um Gewichtabnahme geht. Die Fortschritte sind sichtbar, lange bevor ein Maßband Erfolge meldet. FRANK SCHULZE, HAMBURG ROBERT GALLAGHER / DER SPIEGEL Nr. 17/2012, Debatte: Warum es richtig ist, aus Kindern gute Schüler zu machen Der, der ich bin Inge Kloepfer verfehlt den Kern der Kritik an dem Artikel „Wir schreiben noch Mathe“. Keiner will den Kindern das Recht auf Unterstützung oder Motivation verwehren. Vielmehr ist der Elterneinsatz oft übertrieben, ohne dabei unbedingt den Lernprozess zu fördern. Wer wird die bessere Note bekommen? Der, der ein Thema altersgerecht verarbeitet hat, oder der, der mehr elterliche Hilfe bekommt? Ist das motivierend? Und ist der Preis des Übereifers nicht zu hoch? Ist Familienfreizeit nicht ebenso wichtig wie eine Mathe-Arbeit? Wir dürfen für die Betreuung von zwei Kindern weit über 600 Euro bezahlen. Schafft endlich mehr Betreuungsplätze, die bezahlbar sind und nicht von Ort zu Ort so unterschiedlich teuer. CHRISTINE SCHÖNFELD, WEHRHEIM (HESSEN) Kardiologe mit Patientendaten Die anscheinend unabwendbare Einführung des Betreuungsgeldes ist wieder einmal ein Vorgang, bei dem ich an diesem Land zu verzweifeln DIOMIRA GABETTI, drohe. Nicht nur ist sie aus offenkunMAILAND digen Gründen ein bildungs-, arbeitsmarkt- und integrationspolitisch desaströs kontraproduktiver Ansatz, Danke! Ich dachte sondern sie ist darüber hinaus auch schon, ich wäre mit hochgradig undemokratisch. Im Inmeiner Meinung – teresse des Fortbestandes einer madass Kinder sehr wohl roden Koalition muss sie gegen jede leistungswillig und ehrVernunft und gegen den Willen der geizig sind – allein auf gesellschaftlichen Mehrheit durcheiner einsamen Insel. geboxt werden. Dies ist nur politi- Kind beim Klavierspiel YEKTA SCRIBA, HAMBURG schem Kalkül sowie dem Machtgebaren einer sozialreaktionären Regional- Die Dame im rosa Blazer und mit Goldpartei geschuldet. kettchen meint also, wir sollten in der ErALEXANDRA PÖTZ, BRÜSSEL ziehung einfach so weitermachen wie früher. Die Welt fährt gegen die Wand im Als Konservativer kann ich nur den Kopf Klammergriff von Finanzinteressen, Krieschütteln über das Rumeiern der CDU gen und Werteverfall, und wir schicken und deren Schwanzeinzug vor der CSU. unsere Kinder zum Japanisch-Unterricht? Ich wage die Prophezeiung: Das Festhal- Aus Kindersicht sollte es nur ein Erzieten am Betreuungsgeld wird zum Water- hungsziel geben: „Was möchtest du werloo der Frau Merkel und ihrer Regierung den?“ „Der, der ich bin.“ führen, da kann sie links einknicken und KATJA MARISTANY KLOSE, BERLIN rechts angreifen, soviel sie will! F1ONLINE Wenn eine App für mich einen Termin beim Psychiater macht, weil meine Werte schlechter geworden sind – und das, ohne mich zu fragen –, dann würde ich das Handy aus dem Fenster schmeißen. Sich vollkommen auf physiologische Werte zu konzentrieren finde ich auch ungesund. Ich möchte nicht Zeit verschwenden, meinen Körper in möglichst idealem Zustand zu bewahren, um dann noch mehr Zeit zu haben, um genau das weiter zu tun. Wichtiger erscheint es mir, sich nicht allzu sehr auf sich selbst zu konzentrieren und dem natürlichen Verfall des Körpers seinen Lauf zu lassen. MIA SISTENICH, DÜREN (NRW) Was nützen mir die Überwachungs-Apps, wenn mein Arzt dann wieder mal gelangweilt die Ergebnisse überfliegt und sagt, ich solle mich mehr bewegen und weniger essen. Für diese tolle Diagnose brauche ich keine Apps und auch keinen Arzt! HANS PÜRSTNER, HAMBURG Die Redaktion behält sich vor, Leserbriefe – bitte mit Anschrift und Telefonnummer – gekürzt und auch elektronisch zu veröffentlichen. Die E-Mail-Anschrift lautet: [email protected] GERALD BÖHNEL, HAMBURG Mit dem Betreuungsgeld werden nicht Deutsch sprechende Kinder aus ausländischen Familien und schlecht integrierte Kinder aus Deutsch sprechenden Familien noch weniger als ohnehin an die Gesellschaft und die damit verbundenen Aufgaben herangeführt, was mittelfristig wohl nur rechtsradikalen Parteien nutzen wird. Ausbaden müssen es nicht nur Erzieher und Lehrer, sondern dann wir alle. DIRK EICKHOFF, RASTEDE (NIEDERS.) Aus der SPIEGEL-Redaktion Leidenschaft und Schmerz, Seligkeit und Verzweiflung – so ist die Liebe. Nicht nur romantische Naturen, sondern auch Sexualforscher und Psychologen wollen genauer wissen, was es damit auf sich hat. SPIEGEL WISSEN erklärt, wie Paare zusammenfinden, worauf es bei der Partnersuche im Internet ankommt und wie eine dauerhafte Bindung gelingen kann. Zu Wort kommen Therapeuten und Philosophen, aber auch viele junge und alte Menschen, die über ihr Leben zu zweit mit allen Höhen und Tiefen Auskunft geben. SPIEGEL WISSEN ist ab Dienstag im Handel. D E R S P I E G E L 1 9 / 2 0 1 2 14 Panorama Deutschland EM-Stadion in Kiew, Merkel FUSSBALL-EM Merkel will EU-weiten Boykott der Ukraine Angela Merkel erhöht den Druck auf Kiew: Die Bundeskanzlerin wirbt in der EU dafür, dass alle Staats- und Regierungschefs die Fußball-EM in der Ukraine boykottieren, falls die Regierung die inhaftierte Oppositionsführerin Julija Timoschenko nicht freilasse. Die EU-Kommission hat bereits in der vergangenen Woche erklärt, dass alle 27 EU-Kommissare nicht zur EM in die Ukraine reisen werden, falls Timoschenko in Haft bleibe. Bundespräsident Joachim Gauck und andere Staatschefs hatten ein für Mitte Mai geplantes Treffen mit dem ukrainischen Präsidenten Wiktor Janukowitsch auf der Krim abgesagt. Merkel hat bereits signalisiert, dass sie möglicherweise nicht in die Ukraine reisen werde. Im Kanzleramt setzt man aber darauf, dass eine EU-weite Boykottdrohung eine größere Wirkung entfaltet als der Alleingang einiger Länder. In Polen, dem Land, das die EM zusammen mit der Ukraine ausrichtet, sieht man die deutschen Bemühungen kritisch. Der polnische Präsident Bronislaw Komorowski hatte Gauck bei dessen Antrittsbesuch Ende März gebeten, das Treffen mit Janukowitsch wahrzunehmen. Man müsse mit der Ukraine im Dialog bleiben. Der polnische Premierminister Donald Tusk hat Merkel ebenfalls mitgeteilt, dass er einen politischen Boykott der EM ablehne. Die Bundesregierung verhandelt mit der ukrainischen Seite über eine mögliche Behandlung Timoschenkos in Deutschland, diese leidet unter chronischen Rückenschmerzen und befindet sich seit mehr als zwei Wochen im Hungerstreik. FDP Rösler soll gehen Führende FDP-Politiker arbeiten auf einen Sturz von Parteichef Philipp Rösler hin. Rösler habe nicht das Format, die Liberalen in die bevorstehende Bundestagswahl zu führen, sagt ein Mitglied der Parteispitze. Daher müsse er noch in diesem Jahr als Vorsitzender abgelöst werden, selbst wenn die FDP bei der Wahl in Nordrhein-Westfalen erfolgreich abschneiden sollte. Beim jüngsten ARD-Deutschlandtrend waren nur noch 16 Prozent der Befragten mit Röslers Arbeit zufrieden, es 16 war der niedrigste für ihn je gemessene Wert. Zu denen, die Rösler stürzen wollen, zählen Minister, Landesvorsitzende und Präsidiumsmitglieder. Nach ihrem Willen soll Fraktionschef Rainer Rösler D E R S P I E G E L 1 9 / 2 0 1 2 Brüderle den Parteivorsitz übernehmen. Die Führer des Aufstands gegen Rösler kommen aus der sogenannten Südschiene der FDP, zu der unter anderem Bayern, Baden-Württemberg und Hessen zählen. Weil in diesem Jahr kein Parteitag mehr ansteht, haben die Rösler-Kritiker Szenarien für seinen Sturz entwickelt: Die Bundestagsfraktion, der Rösler nicht angehört, könnte auf einer Klausurtagung im Herbst den Druck auf den Parteichef so erhöhen, dass der aus dem Amt scheiden müsse. „Es ist keine einfache Operation, aber eine notwendige“, sagt ein Mitglied der Fraktionsführung. „Bei der nächsten Bundestagswahl geht es um die Existenz der FDP.“ PATRICK SEEGER / DPA EAST NEWS / IMAGO (L.); MAJA HITIJ / DAPD (R.) FOTOCREDIT Panorama DAT E N S C H U T Z Überwachung von und mit Google Die Vizechefin der EU-Kommission und Justizkommissarin Viviane Reding verschärft in der Auseinandersetzung mit dem US-Internetgiganten Google den Ton. „Ich habe den Eindruck, dass die Verantwortlichen von Google in diesem Fall das europäische Datenschutzrecht mit den Füßen treten“, sagt Reding. Sie bezieht sich auf einen amerikanischen Regierungsbericht. Der enthüllte vor einer Woche: Bei Google hatten mehrere Mitarbeiter davon gewusst, dass die Kameraautos für Google Street View beim Vorbeifahren auch sensible Daten aus unverschlüsselten WLANNetzen aufzeichneten. Google hatte diese Praxis als „Fehler“ bezeichnet und sich entschuldigt. Das Unternehmen erweckte aber immer den Eindruck, es habe sich um ein Versehen gehandelt. Reding spricht nun von einem „planmäßigen Sammeln von Wifi-Daten ohne Kenntnis und Einwilligung der Bürger“. Dies wecke „schlimmste Erinnerungen an einen orwellschen Überwachungsapparat“. Reding liegt im Dauerclinch mit Google. Die Kommissarin hat unlängst ihr Konzept für eine EU-Datenschutzverordnung vorgelegt, die insbesondere Anbieter wie Facebook und Google im Visier hat. INGO WAGNER / PICTURE ALLIANCE / DPA Demonstration vor einer Baustelle zur Erdgasprobebohrung U M W E LT Fracking, nein danke Die Bundesregierung will vorerst keine Erdgasförderung aus Schiefergestein in Deutschland. Darauf verständigten sich die zuständigen Minister Norbert Röttgen (Umwelt) und Philipp Rösler (Wirtschaft). Man stehe dem sogenannten Fracking „sehr skeptisch“ gegenüber, heißt es aus der Bundesregierung. „Es sind viele Fragen offen, die wir zunächst genau prüfen müssen“, sagte Rösler gegenüber Vertrauten. Die Bundesminister wenden sich damit gegen die Pläne von Energiekonzernen, die insbesondere in Nord- und Ostdeutschland auf in Gestein eingeschlossene Erdgasvorkommen gestoßen sind. Um an das Gas heranzukommen, muss das Gestein mit einer Mischung aus heißem Wasser, Sand und teils giftigen Zusatzstoffen aufgebrochen werden. Der Konzern ExxonMobil hatte dazu vergangene Woche eine Studie des Helmholtz-Zentrums für Umweltforschung vorgestellt, in der sich die Wissenschaftler für Probebohrungen in Niedersachsen und Nordrhein-Westfalen aussprechen. In den betroffenen Regionen haben sich aus Sorge vor Grundwasserverschmutzungen bereits einige Bürgerinitiativen gegründet. RECHTSTERRORISMUS Spur nach Hessen Die Rechtsextremisten Uwe Böhnhardt und Uwe Mundlos haben möglicherweise einen weiteren, bisher noch nicht aufgeklärten Banküberfall begangen. Ermittler prüfen einen Raub am 6. August 2001 im hessischen Birstein. Damals waren kurz nach acht Uhr am Morgen zwei mit Sturmhauben maskierte Männer in die Filiale der Volksbank gestürmt. Mit einer Waffe bedrohten sie die Angestellten und erbeuteten 15 000 Mark. Sie flüchteten auf einem gestohlenen Motorrad, das ein Fuldaer Kennzeichen trug. Böhnhardt und Mundlos waren bereits bei zwei Banküberfällen 1999 in Chemnitz mit einem motorisierten Zweirad vorgefahren. Später stiegen sie auf Fahrräder als Fluchtfahrzeuge um. Es wäre 18 der 15. Banküberfall, der den Rechtsterroristen zugerechnet wird. Der Raub gehört allerdings noch nicht zu den Verfahren der Bundesanwaltschaft gegen Komplizen der Rechtsextremisten. Ein Hinweis aus der Bevölkerung hatte zu der neuen Ermittlung geführt. ZAHL DER WOCHE 39 Prozent der Bürger in Deutschland glauben, dass sie in Politik und Gesellschaft etwas bewirken könnten. Das sind fast doppelt so viele wie noch vor 20 Jahren, wie das Umfrage-Institut Allensbach herausgefunden hat. Damals hielten sich die meisten Deutschen für machtlos. Heute meinen nur noch 31 Prozent, keinerlei Einflussmöglichkeiten auf das zu haben, „was hier am Ort geschieht“. Als einen aktuellen Auslöser für das gestiegene Vertrauen der Bürger in die eigene Gestaltungskraft sieht Allensbach die Debatte um das Bahnprojekt Stuttgart 21. Böhnhardt, Mundlos 2007 D E R S P I E G E L 1 9 / 2 0 1 2 BKA / DAPD Deutschland EXPORTE Regierung winkte AKWGutachten durch Die Bundesregierung will den Bau eines brasilianischen Kernkraftwerks fördern, ohne dass Nuklearexperten des Umweltministeriums das zentrale Sicherheitsgutachten geprüft haben. Es geht um Bürgschaften für das umstrittene AKW Angra 3. Die vom Atomkonzern Areva beauftragten Gutachter äußerten keine grundsätzlichen Sicherheitsbedenken gegen den Bau. Daraufhin empfahl der Interministerielle Ausschuss (IMA) 2009 unter Leitung des Wirtschaftsministeriums, die Kreditgarantie in Höhe von 1,3 Milliarden Euro prinzipiell zu bewilligen – offensichtlich ohne detaillierte Prüfung und ohne die Expertise des Umweltministeriums. „Eine weitere Auswertung hielt der IMA aufgrund der klaren Ergebnisse des Gutachtens für nicht erforderlich“, heißt es in einer Antwort des Wirtschaftsministeriums auf eine Kleine Anfrage der Grünen. Dabei hat das Gutachten nach Ansicht von Fachleuten erhebli- Bau des brasilianischen Kernkraftwerks Angra 3 che Schwachstellen. Es „bezieht sich auf einen Stand der Technik, der längst überholt ist“, sagt Dieter Majer, bis vor einem Jahr Unterabteilungsleiter für Reaktorsicherheit im Umweltministerium. Die Pläne für Angra 3 seien „weit von dem entfernt, was heute Standard ist“. Die atompolitische Sprecherin der Grünen, Sylvia Kotting-Uhl, spricht von einem „handfesten Skandal“ und einem „absolut inakzeptablen“ Vorgehen der Regierung, die ein Gutachten einfach durchgewinkt habe. Das Bundeswirtschaftsministerium verteidigt sich: Weil der Bau von Angra 3 bereits vor 28 Jahren begonnen wurde, seien laxere Standards zu erfüllen, die internationalen Vorschriften würden eingehalten. Vor einer endgültigen Entscheidung will das Wirtschaftsministerium noch die Ergebnisse eines brasilianischen Stresstests prüfen. PROZESSE Mitarbeiter vergiftet Vor dem Dortmunder Landgericht beginnt am Mittwoch der Prozess wegen eines der größten Umweltskandale der Republik. Manager des Recycling-Unternehmens Envio sind angeklagt, die Gesundheit ihrer Mitarbeiter vorsätzlich und aus Profitgier ruiniert zu haben. Die Firma hatte PCB-haltigen Schrott entsorgt. PCB ist ein krebserregendes Nervengift, es ist in Transformatoren und Hydraulikflüssigkeiten enthalten, schädigt das Erbgut und darf eigentlich nur unter strengen Sicherheitsauflagen entsorgt werden. Envio-Mitarbeiter sollen ohne ausreichende Schutzkleidung bis zur Wade in giftigen Schlämmen gestanden haben. Die Arbeiter brachten verseuchte Kleidung mit nach Hause, ihre Ehefrauen wuschen die Sachen – und wurden ebenfalls vergiftet. Die Arbeiter leiden teilweise unter Nervenschädigungen und Gedächtnisstö- Reinigung des Envio-Firmengeländes WR RALF ROTTMANN rungen, in ihrem Blut wurden bis zu 25000fach erhöhte PCB-Werte gefunden. Der Kölner Anwalt Reinhard Birkenstock vertritt einen Teil der geschädigten Arbeiter als Nebenkläger, unter anderen den Vater eines Kindes, das schwerkrank zur Welt kam. Birkenstock führt dies auf PCB-Vergiftungen zurück. Der Rechtsvertreter fordert „Schadensersatz für die Menschen, deren Gesundheit hier vorsätzlich aus reinem Gewinnstreben ruiniert wurde“. Die Angeklagten haben sich bislang zu den Vorwürfen nicht geäußert. STEUERN Geldflut für den Fiskus Bund, Länder und Gemeinden werden in diesem und im kommenden Jahr jeweils rund fünf Milliarden Euro mehr an Steuern einnehmen als noch im November vergangenen Jahres vorausgesagt. Das Bundesfinanzministerium hat sich auf einen entsprechenden Vorschlag für die Steuerschätzung festgelegt, die diese Woche stattfindet. Neben dem Bund werden dann auch der Sachverständigenrat, die Bundesbank sowie Wirtschaftsforschungsinstitute eigene Prognosen über die Höhe der Einnahmen abgeben, die dann zu einer gemeinsamen Schätzung kombiniert werden. Die Experten von CDU-Finanzminister Wolfgang Schäuble erwarten für 2012 Gesamtsteuereinnahmen in Höhe von 597 Milliarden Euro. Im nächsten Jahr wird der Geldfluss nach ihren Berechnungen sogar auf 618 Milliarden Euro steigen, hauptsächlich wegen der guten Konjunktur und höheren Lohnabschlüssen. Die Steuerschätzung findet jedes Jahr im Frühling und im Herbst statt. 19 D E R S P I E G E L 1 9 / 2 0 1 2 VANDERLEI ALMEIDA / AFP Deutschland Panorama NAHOST Westerwelle verprellt Palästinenser Die palästinensische Regierungsspitze fühlt sich von Außenminister Guido Westerwelle hinters Licht geführt. Der hatte bei einem Besuch in Ramallah Anfang Februar angekündigt, dass die palästinensische Generaldirektion in Berlin aufgewertet und von einem Botschafter geführt werden solle. Im Bundestag hatte er sogar von einer „diplomatischen Mission Palästinas“ gesprochen, was die Anerkennung eines palästinensischen Staates impliziert. Davon ist der Minister wieder abgerückt. In einer sogenannten Verbalnote des Auswärtigen Amtes an die palästinensische Regierung heißt es nun, der Leiter der palästinensischen Mission dürfe sich Botschafter nennen, falls die Palästinenser das wollten. Daraus ergäben sich aber „keinerlei zusätzliche Privilegien oder Immunität“. Die Regierung von Präsident Mahmud Abbas will nun darauf pochen, dass Westerwelle sein Versprechen auch umsetzt. Westerwelles Rückzieher hat wohl damit zu tun, dass Kanzlerin Angela Merkel die Aufwertung der palästinensischen Vertretung für verfrüht hält. Strongman-Wettkämpfer in Kalifornien DOPING Anabolika beim Fassweitwurf Die stärksten Athleten Deutschlands können Baumstämme werfen, Felsbrocken heben und Lkw ziehen. Die notwendige Kraft für diese drei Disziplinen wird den sogenannten Strongmen allerdings gelegentlich aus dem Chemielabor geliefert. Rund 450 Ampullen Anabolika, andere Präparate und Unterlagen haben Zollfahnder unter anderem bei einer Razzia in einer bayerischen Sportschule entdeckt, die als offizielles deutsches Kraftdreikampfleistungszentrum und als Strongman-Stützpunkt bekannt ist. Die Dopingmittel wurden in insgesamt 19 Studios und Wohnungen in Bayern und Sachsen sichergestellt. Zu den Verdächtigen zählen auch Athleten des Leistungskaders in der Disziplin Steinheben. Ihnen wird der Handel mit illegalen Muskelaufbaupräparaten vorgeworfen. Die Fahnder der Soko „Vitalis“ waren Mitte vergangenen Jahres auf die Beschuldigten in der Strongman-Szene aufmerksam geworden. Das Kräftemessen, das auch die Kategorie Fassweitwurf einschließt, war zunächst als TV-Spektakel in den USA konzipiert worden, hat sich aber als Sportart mit eigenen Wettkämpfen auch in Deutschland etabliert. Der Wunsch nach dicken Muskeln geht offenbar zu Lasten der wahren Manneskraft. Zwischen den Aufbaupräparaten fanden die Ermittler zudem eine größere Menge Potenzmittel. ZUMA PRESS / IMAGO Westerwelle, Abbas in Ramallah N O R D R H E I N -W E S T FA L E N Braunkohle noch in 40 Jahren An Rhein und Ruhr wird es auch über das Jahr 2050 hinaus die als besonders umweltschädlich geltenden Braunkohlekraftwerke geben. Das ist das Ergebnis einer Studie des Wuppertal Instituts für Klima, Umwelt, Energie im Auftrag des nordrhein-westfälischen Landesumweltministeriums. Die Forscher haben Zahlen von RWE ausgewertet und kommen zu dem Ergebnis, dass der Energiekonzern bis zum Jahr 2030 bis zu neun neue Kohlekraftwerke bauen könnte, die bis über das Jahr 2050 hinaus laufen würden. Kurz vor der Neuwahl in NRW befeuert das Gutachten grundsätzliche 20 D E R Meinungsverschiedenheiten zwischen den Koalitionspartnern SPD und Grüne über die richtige Energiepolitik für das Land. Die SPD überlegt nun sogar, neue Braunkohlekraftwerke speziell zu fördern. „Wir brauchen eine gesicherte Energieversorgung, bis genügend regenerativer Strom zur Verfügung steht“, sagt Fraktionschef Norbert Römer. Dafür habe man schließlich die einheimische Braunkohle. Den Grünen hingegen geht der Ausbau erneuerbarer Energiequellen viel zu langsam, Nordrhein-Westfalen hinkt bundesweit bei der Stromgewinnung aus Wind, Sonne, Wasser und Biomasse deutlich hinterher. Der grüne Umweltminister Johannes Remmel warnt: „Die Klimaschutzziele der Bundesregierung sind in Gefahr, wenn in NRW jahrzehntelang weiter auf die umweltschädliche Verbrennung von Braunkohle gesetzt würde.“ 1 9 / 2 0 1 2 S P I E G E L XINHUA / EYEVINE / PICTURE PRESS Deutschland E U R O PA Operation Selbstbetrug Interne Akten der Bundesregierung zeigen, dass der Euro von Beginn an unter Konstruktionsfehlern litt. So wurde Italien aufgenommen, obwohl der damalige Kanzler Helmut Kohl und seine Berater wussten, dass das Land nicht reif war. s war kurz vor seiner Abreise nach Gründen wurden Länder beteiligt, die Gründungsvätern bekannt waren. Doch Brüssel, als der Kanzler von der noch nicht reif dafür waren. Zudem kann die setzten sich schlicht darüber hinweg. Auf Antrag des SPIEGEL hat die BunGröße des Augenblicks übermannt eine gemeinsame Währung auf Dauer wurde. An diesem Wochenende werde nicht ohne eine politische Union funktio- desregierung erstmals Hunderte Seiten die „Wucht der Geschichte“ spürbar, ver- nieren. Viele Experten warnten bereits Dokumente aus den Jahren 1994 bis kündete Helmut Kohl, der Beschluss zur damals davor, dass etwas zusammenwach- 1998 zur Einführung des Euro und zur Aufnahme Italiens freigegeben: Berichte Währungsunion sei Anlass, „freudig ein sen sollte, was nicht zusammengehörte. Doch es waren nicht nur die Experten. der deutschen Botschaft in Rom, regieFest zu feiern“. Kurz darauf, am 2. Mai 1998, trafen Aus bislang unter Verschluss gehaltenen rungsinterne Vermerke und Briefe, handKohl und seine Kollegen eine folgen- Akten der Regierung Kohl geht hervor, schriftliche Protokolle von Kanzlergespräreiche Entscheidung. Elf Länder sollten dass die Defizite des Euro auch seinen chen. Die Papiere belegen, was bisder neuen, der europäischen lang nur vermutet wurde: ItaWährung angehören, darunter lien hätte nie in die WährungsDeutschland, Frankreich, die zone aufgenommen werden Benelux-Staaten – und Italien. dürfen. Nicht wirtschaftliche 14 Jahre später hat die GeKriterien entschieden über den schichte in der Tat eine außerBeitritt, sondern vor allem poordentliche Wucht entfaltet. litische Erwägungen. Und so Nur zum Feiern ist niemand war der Präzedenzfall geschafmehr aufgelegt. Als sich Kohls fen für eine viel größere FehlNachfolgerin Angela Merkel entscheidung zwei Jahre später: vor sechs Wochen in Rom mit die Euro-Mitgliedschaft Grieihrem italienischen Kollegen chenlands. Mario Monti traf, war die StimAnstatt zu warten, bis die mung düster. ökonomischen VoraussetzunWährend die Börsen bereits gen einer Gemeinschaftswähvoreilig das Ende der Euro-Krirung erfüllt waren, wollte Kohl se feierten, warnte die Kanzlerin: „Europa ist noch nicht Schreiben von Premier Prodi an Kanzler Kohl 1998: Zahlen geschönt beweisen, dass auch das geeinte Deutschland europäisch ausüber den Berg.“ Und sie vermugerichtet sei. Er stilisierte die tete, „dass sich in den nächsten neue Währung sogar zu einem Jahren immer wieder neue Ber„Stück Friedensgarant“. ge zeigen werden“. Ihr GastgeWenn es um Krieg und Frieber räumte ein, sein Land habe den geht, spielen Finanzdaten noch nicht einmal die Notfallnaturgemäß keine große Rolle. phase überwunden. Der Kampf Und so wurde der Fall Italien um die Währung sei eine „anzum Musterbeispiel für den undauernde Herausforderung“. erschütterlichen Glauben der Inzwischen ist klar, dass die Politik, irgendwann werde sich Sorgen der beiden Regierungsdie wirtschaftliche Entwicklung chefs berechtigt waren. In Spaschon den Visionen der Staatsnien stürzt die Wirtschaft weiund Regierungschefs fügen. ter ab, die Zinsen für südeuroUnkenntnis kann die Kohl-Repäische Staatsanleihen ziehen gierung allerdings nicht für sich wieder an, und die Wahlkämpreklamieren. Die Akten zeigen, fe in Frankreich und Griechendass sie bestens über die Hausland haben gezeigt, dass die haltslage Italiens informiert war. Bürger der Spardiktate überViele Sparmaßnahmen waren drüssig sind. Niemand kann siKosmetik, beruhten auf Bucher sein, dass die Währungschungstricks oder wurden sofort union auf Dauer überlebt. zurückgedreht, als der politische Der Euro leidet unter seinen Druck nachließ. Es war paradox. Geburtsfehlern. Aus politischen Interner Vermerk aus dem Kanzleramt 1998: Bestens informiert 22 D E R S P I E G E L 1 9 / 2 0 1 2 E Euro-Retter Merkel, Monti: „Europa ist noch nicht über den Berg“ Euro-Gründer Kohl, Prodi 1998: „Freudig ein Fest feiern“ D E R S P I E G E L 1 9 / 2 0 1 2 Während Kohl die Gemeinschaftswährung gegen alle Widerstände durchboxte, bestätigten seine Fachleute im Kern das Urteil des damaligen SPD-Kanzlerkandidaten Gerhard Schröder, der Euro sei eine „kränkelnde Frühgeburt“. Die Operation Selbstbetrug begann in einem Bürogebäude im holländischen Maastricht. Am Sitz der Provinzregierung von Limburg kamen im Dezember 1991 die europäischen Staats- und Regierungschefs zusammen, um eine Jahrhundertentscheidung zu treffen. Bis spätestens 1999 sollte der Euro eingeführt werden. Um die Stabilität der neuen Währung zu sichern, wurden strenge Beitrittskriterien vereinbart. Es sollten nur Länder zugelassen werden, deren Inflationsrate gering war, die ihre Neuverschuldung reduzierten und ihren Schuldenstand im Griff hatten. Die EU-Kommission und das Europäische Währungsinstitut (EWI) sollten die Entwicklung überprüfen. Die endgültige Entscheidung wollten die Chefs dann im Frühjahr 1998 treffen. Das Glück wollte es, dass Italien alle Bedingungen erfüllte, als das Datum näherrückte. Ausgerechnet Italien, das bislang vor allem als notorischer Defizitsünder aufgefallen war. Doch auf dem Papier hatte das Land eine wundersame Wandlung durchgemacht. Alles in Butter also? Im Bonner Kanzleramt war man misstrauisch. Im Februar 1997 notierte ein Beamter nach einem deutsch-italienischen Gipfel, die Regierung in Rom habe „zur großen Überraschung der deutschen Seite“ auf einmal behauptet, ihr Haushaltsdefizit sei geringer, als vom Weltwährungsfonds IWF und von der OECD, der Gruppe der Industriestaaten, angegeben. Kurz zuvor hatte ein Referatsleiter des Amtes in einem Vermerk geschrieben, das italienische Haushaltsdefizit sinke allein aufgrund neuer Buchungsregeln für Zinsen um 0,26 Prozentpunkte. Wenige Monate später meldete Jürgen Stark, Staatssekretär im Finanzministerium, die Regierungen Italiens und Belgiens hätten „entgegen der zugesagten Unabhängigkeit der Zentralbanken Druck auf ihre Zentralbankchefs ausgeübt“. Diese sollten offenbar dafür sorgen, dass die Kontrolleure des EWI die Schuldenstände der beiden Länder „nicht so kritisch ansprechen“. Anfang 1998 veröffentlichte das italienische Schatzamt so positive Daten über die finanzielle Entwicklung, dass sie sogar von einem Sprecher der Behörde als „erstaunlich“ bewertet wurden. In Maastricht hatten Kohl und seine Kollegen vereinbart, die Gesamtschuld eines Euro-Anwärters dürfe höchstens 60 Prozent seiner jährlichen Wirtschaftsleistung entsprechen – „es sei denn, das Verhältnis ist hinreichend rückläufig und nähert sich rasch genug dem Referenzwert“. Die italienische Verschuldung betrug allerdings das Doppelte. Dem Referenz23 SÜDDEUTSCHER VERLAG / AP / DAPD JESCO DENZEL / BUNDESPRESSEAMT / DPA Deutschland wert näherte sich das Land nur im Schneckentempo. Zwischen 1994 und 1997 ging die Schuldenquote gerade einmal um drei Prozentpunkte zurück. „Ein Schuldenstand von 120 Prozent bedeutete, dieses Konvergenzkriterium nicht erfüllen zu können“, sagt Stark heute. „Die politisch relevante Frage war aber: Kann man Gründungsmitglieder der EWG draußen vor lassen?“ Für die Regierungsexperten war die Antwort lange Zeit klar. „Bis weit ins Finanzminister Waigel 1998 Jahr 1997 glaubten wir im Finanzministe- „Kein Grund, den Beitritt zu verweigern“ rium nicht, dass Italien die Konvergenzkriterien schaffen würde“, sagt Klaus Reg- Als Vorbereitung für ein Treffen mit einer ling, damals Abteilungsleiter der Behörde italienischen Regierungsdelegation am 22. und heute Chef des europäischen Ret- Januar hielt Staatssekretär Stark fest, die „Dauerhaftigkeit solider öffentlicher Fitungsschirms EFSF. Die Skepsis spiegelt sich in den Akten. nanzen“ sei „noch nicht gewährleistet“. Mitte März meldete sich Horst Köhler Am 3. Februar 1997 vermerkte das Bonner Finanzministerium, in Rom seien beim Kanzler. Der deutsche Chefunter„wichtige strukturelle Einsparmaßnah- händler für den Maastricht-Vertrag war men unter Rücksichtnahme auf den so- inzwischen Präsident des Deutschen Sparzialen Konsens fast völlig unterblieben“. kassen- und Giroverbandes. Seinem Brief Am 22. April stand in einem Sprechzettel hatte er eine Studie des Hamburger Weltfür den Kanzler, es gebe „kaum Chan- Wirtschafts-Archivs beigelegt, wonach cen“, dass „Italien die Kriterien erfüllt“. Italien die Bedingungen „für einen dauAm 5. Juni berichtete die Wirtschafts- erhaften Defizit- und nachhaltigen Schulabteilung des Kanzleramts, Italiens denabbau“ nicht erfüllt habe und für den Wachstumsaussichten seien „mäßig“, und Euro „ein besonderes Risiko“ darstelle. Doch Kohl ließ seinen einstigen Verdie Konsolidierungsfortschritte würden trauten abblitzen. Die Europäer müssten „überschätzt“. An diesem Urteil hatte sich auch im ihre Strukturreformen natürlich fortsetentscheidenden Jahr 1998 nichts geändert. zen, antwortete er, doch er sei zuversichtlich, dass sich die Regierungen dieser Herausforderung „in den nächsten Jahren stellen“ würden. Beim EU-Sondergipfel Anfang Mai 1998 in Brüssel spürte Kohl dann die „Wucht der Geschichte“ – und stimmte anstandslos zu. „Bitte nicht ohne die Italiener. Das war das politische Motto“, sagt Joachim Bitterlich, der außenpolitische Berater des Kanzlers. Die nun öffentlich gemachten Akten legen den Verdacht nahe, dass die KohlRegierung in der Italien-Frage nicht nur die Öffentlichkeit, sondern auch das Bundesverfassungsgericht getäuscht hat. Vier Professoren hatten damals gegen die Einführung des Euro geklagt. Die Klage sei „offensichtlich unbegründet“, erwiderte die Regierung vor Gericht, nur bei einer „groben Abweichung“ von den Maastricht-Kriterien habe sie eine Berechtigung, und eine solche Abweichung sei „weder erkennbar noch zu erwarten“. Tatsächlich? Nach einer Besprechung des Kanzlers mit seinem Finanzminister Theo Waigel und Bundesbankchef Hans Tietmeyer über das Verfahren in Karlsruhe notierte der Leiter der Wirtschaftsabteilung, Sighart Nehring, Mitte März 1998, mit den „hohen Schuldenständen“ Italiens seien „enorme Risiken verbunden“. Die Schuldenstruktur sei „ungünstig“, schon bei geringem Zinsanstieg würden die Ausgaben deutlich steigen. Der Vermerk blieb folgenlos. So genau wollte es der Kanzler offenbar nicht wissen. In der Politik gab es gegenüber den Maastricht-Kriterien „eine eingebaute Flexibilität“, erinnert sich Dieter Kastrup, damals Botschafter in Rom. Italien war schließlich europäisches Gründungsmitglied, in Brüssel hatten sich die Italiener nie so aufgeführt wie die Franzosen unter Präsident Charles de Gaulle oder die Briten unter Margaret Thatcher. Und schließlich – hatte nicht Goethe schon für Italien geschwärmt? „Wir alle teilten eine gewisse Liebe zu Italien“, erinnert sich Bitterlich. So richteten sich die Hoffnungen in Bonn auf zwei Männer, die ausgezogen waren, in Italien aufzuräumen: Regierungschef Romano Prodi, ein leise auftretender Professor aus Bologna, und seinen asketischen Schatzminister Carlo Ciampi, der jahrelang der italienischen Zentralbank vorgestanden hatte. Die beiden Technokraten waren an die Macht gekommen, nachdem das alte italienische Parteiensystem in einem Strudel aus Korruption und Mafia-Verbindungen untergegangen war. 1996 gewann Prodi mit seinem Mitte-links-Bündnis „Ulivo“ („Olivenbaum“) die Wahl. Der „Schwarze Riese“ aus Bonn hatte von Anfang an einen Narren an dem kleinen, liberalen Professor gefressen. Und auch Ciampi, ein Jesuitenschüler aus der Toskana, genoss bei den Deutschen einen Dauersünder Italiens Staatshaushalt und Euro-Stabilitätskriterien, in Prozent des BIP Einführung des Euro als Buchwährung Endgültige Einführung des Euro Der Einbruch der Wirtschaft lässt die Schuldenlast ansteigen, steigende Zinsen verschärfen Italiens Probleme. 120 110 100 90 Staatsschulden 80 laut Euro-Stabilitätskriterien maximal 60% des BIP 70 60 92 94 96 98 2000 02 04 06 08 10 12 * 13 * –3 –6 Haushaltsdefizit –9 laut Euro-Stabilitätskriterien maximal 3 % des BIP D E R S P I E G E L * Prognose Quelle: EU-Kommission 24 1 9 / 2 0 1 2 ULLSTEIN BILD Kohl und Waigel machten mildernde guten Ruf. „Ohne Ciampi hätte es Italien ternationalen Vergleich besonders stark Umstände geltend. Ohne die deutsche niemals geschafft, schon beim Beginn der gesunkenen Marktzinsen beruhe. Wenige Wochen später wandten sich Wiedervereinigung läge die SchuldenquoWährungsunion dabei zu sein“, sagt ExVertreter der niederländischen Regierung te nur bei 45 Prozent, argumentierten sie. Finanzminister Waigel. Das Land trieb damals „dem finanziel- ans Kanzleramt und baten um ein „ver- Sowohl bei der EU-Kommission als auch len Bankrott entgegen“, schreibt der His- trauliches Gespräch“. Der Generalsekre- den Partnerländern sei die Ausrede „auf toriker Hans Woller. Wer ein Unterneh- tär des Ministerpräsidenten und ein Verständnis gestoßen“, notierten die Bemen gründen wollte, brauchte allein für Staatssekretär aus dem Finanzministeri- amten erleichtert. Wer sündigt, kann schlecht den Richter die Behördengänge mehr als 60 Tage. Mit- um verlangten, Rom unter Druck zu settags bekamen Italiener keine Zeitungen, zen: „Ohne zusätzliche Maßnahmen Ita- spielen, erst recht nicht, wenn dem Anweil sie nur an Kiosken verkauft werden liens, die glaubhaft die Dauerhaftigkeit geklagten formal kein Verschulden nachdurften, doch die hatten am Mittag ge- der Konsolidierung nachweisen, sei eine zuweisen ist. Im Frühjahr 1998 bescheinigte die zuschlossen. Es gab mehr Rentner als Er- Aufnahme von Italien in die Euro-Zone ständige europäische Statistikbehörde werbstätige, und von den statistisch er- gegenwärtig nicht akzeptabel.“ Kohl lehnte ab. Er hatte Angst um sein den Italienern, sie hätten das Defizitkrifassten 1,5 Millionen Schwerbehinderten wichtigstes Projekt seit der deutschen Ein- terium des Maastricht-Vertrags erfüllt. erfreuten sich viele bester Gesundheit. Im Vergleich zu ihren Vorgängern hat- heit. Werde Italien der Zutritt verwehrt, Damit habe es „keinen Grund mehr geten Ciampi und Prodi durchaus Erfolge hatte ihn die Regierung in Paris gewarnt, geben, den Italienern den Beitritt zum Euro zu verweigern“, erinnert sich Waivorzuweisen. Mit Reformen und Spar- wolle auch Frankreich aussteigen. Die Deutschen waren in einer schwa- gel. Nachdem diese Hürde von den Itamaßnahmen drückten sie die Neuverschuldung und senkten die Inflation. chen Verhandlungsposition. Wenn es um lienern genommen war, „hatten sie eine Art Rechtsanspruch darDoch die Probleme waren auf, beim Euro von Beginn größer. Niemand wusste an mitmachen zu dürfen“, das so gut wie die Regiesagt Waigels Ex-Spitzenrung selbst. Und so schlubeamter Regling heute. gen die Italiener im Verlauf Viele wussten: Die Zahl des Jahres 1997 zweimal war geschönt, und von echvor, den Euro-Start zu vertem Schuldenabbau konnschieben. Die Deutschen te keine Rede sein. Doch lehnten ab. Das sei „ein niemand wagte es, daraus Tabu“ gewesen, sagt Kanzdie Konsequenzen zu zielerberater Bitterlich, man hen. Kohl vertraute den habe auf Ciampi gehofft: wohlklingenden Beteue„Er war für alle in gewisser rungen Ciampis, der verWeise Garant Italiens, er sicherte, man werde den würde es richten!“ eingeschlagenen „cammiSicher ist freilich auch, no virtuoso“ („Tugenddass Kohl die Währungsunipfad“) weiter befolgen und on unbedingt vor der Bun„bei den Sanierungsbemüdestagswahl 1998 festzurren hungen nicht nachgeben“. wollte. Seine Wiederwahl Spätestens 2010, prognoswar gefährdet und sein tizierte die Regierung in Herausforderer, der SozialRom, werde der Schuldendemokrat Schröder, ein be- Irische Merkel-Karikatur: Oberlehrer Deutschland stand bei 60 Prozent liegen. kennender Euro-Skeptiker. Es kam anders. Bereits im April 1998 – Am Ende erfüllten die Italiener, mit ei- Haushaltsdisziplin ging, traten sie zwar ner Kombination aus Tricks und glück- europaweit als Oberlehrer auf, doch ihre also noch vor der offiziellen Entscheidung lichen Umständen, die Maastricht-Krite- eigenen Etat-Kennziffern waren alles an- über die Euro-Teilnehmer – mehrten sich die Anzeichen, dass Prodis Koalitionsrien formal. Das Land profitierte von dere als vorbildlich. Zwar lag Deutschlands Schuldenstand partner, die Neo-Kommunisten, nur dareinem historisch niedrigen Zinsniveau. Zudem erwies sich Ciampi als kreativer nur geringfügig über dem kritischen Wert auf warteten, zu den alten Gewohnheiten von 60 Prozent. Doch anders als in fast zurückzukehren. Am 3. April warnte die Finanzjongleur. So führte der Schatzminister eine „Eu- allen anderen Ländern, die in der ersten deutsche Botschaft in Rom, dieses Risiko ropasteuer“ ein und versuchte einen cle- Runde der Währungsunion dabei sein sei „nicht zu vernachlässigen“. Drei Monate später, als sich Italien veren Bilanzkniff. Er verkaufte nationale wollten, ging die Gesamtverschuldung Goldreserven an die Zentralbank und er- nicht zurück, wie es der Vertrag verlangte die Euro-Teilnahme gesichert hatte, war es so weit. Am 10. Juli 1998 meldete hob auf den Gewinn Steuern. Das Haus- – sie stieg weiter an. Den Fachleuten des Kanzleramts war Botschafter Kastrup besorgt nach Bonn, haltsdefizit sank entsprechend. Auch wenn die EU-Statistiker diese das Problem bewusst. „Im Gegensatz zu in Italien herrschten „Stagnation“ und Trickserei später nicht anerkannten, war Belgien und Italien ist der deutsche Schul- „Erschöpfung“. Die Regierung habe sie ein Symbol für das italienische Grund- denstand seit 1994 angestiegen“, schrie- „nach dem außerordentlichen Kraftproblem: Der Haushalt war nicht struk- ben sie am 24. März 1998 in einem Ver- akt des Erreichens der Maastricht-Kriteturell saniert, sondern profitierte vor al- merk an Kohl und Amtschef Friedrich rien eine gewisse Verschnaufpause einBohl. Die Konsequenzen waren unschön. gelegt“. lem von Sondereffekten. Die Pause wurde zum Normalzustand. Das blieb auch dem Kanzleramt nicht „Da der Maastrichter Vertrag eine Ausverborgen. Am 19. Januar 1998 wies Bit- nahme nur vorsieht, wenn der Schulden- Anfang August gestand das italienische terlich in einem Vermerk darauf hin, dass stand rückläufig ist, liegt unseres Erach- Finanzministerium ein, das Haushaltsdedie Defizitreduzierung vor allem auf der tens im Fall von Deutschland ein rechtli- fizit in den ersten sieben Monaten sei höher ausgefallen als im Vorjahreszeitraum, Sondersteuer für Europa und den im in- ches Problem vor.“ SCHRANK / CAI / NEW YORK TIMES D E R S P I E G E L 1 9 / 2 0 1 2 25 Deutschland der entscheidend für die Aufnahme in den Euro-Club war. Noch hatte Stephan Freiherr von Stenglin, der Finanzattaché an der deutschen Botschaft in Rom, den Glauben an Roms Sparbereitschaft nicht vollständig verloren: „Ein Verfehlen des diesjährigen Defizitziels dürfte der Glaubwürdigkeit der italienischen Konsolidierungspolitik erheblichen Schaden zufügen.“ Im Kanzleramt notierten sie neben diesem Satz ein dickes Ausrufezeichen. Doch inzwischen hatte die heiße Phase des Bundestagswahlkampfs begonnen. In der Schlacht zwischen Kohl und seinem Herausforderer Schröder ging es um Innenpolitik – und nicht um den Euro. Das änderte sich auch nicht nach der Wahl, mochte Finanzattaché Stenglin auch noch so alarmierende Botschaften nach Bonn senden. Am 1. Oktober lieferte er auf mehreren Seiten eine schonungslose Analyse der italienischen Finanzpolitik, die er hinter der harmlosen Betreffzeile „Italienische Regierung billigt Entwurf für den Haushalt 1999“ versteckte. Stenglin, der von der Bundesbank für den Posten in Rom abgestellt worden war, sah, dass die Entwicklung in Italien in eine völlig falsche Richtung lief. Der Etatentwurf der italienischen Regierung bedeute eine „qualitative Wende in der Haushaltspolitik“, meldete er nach Bonn. Das Budget weise die niedrigsten Einsparbeträge seit Beginn des Konsolidierungskurses Anfang der neunziger Jahre aus. Zusätzliche Steuereinnahmen würden nicht mehr nur zum Abbau des Defizits, sondern auch zur Finanzierung neuer Ausgaben herangezogen, unter anderem im Sozialbereich. Die Regierung könne den Eindruck nicht vermeiden, so Stenglin, dass es ihr „eher um eine Abkehr vom strengen Konsolidierungskurs der vergangenen Jahre geht, als dass sie alles tut, um die Zweifel an einer tragfähigen Lage der öffentlichen Finanzen Italiens auszuräumen“. Als Prodi kurze Zeit später durch den Ex-Kommunisten Massimo d’Alema ersetzt wurde, kam es noch schlimmer. D’Alema regte an, ein europäisches Konjunkturprogramm über Euro-Bonds zu finanzieren und die Ausgaben dafür nicht auf die nationalen Defizite anzurechnen. Die neue rot-grüne Bundesregierung lehnte das ab. Doch in Rom hatte sich die neue Linie durchgesetzt, wie Stenglin am 18. November nach Bonn kabelte. Der Beamte wies darauf hin, dass Mitglieder der italienischen Regierung forderten, die Haushaltskonsolidierung zu strecken, den Stabilitätspakt flexibler zu interpretieren und Italien „von den Fesseln des Maastrichter Vertrages“ zu lösen. Wenige Wochen vor dem Start des gemeinsamen europäischen Geldes bewertete Stenglin die Lage mit dramatischem Unterton: „Es stellt sich die Frage, ob ein 26 Land, das eine extrem hohe Schuldenquote aufweist, nicht Gefahr läuft, das durch den bisherigen Konsolidierungserfolg erworbene Vertrauen zu verspielen – und damit nicht nur sich selbst, sondern auch der Währungsunion zu schaden.“ Es war ein prophetischer Satz. Im Herbst 2011, als das Land in den Krisenstrudel geriet, lag der Schuldenstand wieder bei über 120 Prozent. Kurt Biedenkopf (CDU) hat das Dilemma, in dem sich die Währungsunion heute befindet, bereits vor der Euro-Einführung kommen sehen. Der damalige Ministerpräsident Sachsens stimmte als einziger ANZEIGE Länderchef im Bundesrat der Währungsunion nicht zu. „Europa war nicht reif für diesen epochalen Schritt“, sagt Biedenkopf heute. Die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit der Länder sei zu unterschiedlich gewesen. „Die meisten Politiker in Deutschland dachten, dass der Euro trotzdem ohne gemeinsame Institutionen und ohne finanzielle Transfers funktioniert – das war naiv.“ Mittlerweile bemühen sich Europas Regierungschefs, die Mängel der EuroGründungsphase zu beseitigen. In weiten Teilen Europas wird gespart und reformiert. Und alle Länder bekräftigen die D E R S P I E G E L 1 9 / 2 0 1 2 gemeinsame Verantwortung für die Währung. Doch die neue Euro-Architektur sieht nicht viel anders aus als die alte. Damals glaubte die Bonner Regierung, es sei ausreichend, strenge Schuldenkriterien in einem Vertrag festzuschreiben und auf die Vernunft aller Mitglieder zu setzen, die notwendigen Strukturreformen umzusetzen. Heute soll Europas neuer Fiskalpakt zu solider Haushaltsführung und Reformfreude erziehen. Das Verfahren, das die erste Belastungsprobe nicht bestanden hatte, wurde also nur geringfügig modernisiert. Eine zentrale Institution aber, die die notwendige Disziplin erzwingen könnte, gibt es noch immer nicht. Nach wie vor werden im Kreis der europäischen Regierungschefs Sünder über Sünder richten. Dass diese Konstruktion nicht funktionieren kann, zeigen die Regierungsakten aus der Gründungsphase der Währungsunion. Im Zweifel, so die Botschaft der Dokumente, gewinnt die politische Opportunität. Eine Währungsunion ist mehr als das Hin- und Herschieben von einigen Milliarden Euro. Sie ist immer auch eine Schicksalsgemeinschaft. Gemeinsames Geld braucht eine gemeinsame Politik und am Ende gemeinsame Institutionen. Im 14. Euro-Jahr und nach zwei Jahren Dauerkrise wächst in Berlin und anderen Hauptstädten langsam die Einsicht, dass es so wie bisher nicht weitergehen kann. Noch gleichen alle Reformanstrengungen Trippelschritten ins Nirgendwo, doch die Krisenpolitiker beginnen, in größeren Kategorien zu denken. Der neue Fiskalpakt bringt noch nicht die schnelle Lösung, und so entwickeln die Europapolitiker neue Visionen, und alte Tabus fallen. Während sich die Südländer und auch Frankreich mit einer Schuldenbremse nach deutschem Vorbild arrangieren, hat die Bundesregierung nichts mehr gegen eine Wirtschaftsregierung in der EuroZone einzuwenden. Früher reagierte sie auf diese französische Idee allergisch. Finanzminister Wolfgang Schäuble (CDU) denkt darüber nach, den EU-Finanzkommissar zu einem europäischen Finanzminister aufzuwerten, der die Haushalte der Euro-Staaten überwacht und im Zweifel hineinregieren darf. All diese Maßnahmen laufen darauf hinaus, dass die Staaten mehr Kompetenzen abgeben und die Zentrale in Brüssel entsprechend mehr Macht erhält. Wenn die Mitglieder der Währungsunion rasch nachholen, was sie vor ihrem Start in das Euro-Abenteuer vernachlässigt haben, kann das Jahrhundertprojekt noch gelingen. Aber je länger die notwendigen Reformen hinausgezögert werden, desto teurer wird die Reise – auch für Deutschland. SVEN BÖLL, CHRISTIAN REIERMANN, MICHAEL SAUGA, KLAUS WIEGREFE FDP-Politiker Bahr Aus dem PR-Coup wurde nichts Konjunktur zwar noch gut gefüllt. Der Unternehmensberatung McKinsey zufolge wird das Geld jedoch bereits im kommenden Jahr knapp. Und 2014 wird es ganz schlimm: Dann droht ein milliardenschweres Defizit. Ähnlich sehen interne SchätWeil Ressortchef Daniel Bahr zungen der Kassen aus. Die Kostenexplosion hat viele Gründe. unbeirrt Millionen an Ärzte und Da sind auf der einen Seite die Ärzte, die Kliniken verteilt, explodieren im sich für notorisch unterbezahlt halten und System die Kosten. Bei den deswegen alles dafür tun, um mehr Geld Krankenkassen wächst der Unmut. aus dem System zu pressen. Nach Angaben der Kassen steigen die Honorare für ür Daniel Bahr lief es in der vergan- niedergelassene Ärzte in diesem Jahr um genen Woche nicht so toll. Da hatte 600 Millionen Euro. Und das ist erst der der Gesundheitsminister eine hüb- Anfang. Im Sommer sind neue Verhandsche Idee, wie er den Krankenkassen läs- lungen mit den Kassenärzten geplant – tige Ausgaben ersparen kann. Experten und bei solchen Gesprächen treten sie trasind schon lange der Meinung, dass viele ditionell mit Milliardenforderungen an. Im Moment spricht wenig dafür, dass der jährlich rund 370 000 Knie- und Hüftoperationen in Deutschland unnötig sind. sich Bahr den Begehrlichkeiten widerWarum also nicht auf die Kostenbremse setzt und sich einmal nicht als Minister treten? Doch aus dem erhofften PR-Coup Mutlos entpuppt. Im nächsten Jahr sind Bundestagswahlen, und da will es sich wurde leider nichts. „Wird Senioren bald nicht mehr jede Bahr mit den Ärzten nicht verscherzen. Auch die Kosten der KlinikbehandlunOP bezahlt?“, fragte die „Bild“-Zeitung vergangenen Donnerstag. Neben der gen sind für Bahr ein Problemfall. Sie Überschrift prangte das Konterfei des werden Schätzungen zufolge in diesem FDP-Mannes, schmallippig und grimmig. Die Senioren-Union der CDU warnte erbost vor „einer Selektierung älterer Men- Klingende Kassen schen“. Es waren Alptraum-Schlagzeilen Durchschnittliche Beitragssätze 15,5 für einen Politiker, besonders in Zeiten in der gesetzlichen des Wahlkampfes. Krankenversicherung, Bahr stellte eilig klar: Von Sparrunden in Prozent könne keine Rede sein. Und um das zu 14 beweisen, verkündete er, dass sich die Krankenhäuser in Deutschland stattdessen über zusätzliches Geld freuen dürften. 12 280 Millionen Euro sollen es sein. Dabei gäbe es für den Liberalen keine dringlichere Aufgabe, als die Kosten im 11,4 Gesundheitssystem in den Griff zu bekom10 men. Der Gesundheitsfonds, die Geldsam- Quelle: Statistisches Landesamt Baden-Württemberg 1990 2000 2012 melstelle der Kassen, ist dank der guten 1980 GESUNDHEIT Minister Mutlos F Jahr um 2,5 Milliarden Euro steigen und das Rekordhoch von insgesamt 63 Milliarden erreichen, so hat es der Spitzenverband der Krankenkassen ausgerechnet. Am peinlichsten aber ist für den Minister, dass es ihm auch nicht gelingt, die Ausgaben für Medikamente einigermaßen im Lot zu halten. Es war das Versprechen der FDP, endlich die Macht der Pharma-Lobby zu brechen, die über Jahrzehnte prächtig am deutschen Kassenpatienten verdiente. Anfangs sah es sogar ganz gut aus. Bahrs Vorgänger Philipp Rösler hatte den Arzneimittelherstellern durch Zwangsrabatte einen Schlag versetzt. Deren Wirkung ist aber mittlerweile verpufft, und ob die weiteren Sparpläne der Regierung aufgehen, ist ungewiss. Mittlerweile müssen die Hersteller nachweisen, dass ihre Medikamente besser wirken als Konkurrenzprodukte – nur dann dürfen sie einen höheren Preis verlangen. Was die Arzneimittel am Ende kosten, muss veröffentlicht werden. Pharmakritische Experten befürworten diese Neuerung. Allerdings arbeitet eine Armada von Industrielobbyisten daran, die Regelungen doch noch auszuhebeln, bei den Unionsparteien haben sie schon Gehör gefunden. Transparente Preise finden CDU und CSU mittlerweile auch nicht mehr gut. So steht im Moment nur fest, dass auch bei den Medikamenten fast alles teurer wird. Allein in den ersten drei Monaten des Jahres 2012 sind die Ausgaben um 4,5 Prozent auf rund sieben Milliarden Euro gestiegen. Der Ärger der Kassen über den Gesundheitsminister wächst. „Die Bundesregierung tut in ihren Sonntagsreden so, als würde sie die Finanzen stabilisieren“, sagt Uwe Deh, Vorstandsmitglied des AOK-Bundesverbands. „Im Alltag lassen entsprechende Taten noch auf sich warten.“ Auch Doris Pfeiffer klagt, dass „praktisch überall“ die Ausgaben nur gestiegen seien. „Gerade vor diesem Hintergrund ist es vernünftig, die Überschüsse aus dem vergangenen Jahr zu sichern und für die künftige Versorgung der Versicherten zurückzulegen“, sagt die Chefin des Spitzenverbands der gesetzlichen Krankenkassen. Pfeiffer weiß, wie drastisch sich Bahrs mutlose Politik auf den einzelnen Kassenpatienten auswirken kann. Um gut ein Drittel ist der Beitragssatz der gesetzlichen Krankenkassen seit 1980 gestiegen. Allein der medizinische Fortschritt und die alternde Gesellschaft können daran nicht schuld sein. Der Großteil des Geldes fließt an Pharma-Konzerne, Apotheker und Ärzte. Je einflussreicher die Lobby, desto höher der Gewinn. KATRIN ELGER CHRISTIAN THIEL/DER SPIEGEL D E R S P I E G E L 1 9 / 2 0 1 2 27 Deutschland OLIVER BERG / DPA CDU-Spitzenkandidat Röttgen: „Bisschen heiß vielleicht – ich warte lieber noch etwas“ NRW Mucksmäuschenstill Umweltminister Norbert Röttgen wollte in Berlin hoch hinaus, nun muss er in den Wahlkampf an Rhein und Ruhr ziehen – mit seltsamer Distanz zum Volk. Von Markus Feldenkirchen r sieht die Gefahr bereits aus den Augenwinkeln, sie zuckelt in einem schlaffen Brötchen auf ihn zu und ist mit ordentlich Senf bestrichen. Es gibt kein Entrinnen. „Se möschten doch sischer auch ein Würstschen, Herr Röttgen“, sagt die Dame von der örtlichen CDU. Sie steht jetzt vor ihm und hält ihm das wippende Stück Fleisch vors Gesicht. Es ist ein besonders fettiges Würstchen, eine Zumutung, besonders für Röttgen. Der Kandidat sitzt auf einer Bierbank vor dem Alten Feuerwehrhaus von Netphen, einer Mittelstadt im Siegerland. Gerade hat er seine Wahlkampfrede gehalten, nun steht gemütliches Beisammen28 E sein auf dem Programm, Bürgernähe. Für Röttgen die eigentliche Herausforderung. Wollte man ihm eine Freude machen, müsste man ihm jetzt einen frischgepressten O-Saft anbieten oder ein Birchermüsli. Aber die Politik hat ihre eigenen Gerichte. Die Rostbratwurst ist bis heute das wirkungsmächtigste Symbol für Volksnähe. Ein Politiker, der sich der Wurst verweigert, gilt als abgehoben, als einer, der sich zu fein ist für das gemeine Volk. Man mag diese Rituale für albern oder altmodisch halten, ignorieren aber kann selbst Röttgen sie nicht. Der Spitzenkandidat der CDU in Nordrhein-Westfalen steht schon seit langem D E R S P I E G E L 1 9 / 2 0 1 2 unter Schnöselverdacht. Röttgen mag Fremdwörter und gutsitzende Anzüge, seit einiger Zeit sitzt ihm auch noch eines dieser durchsichtigen Brillengestelle auf der Nase, die bevorzugt in Werbeagenturen getragen werden. Die Wurst wäre eine Chance, gegenzusteuern. „Ach, das ist aber sehr nett“, sagt Röttgen und greift nach dem Brötchen. Er versucht zu lächeln. „Die Würste müssen weg“, sagt die Dame. Es ist die Ansage, endlich hineinzubeißen. „Und?“, fragt sie, als der Kandidat es endlich getan hat. Röttgen nickt. „Schön lecker, oder?“ „Doch, doch, sehr gut.“ Die Dame lächelt zufrieden. „Bisschen heiß vielleicht“, schiebt der Kandidat hinterher, „ich warte lieber noch etwas.“ Dass Norbert Röttgen, 46, an einem Samstagvormittag in Netphen, bestehend aus Obernetphen und Niedernetphen, auf einer Bierbank sitzen und Rostbratwurst essen muss, gehörte nicht zu seinem Karriereplan. Nach allem, was sein Umfeld über ihn berichtet, hatte er als nächste Stufe den Vorsitz der CDU im Visier, Andreas Krautscheid glaubt, die Hälfte Röttgens eigentlicher Kampf um Nordwenn nicht gar das Kanzleramt. Der Landtag von Nordrhein-Westfalen war rhein-Westfalen beginnt im Herbst 2009, der Stimmen im Wahlgremium sicher zu es ist ein Kampf ohne Rücksichten. Nicht haben, 8 von 16. Doch kurz vor der jedenfalls nicht vorgesehen. Abstimmung meldet sich die BunNun kann man Röttgen bei einem Ex- mal auf enge Freunde. Andreas Krautscheid sitzt im Berliner destagsabgeordnete Elisabeth Winkelperiment beobachten. Es war bekannt, dass er jederzeit die Welt zu retten in der Café Einstein und löffelt Joghurt mit meier-Becker bei ihm, sie druckst herum, Lage ist – zumindest rhetorisch. Mit sei- Früchten. Er kennt Röttgen seit dem Stu- dann erklärt sie, dass sie für Röttgen nem gepflegten Auftreten hatte er sich dium, viele Jahre lang teilten sie eine WG stimmen werde. Dabei hatte Krautscheid zudem eine treue Fangemeinde aus eini- in der Bonner Adolfstraße, gemeinsam fest mit ihrer Unterstützung gerechnet, gen Hauptstadtjournalisten aufgebaut. stiegen sie in der Jungen Union auf, ge- mit seiner Hilfe war sie BundestagsabOb er auch bei den Wählern ankommt, meinsam zogen sie 1994 in den Bundestag geordnete geworden, er hatte sie als ob er einen guten Spitzenkandidaten ab- ein. Mit dem Aachener Armin Laschet Kreisvorsitzende vorgeschlagen. So erund anderen JU-Gefährten bildeten sie zählt man es sich jedenfalls in der örtgibt, das wusste man bislang nicht. Gut möglich also, dass sich in Netphen eine verschworene Gemeinschaft gegen lichen CDU. Gesichert ist, dass die und anderswo gerade ein paar Fragen klä- die Älteren in der Fraktion, gemeinsam Abstimmung mit 9:7 für Röttgen endet. ren, die weit über Rhein und Ruhr hinaus- riefen sie die Pizza-Connection ins Leben Und dass Jürgen Becker, der Ehemann weisen. Fragen, die nicht unwichtig sind und trafen sich mit jungen Abgeordneten der Abtrünnigen Winkelmeier-Becker, für die Zukunft der CDU, vielleicht sogar der Grünen. Viele Jahre waren Röttgen, kurz darauf Staatssekretär in Röttgens für die Zukunft des Landes: Beherrscht Krautscheid und Laschet unzertrennlich. Umweltministerium wird. „Außer dass die Abstimjener Mann, dem große mung für mich ausgegangen Ambitionen auf das Kanz- Umfrage NRW ist, kann ich mir nichts vorleramt nachgesagt werden, „Wenn Sie Hannelore Kraft und Norbert Röttgen miteinander vergleichen: werfen“, sagt Röttgen, wenn die Kunst des Wahlkampfs? Wer von beiden … man ihn heute auf diese An der Seite von Angela … setzt sich stärker Wahl anspricht. „Wer keiMerkel marschiert der Kanfür soziale Gerechtigkeit ein?“ nen Ehrgeiz und kein Machtdidat über den Bonner … ist mit den Problemen der streben hat, ist in der Politik Markt Richtung Bühne. Die Bürger besser nicht gut aufgehoben.“ Ordner haben ein Spalier … hat größeren wirtvertraut?“ Krautscheid möchte nichts aus Seilen gespannt, es soll schaftspolitischen Unanständiges über Röttgen die Kanzlerin und ihn vor Sachverstand?“ 50 % sagen, seine Partei befindet den Besuchern schützen. 40 % sich im Wahlkampf, sie ist Sie laufen ein paar Meter 30 % noch immer seine zweite nebeneinander, dann schert 20 % Familie. Die Enttäuschung Merkel aus und steuert auf … versteht über den einstigen Gefährdie vielen Hände zu, die mehr von … ist symsich ihnen entgegenrecken. Haushaltspathischer?“ ten aber schimmert in jedem zweiten Satz durch. „Wir Röttgen scheint irritiert, er und Finanz waren 25 Jahre dicke Freunsteht nun allein in der Mitte politik?“ de“, sagt er nur. des Korridors und beobachDass die Politik kein guter tet, wie herzlich die KanzleOrt für Freundschaften ist, rin mit dem Volk umgeht. Es war schon vor Röttgen bedauert einige Sekunden, kannt; auch dass Kaltblütigdann bewegt auch er sich … ist … macht keit beim politischen Aufauf das Seil zu und schüttelt die stärkere in der stieg hilft. Bei Röttgen aber ein paar Hände. Im VerFührungsÖffentlichkeit verwundert sie, weil vieles gleich zu Röttgen wirkt persönlichkeit?“ die bessere Figur?“ … ist glauban ihm so sanft und geselbst Merkel wie eine Menwürdiger?“ schmeidig wirkt, die Sprechschenfischerin. Norbert Röttgen Hannelore Kraft weise, die Formulierungen, Am Rednerpult möchte Infratest dimap für den WDR vom 17. bis 19. April; 1001 Wahlberechtigte in Nordrhein-Westfalen; die Bewegungen, der Look. der Kandidat den Bonnern an 100 fehlende Prozent: Spontan: „keiner von beiden“ /„weiß nicht“/ keine Angabe Weil er sich gern als Feinspäter erklären, wie viel er geist präsentiert, der auf die als Umweltminister in Berlin Voriges Jahr stieg Krautscheid aus der Kraft des Arguments vertraut in diesem für die Stadt am Rhein getan hat. „Allein aus meinem Zuständigkeitsbereich, ääh Politik aus, er arbeitet jetzt für den Ban- Meer der Grobschlächtigkeit. Ein Jahr nach dem Bezirksvorsitz kan...“ Er stockt, nein, das muss er jetzt ja kenverband. Er sagt, es sei gut, wie es ist. anders sagen, „... allein aus meinem bis- Krautscheid war selbst kein Engel, er didiert Röttgen auch für den Landesherigen Zuständigkeitsbereich sind drei kennt die Tricks des politischen Geschäfts, vorsitz, sein Konkurrent heißt Armin auch die schmutzigen. Es ist schwer, ihn Laschet. Wieder ist es ein Freund von daEinrichtungen nach Bonn gewandert.“ Es scheint, als müsse der Kandidat sich zu überraschen. Norbert Röttgen hat das mals, und wieder heißt der Sieger Röttgen. Als Vorsitzender des größten Lanselbst daran erinnern, dass er Minister- geschafft. Im CDU-Bezirk Mittelrhein wird im desverbands erreicht er im November präsident von Nordrhein-Westfalen werden will. Dass er bereit ist, das Ministeri- Herbst 2009 der Vorsitz frei. Röttgen, der 2010 auch das vorerst letzte Ziel seiner um in Berlin zu verlassen. Dabei spricht sich bei der Vergabe von attraktiven Pos- Mission. Auf dem Karlsruher Parteitag wenig dafür, dass es ihn nach Düsseldorf ten in Berlin oft benachteiligt fühlte, hat der CDU wird Röttgen zum Stellvertreter zieht; selbst in seinem Umfeld zweifeln erkannt, dass er für den Aufstieg eine von Angela Merkel gewählt. Eigentlich viele an Röttgens Motivation. „Dass er Hausmacht benötigt. Der Konkurrent für hatte Nordrhein-Westfalen damit seine da jetzt übers Land rumspringen muss, die Nominierung im Kreisvorstand Rhein- Schuldigkeit getan. Die nächste Landtagsist für ihn ein Alptraum“, sagt jemand, Sieg ist sein alter Freund und Mitbe- wahl war für das Jahr 2015 terminiert. Röttgen glaubte, Vorsitzender sein zu wohner. der ihn gut kennt. D E R S P I E G E L 1 9 / 2 0 1 2 29 Deutschland können, ohne sich die Schuhe staubig zu „Bekenntnis“ zu brüllen, aber das macht es nicht besser. Vielleicht eignet sich Röttmachen. Nun muss er nach Netphen. Falls es einen Gott gibt, wovon man gens Sprache einfach nicht für Kundgeals Christdemokrat ja ausgehen sollte, bungen. Selbst wenn er ausruft: „Es ist dann hat er sich diesen überraschenden doch ein Skandal!“, nimmt man ihm die Wahlkampf vermutlich als Buße für Nor- Empörung nicht ab. „Wissen Sie, was ich faszinierend finbert Röttgen ausgedacht. Als wollte er ihm zeigen, dass Hochmut und Gier nicht de?“, fragt der Kandidat nach einer Kundgebung. „Wenn Sie 3000 Menschen vor ungesühnt bleiben dürfen. Auf dem Marktplatz in Bonn ist Rött- sich auf dem Platz haben, und es ist gen bei seinem Bekenntnis angelangt. Ge- mucksmäuschenstill.“ Neben vielen anrade hat er den Älteren im Publikum für deren Talenten verfügt Röttgen auch über ihre Schaffenskraft nach dem Kriege ge- die Gabe der Selbstzufriedenheit. Nach seiner Rede vor dem Alten Feudankt. Aus dem Dank an die Alten, sagt er, erwachse auch eine Verpflichtung. erwehrhaus in Netphen schmeichelt ihm „Ich empfinde sie so als Vater von drei eine Frau von der örtlichen CDU. „Also Kindern. Ich empfinde, dass wir die Herr Röttgen, Sie sind eben wirklich sehr Pflicht haben, auch unseren Kindern et- gut angekommen bei den Leuten.“ Der was zu geben, nicht nur Schuldenberge, Kandidat bedankt sich, er wartet, bis die nicht nur ausgeplünderte, zerstörte, ver- Frau sich wieder entfernt hat, dann wengiftete Natur, nicht nur mangelnde Vor- det er sich dem Reporter zu. „Also, was bereitung auf alles, was kommt an demo- die Dame gerade sagte, das ist nicht wirkgrafischem Wandel. Nein, wir haben die lich atypisch.“ Wenn Röttgen bisweilen etwas aufPflicht und übrigens auch den Willen, aus der Liebe zu unseren Kindern und Enkel- dringlich für sich selbst wirbt, dann wirbt kindern, auch ihnen eine gute Zukunft er auch für eine neue Politikergattung. Er möchte das Gegenmodell sein zum volkszu hinterlassen.“ Das alles klingt erst einmal wunderbar. tümlichen Landesvater, zu Politikern wie Es ist beeindruckend, mit welcher Über- Peter Harry Carstensen, Kurt Beck oder zeugung Röttgen über die Gefahren für eben Hannelore Kraft, über deren Ruhrdie Umwelt sprechen kann. Noch beein- gebiets-Hemdsärmeligkeit Röttgen ganz druckender wäre es jedoch ohne den Ver- wunderbar herziehen kann. Er fühlt sich dacht, dass seine Meinungen immer mit ihnen überlegen, haushoch sogar. Umso dem aktuellen Stand seiner Karrierepla- mehr wurmt es ihn, dass dieser Typus nach wie vor ankommt. So muss er in nung abgestimmt sind. Als er vor ein paar Jahren Hauptge- diesem Wahlkampf die leidvolle Erfahschäftsführer des Bundesverbands der rung machen, dass den Bürgern die Inteldeutschen Industrie werden wollte und ligenz des Herzens mindestens so wichtig Bücher über Wirtschaftspolitik schrieb, ist wie die des Hirns. Mit nur 26 Prozent Zustimmung ist er war die Umwelt aus seiner Sicht noch noch immer weit unbeliebter als seine Konkurrentin Kraft, die auf 58 Prozent Immer wenn er grundsätzkommt. Es könnte sogar sein, dass seine CDU am Sonntag ihr bislang schlechteslich wird, drohen die tes Ergebnis noch unterbietet – die 34,6 Menschen auf dem MarktProzent von Jürgen Rüttgers aus dem Jahr 2010. Sollte Röttgen gedacht haben, platz kurz einzunicken. der Vorsitz in NRW bringe seine Karriere auf eine höhere Stufe, wird er wohl recht weit weniger in Gefahr und ein Allein- bald ernüchtert sein. Das Kanzleramt ist gang beim Atomausstieg noch großer für ihn in weitere Ferne gerückt. Röttgen selbst sieht das vermutlich anders. Unsinn. Im Siegerland steht eine weitere Dame Im Wahlkampf hat Röttgen nun den Schuldenabbau zum alles entscheidenden vor ihm, um sich zu verabschieden. „Ich Thema erhoben. Zugleich aber kämpft er finde das ganz toll, dass Sie zu uns nach für eine Erhöhung der Pendlerpauschale, Netphen gekommen sind.“ „Ja selbstverständlich“, antwortet Röttdie weder beim Schuldenabbau noch gen. „Mach ich gern.“ beim Naturschutz hilft. Der Dame wirkt das zu unpersönlich, Immer wenn Röttgen auf dem Bonner Markt grundsätzlich wird, drohen die sie schiebt noch etwas hinterher: „Ne, ne, Menschen zudem kurz einzunicken. Das ich meine: dass Sie wirklich hierhin gemag an einer allgemeinen Aversion gegen kommen sind.“ „Warten Sie ab“, sagt Röttgen schließgroße Gedanken liegen, aber auch an der Art, wie Röttgen sie vorträgt. Während lich. „Ich komme noch wo ganz anders er spricht, tackern die abgespreizten hin.“ Es bleibt offen, was genau er damit Finger gegen das Rednerpult, er erinnert sagen will. Verbrieft ist nur, was sich in an einen Professor bei der Vorlesung. seinem Terminkalender für diese Woche Manchmal fällt ihm das selbst auf, dann findet: Paderborn, Heinsberg und Gelsenversucht er, Worte wie „ethisch“ oder kirchen-Buer. 30 D E R S P I E G E L 1 9 / 2 0 1 2 Vorgesetzter de Maizière, Untergebener Wieker: Einfluss verweigert tärischen Befehlsstränge zusammenlaufen, der ein Gegengewicht bildet zu den zivilen Beamten im Ministerium. Nun aber zeigt sich, dass de Maizières Worten Taten folgen, die solche Träume platzen lassen. In aller Stille hat der Minister eine neue Geschäftsordnung des Ministeriums verabschiedet, die dem Generalinspekteur maßgeblichen Einfluss verweigert. Denn politisch bringt sie ihm Verteidigungsminister Thomas keinerlei Machtgewinn, im Gegenteil: Die de Maizière hat den GeneralBeamten leiten das Haus, der Inspekteur inspekteur mit der Reform als militärischer Berater der Bundesregiegeschwächt. Er will sich so auch rung liefert ihnen nur zu. Thomas de MaiSkandale vom Leib halten. zière, Sohn eines Generalinspekteurs, führt seinen obersten Soldaten weiter als ie Militärs hätten ahnen können, Hauptabteilungsleiter. dass es nichts zu feiern gab. Schon Seit Jahrzehnten ist die Stellung des der Festakt zum historischen Er- Generalinspekteurs umstritten. In Deutscheignis fühlte sich wie eine Beerdigung an. land sollte es nach den Erfahrungen von Ein düsterer, fensterloser Raum, ein Weimar keine mächtige militärische Fühschwarzer Vorhang, davor ein Terzett aus rung geben. Deshalb wurden den Soldaten Fagott, Oboe und Querflöte. Verteidi- jede Menge Beamte als Kontrollinstanz gungsminister Thomas de Maizière (CDU) vorgesetzt. Weil sich dadurch aber alle gehatte Ende März ins Militärhistorische genseitig bei der Arbeit behindern und die Museum geladen, um dort seinen Angst vor einem Staat im Staate längst „Dresdner Erlass“ zu verkünden: ein Pa- verblasst ist, sollte die Bundeswehrreform pier, mit dem er die Macht im Ministe- diesen historischen Ballast abwerfen – angefangen beim Generalinspekteur. rium neu verteilt. Der Minister schwor die SpitzenbeamAls im Herbst 2009 der CSU-Minister ten und die hohen Militärs seines Hauses Karl-Theodor zu Guttenberg sein Amt andarauf ein, fortan friedlich und fruchtbrin- trat, wollte er den obersten Soldaten auf gend miteinander zu arbeiten. Die Rivali- eine Stufe mit den Staatssekretären steltät zwischen Beamten und Soldaten, die len. Er setzte eine Reformkommission ein, das Klima im Ministerium über Jahrzehn- die sogar empfahl, einen der Staatssekrete vergiftet hatte, sollte beendet werden. täre durch den Generalinspekteur zu erVor allem für den Generalinspekteur setzen. Damit sollte „der zentralen Rolle“ Volker Wieker brachte der Minister gute des obersten Soldaten „in den PlanungsNachrichten mit. Der höchste deutsche und Entscheidungsgängen mehr Gewicht“ Soldat solle Befugnisse bekommen „wie verliehen werden. kein Generalinspekteur vor ihm“, sagte Thomas de Maizière marschiert nun in de Maizière. Die anwesenden Generäle die entgegengesetzte Richtung. Hinter seiund Admirale hörten es gern. Viele von nem Plan stecke kühles politisches Kalkül, ihnen wünschen sich schon lange eine heißt es im Berliner Bendlerblock. Der Art Generalstabschef, bei dem die mili- Stuhl des Verteidigungsministers ist ein BUNDESWEHR Feldzug gegen die Soldaten D Schleudersitz, der Fehler eines Soldaten kann schnell den Minister den Job kosten. Vor drei Jahren musste der CDU-Mann Franz Josef Jung wegen seines katastrophalen Krisenmanagements in der Kunduz-Affäre zurücktreten. De Maizière wolle eine Brandmauer zwischen sich und dem Generalinspekteur, sagt ein hochrangiger Soldat. Der Minister hat dafür gesorgt, dass der oberste deutsche Soldat von Beamten umstellt wird. Im Ministerium verfügt er nur über den Rang eines Hauptabteilungsleiters und untersteht damit den zivilen Staatssekretären. Seine Vorlagen darf er nicht direkt an den Minister schicken, das würde den Dienstvorschriften widersprechen. Er muss sie vorher brav bei den Staatssekretären abliefern, die sie, wenn es gut läuft, prüfen und weiterleiten. Dem Generalinspekteur bleibt auch der Zugriff auf sechs von neun Abteilungen verwehrt, darunter so zentrale wie Rüstung, Personal und Haushalt. In der Praxis bedeutet dies, dass viele Vorgänge im Ministerium am Chefsoldaten vorbeilaufen können. Er habe mit dem Dresdner Erlass „klare Zuständigkeiten“ geschaffen, lobt der Minister die eigene Arbeit. Und natürlich versichern seine Leute, dass er ein ganz enges Verhältnis zu seinem Generalinspekteur Volker Wieker pflege. Die Geschäftsordnung sei eine reine Formalie. Die Wahrheit findet sich in internen Papieren des Ministeriums. Ein Dokument aus dem Zuständigkeitsbereich des Staatssekretärs Stéphane Beemelmans vom 12. April belegt, dass die Beamten den Generalinspekteur gezielt aus der Leitung des Hauses heraushalten wollen. „Zuständigkeiten und Entscheidungsbefugnisse“ für die dem Generalinspekteur „nicht unterstellten Abteilungen spricht ihm der Dresdner Erlass ab“, heißt es in dem Dokument. Vorschläge des Militärs zur Aufwertung des Generalinspekteurs wurden abgeschmettert. Diesen Vorschlägen könne „insgesamt nicht gefolgt werden“. Eine „Privilegierung“ des obersten Soldaten sei nicht erforderlich. Staatssekretär Beemelmans hat die Absätze des Dokuments sorgfältig abgehakt. Im Ministerium ist die Stimmung auf dem Tiefpunkt. Von einem Feldzug der Beamten gegen die Soldaten ist die Rede. Auftritte, in denen der Minister den Generalinspekteur noch als Gewinner der Bundeswehrreform feierte, werden als „Sonntagsreden“ verlacht. Der verteidigungspolitische Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion, Rainer Arnold, hält die Entscheidung des Ministers für eine Zumutung. „Der Generalinspekteur wird zum Befehlsempfänger degradiert und massiv geschwächt, dabei sollte die Reform den obersten Soldaten ursprünglich stärken.“ ULRIKE DEMMER ANDREAS RENTZ / GETTY IMAGES D E R S P I E G E L 1 9 / 2 0 1 2 31 Deutschland SPI EGEL-STREITGESPRÄCH „Darwinistisch“ Der Grünen-Europaparlamentarier Jan Philipp Albrecht, 29, und der Pirat Fabio Reinhardt, 31, Mitglied des Berliner Abgeordnetenhauses, über Tücken der Basisdemokratie und die Frage, ob die Piraten die neuen Grünen sind oder eine neoliberale Klientelpartei SPIEGEL: Herr Albrecht, haben Sie den Piraten-Bundesparteitag in Neumünster vor wenigen Tagen verfolgt? Albrecht: Habe ich. SPIEGEL: Und, wie fanden Sie ihn? Albrecht: Fast schon etabliert. Es gab nicht mehr dieses offene Durcheinander. Die Leute haben versucht, so zu reden, dass es öffentlich verwendet werden konnte. SPIEGEL: Herr Reinhardt, lief auch nach Ihrem Eindruck alles professioneller ab als bei Ihrem letzten Parteitag? Reinhardt: Ja. Wir hatten dreimal mehr Teilnehmer, etwa 1500. Um einen geregelten Ablauf zu gewährleisten, mussten wir einiges ändern. Wenn früher jemand Parteivorsitzender werden wollte, standen 60 Leute am Mikrofon und haben zum Teil sehr aggressiv gefragt. Deshalb mussten die Fragen diesmal schriftlich vorformuliert in einen Kasten geworfen werden. Wenn da nur stand „Du bist ein Arsch“, wurde der Zettel rausgenommen. Aus dem Rest wurde dann gelost. SPIEGEL: Fast wie bei den Grünen. Albrecht: Wir sind weniger restriktiv. Mitgliederversammlungen gibt es bei den Grünen auch, wir erstatten den Teilnehmern sogar die Fahrtkosten. Und man braucht auch keine Unterstützerunterschriften, wenn man sich zur Wahl stellt. Die Piraten haben dies verlangt. Reinhardt: Wir hatten das Problem, dass Leute gesagt haben: Ich will mich auf die Bühne stellen und fünf Minuten lang erklären, warum es legalisiert werden muss, den Holocaust zu leugnen. Darauf hatte der Parteitag einfach keinen Bock. SPIEGEL: Wie viele wollten sich denn für Holocaust-Leugner starkmachen? Reinhardt: Einer aus Niedersachsen, der das schon bei seiner Kandidatur für die Landesliste gemacht hatte. Und eine, die seit Jahren ein Podcast macht, wo es auch um Piraten geht. Die hat vor ein paar Wochen damit angefangen, in diesen Podcasts vom Weltjudentum zu schwadronieren, das sich anpassen müsse. Albrecht: Da zeigt sich eines der Hauptprobleme der Piraten. Der Anspruch, Das Gespräch moderierte Redakteur Gunther Latsch. die basisdemokratische Alternative zu sein, sagt noch nichts darüber aus, wohin man politisch will. Ist man als Pirat auch Teil einer bestimmten politischen Richtung, oder können alle vertreten, was sie wollen? Dann organisiert die Partei nur noch, dass alle irgendwie reden können. Reinhardt: Das tut sie nicht. Wir hatten schon 2008 ein Mitglied, das es normal und richtig fand, den Holocaust zu leugnen. Da haben wir klargemacht: Unter dem Label Piratenpartei darf nicht alles getan und gesagt werden. SPIEGEL: Warum haben Sie denn bis zum Parteitag Ende April gebraucht, um diese Debatte offiziell zu beenden? Reinhardt: Das ist ein schmaler Grat. Natürlich darf ich sagen: Ich bin für die Abschaffung eines bestimmten Straftatbestandes. Aber es ist eine Debatte, die auf hohem Niveau geführt werden muss. SPIEGEL: Wie diskutiert man niveauvoll über die Leugnung des Holocaust? Reinhardt: Am besten gar nicht, aber es geht eben auch um die Meinungsfreiheit. Wichtiger als diese theoretische Frage ist: Wir haben beschlossen, dass wir keine Kontrahenten Reinhardt, Albrecht: „Du springst viel zu sehr auf dieses Klischee“ D E R S P I E G E L 1 9 / 2 0 1 2 32 HERMANN BREDEHORDT / POLARIS/LAIF Bundesparteitag der Piraten in Neumünster im April, der Grünen in Duisburg 1983: „Jeder kann fordern und sagen, was er möchte“ Holocaust-Leugner als Mitglieder wollen. Damit ist das Thema erledigt. Albrecht: Das Problem, dass die Piratenpartei kein klares inhaltliches Fundament hat, ist damit aber nicht aus der Welt. Viele eurer Forderungen werden auch von anderen Pateien – vor allem von uns Grünen – vertreten. Aber wir segeln dabei mit klarem Kurs und Kompass, wäh- rend bei euch unklar bleibt, wohin ihr gesellschaftlich am Ende wollt. Reinhardt: Das mag für Außenstehende so wirken, und ich will gar nicht bestreiten, dass die Piraten noch immer mit ihrer Selbstfindung beschäftigt sind. Aber es hat sich herauskristallisiert, dass der Aspekt der Teilhabe – das kann man auch Partizipation nennen – unser Gründungsmoment ist. Und das wollen wir auf allen gesellschaftlichen Ebenen umsetzen. SPIEGEL: Verfügen die Grünen über Instrumente wie die Piraten, bei denen Basis und Mandatsträger per Computer via Liquid Feedback engen Kontakt halten? Reinhardt: Jetzt kommt’s, das „Wurzelwerk“ … Albrecht: … eine Internetplattform, die dem Wiki der Piratenpartei ähnlich ist. Es ist eine Möglichkeit der innerparteilichen Diskussion, wenn auch unter Ausschluss der Öffentlichkeit. Ich wünsche mir, dass die Grünen Tools wie Liquid Feedback viel stärker nutzen – aber Partizipation kann kein alleiniger Wert sein. Bei den Grünen gab es von Anfang an eine klare inhaltliche Ausrichtung, die mit der Basisdemokratie verknüpft wurde. Die Frage der globalen Nachhaltigkeit leitet uns bis heute. Reinhardt: Das ist der Unterschied zwischen uns. Bei den Grünen war die Nachhaltigkeit das zentrale Moment, bei uns ist es die Partizipation. Albrecht: Aber Partizipation, ohne zu wissen, wofür, ermöglicht noch keine Orientierung. Es braucht auch Momente der inhaltlichen Empörung über die Zustände, die in der Welt herrschen: die weltweite soziale Ungerechtigkeit, die Zerstörung der Umwelt und die Missachtung von Menschen- und Bürgerrechten. Reinhardt: Nach Stuttgart 21 kann man doch nicht sagen, dass es keine Empörung über mangelnde Teilhabe an Entscheidungsprozessen gibt. Albrecht: Den Protest gegen den Umbau des Hauptbahnhofs haben gerade die Grünen betrieben, weil wir gesagt haben: D E R S P I E G E L 1 9 / 2 0 1 2 Hier geht es nicht um finanzielle und ökologische Nachhaltigkeit, sondern um Prestige und Einzelinteressen. Das ist der Beweis dafür, dass es immer eine Verbindung zwischen Partizipation und Inhalt geben muss. Eine Partei, die nur Partizipation als Thema setzt, springt zu kurz. Reinhardt: Und du springst viel zu sehr auf dieses Klischee, dass die Piraten keine Inhalte zu bieten hätten, Teilhabe ist nicht nur eine Art Brückentechnologie. Für uns ist sie mehr: Die Teilhabe steht ganz vorn, auf allen gesellschaftlichen Ebenen. SPIEGEL: Was machen Sie denn, wenn Leute im Rahmen dieser Teilhabe die Todesstrafe wieder einführen wollen? Damit müssten Sie dann leben. Reinhardt: Nein, nein. SPIEGEL: Wo ist die Grenze? Reinhardt: Das ist eine Frage, die nicht direkt auf Teilhabe zielt. Es ist eher eine Frage, was zum Beispiel in Volksabstimmungen möglich sein soll und was nicht. Wir würden niemals eine Abstimmung über die Todesstrafe organisieren. SPIEGEL: Und wenn sich über Liquid Feedback Unterstützer um einen solchen Vorschlag scharen? Reinhardt: Wenn die Mehrheit der Partei das verlangen würde, würde ich das hinnehmen, mein Parteibuch abgeben und gehen. Aber ich glaube nicht, dass es so weit kommt. Kern des Parteiprogramms ist ja, dass wir Teilhabe ermöglichen. Das schließt benachteiligte Menschen mit ein, Obdachlose, Flüchtlinge, Strafgefangene, für deren Rechte und Teilhabemöglichkeiten wir uns einsetzen. Albrecht: So werdet ihr doch Minderheiten nicht gerecht. Ihr lebt diesen Individualismus, jeder kann fordern und sagen, was er gern möchte, und dann stimmt die Mehrheit darüber ab. Es gibt keinen Diskurs, bei dem Minderheiten tatsächlich die Möglichkeit haben, sich nachhaltig Gehör zu verschaffen und Einfluss darauf zu nehmen, was entschieden wird. Für mich ist das darwinistisch. Die Mehrheit setzt sich halt durch. 33 MAURICE WEISS / OSTKREUZ / DER SPIEGEL KLENKE / ARGUS Deutschland Reinhardt: Genau das will ich nicht. Ich habe mir ein klares Ziel gesetzt: Themen, die ich bei den Piraten für unterrepräsentiert halte, wie zum Beispiel Flüchtlingspolitik, viel stärker in die Partei hineinzubringen. Ich kriege da nur positives Feedback, unabhängig davon, dass das kaum Wählerstimmen bringt. Es gibt keinen, der sagt: Wir sollten uns doch hier lieber um die Deutschen kümmern. SPIEGEL: Mit diesen Themen kämen Sie auch bei den Grünen gut an. Warum engagieren Sie sich nicht bei denen? Reinhardt: Ich fühlte mich von den Grünen überhaupt nicht angesprochen. Bei den Piraten war das anders, die haben gesagt: Setz dich an einen Rechner, bring dich mit ein, schreib einen Antrag, mach irgendwas. Das zu kommunizieren ist den anderen Parteien, selbst wenn sie gute Ideen hatten, nicht gelungen. SPIEGEL: Das entbindet Sie aber nicht von der Verantwortung, darüber Auskunft zu geben, welchen Staat, welche Gesellschaft Sie wollen. Reinhardt: Im Kern geht es um die Frage, wie wir mit dem gesellschaftlichen Wandel, der vor allem ein digitaler Wandel ist, vernünftig umgehen. Und wir müssen einsehen, dass es ganz neue Bedürfnisse gibt. Die Gesellschaft wandelt sich immens. Immer weniger Menschen sind in klassischer Lohnarbeit tätig. Wenn wir einfach sagen, dass wir mehr Arbeit schaffen müssen, dann ist das für viele fast eine Drohung. Wir müssen Menschen, die einen anderen Lebensentwurf haben, die Möglichkeit geben, genauso an Gesellschaft und Politik teilzuhaben. SPIEGEL: Das klingt, als ob die Mehrheit der Bevölkerung aus freiberuflichen ITBeratern bestünde. Oder aus Menschen, denen alles Materielle ziemlich egal ist. Reinhardt: Es geht ja nicht nur um IT-Berater. Der digitale Wandel betrifft alle und verändert die Lebens- und Arbeitswelt. Dem wollen wir mit einem positiven Menschenbild entgegentreten. Vielleicht ist das zu optimistisch. Wir sind darauf gefasst, dass es vielleicht nicht hinhaut. Aber es ist wert, es zu probieren. Albrecht: In Frankreich und Spanien sind so viele Jugendliche und junge Erwachsene arbeits- und perspektivlos, dass jedes Gerede über Teilhabe zynisch wirkt. Da muss man über Wirtschafts- und Sozialpolitik reden. Die Euro- und die Finanzkrise waren doch nur Vorläufer einer harten Auseinandersetzung über Prioritäten: Wofür geben wir unser Geld aus, wofür nicht? Reinhardt: Wir haben doch zugegeben, dass die Euro-Krise und die finanziellen, wirtschaftlichen und ökologischen Aspekte des Umbaus der Gesellschaft nicht im Mittelpunkt unserer Politik stehen. Wenn eine andere Partei sagt, das steht bei den Pira- ten nicht im Zentrum, deswegen wählt lieber uns, und die Leute machen das, dann ist das für uns völlig okay. Die Frage ist doch: Haben wir trotzdem unseren Platz im Parteienspektrum, oder sind die aktuellen Wahlergebnisse nur das Resultat irgendwelcher unglücklicher Umstände? Albrecht: Wir sind mitten in der Krise. Reinhardt: Den Menschen geht es doch immer noch vergleichsweise gut. Albrecht: Ich glaube, dass wir in Europa jetzt schon merken, dass es vielen Leuten extrem schlecht geht. Da so zu tun, als könne man die Probleme mit einem postmaterialistischen Idealbild der Welt lösen, halte ich für verantwortungslos. Reinhardt: Teilhabe ist mehr als Transparenz von politischen Prozessen. Es ist ja nicht so, dass uns die Euro-Krise egal wäre. Aber wir haben uns nun mal als Ergänzung zur bestehenden Politik gegründet. Das haben wir dann erweitert, etwa um die Frage nach der Zukunft der Arbeit. Jetzt stehen Themen wie Außenund Finanzpolitik auf der Liste. SPIEGEL: Sind die Piraten für einen Sozialstaat oder für einen Nachtwächterstaat nach liberalem Muster – also einen Staat, der nur das Nötigste regelt und den Rest dem freien Spiel der Kräfte überlässt? Reinhardt: Die Piraten sind für eine hohe Staatsquote, in der die staatlichen Ausgaben dazu benutzt werden, auch die fi- nanziellen Teilhabemöglichkeiten der Bürger zu gewährleisten – etwa ein bedingungsloses Grundeinkommen. Aber es geht uns nicht darum, dass der Staat irgendwie lenkt und dirigiert und sagt, da muss jetzt aber dieser wirtschaftliche Akzent gesetzt werden und hier der. SPIEGEL: Sie wollen eine hohe Staatsquote, aber einen schwachen Staat? Reinhardt : Wir wollen, dass er sich aus dem Privatleben der Bürger heraushält. Ich glaube, da sind wir von den Grünen nicht allzu weit entfernt. Albrecht: Das sehe ich anders. Der Staat braucht Grenzen und Kontrolle, aber er muss auch privaten Akteuren Grenzen setzen. Wenn es etwa um das Internet geht, finde ich es überraschend, wie neoliberal und unkritisch viele Piraten mit Unternehmen wie Google, Facebook oder YouTube umgehen. Diese Unternehmen beuten die Arbeit anderer aus und schaffen Monopole im Internet. Es gibt beachtlich wenige Piraten, die sagen: Da muss jetzt aber mal eingegriffen werden. Reinhardt: Die Piratenpartei ist nicht der Verbündete von Google. Wir sind auch für dezentrale Strukturen. Und der unternehmenskritische Datenschutz hat in unserem Wahlkampf in Schleswig-Holstein eine wichtige Rolle gespielt. Aber im Grunde hast du recht – die Frage, wie wir unseren eigenen, durchaus auch mo- Auf Augenhöhe 20 „Welche Partei würden Sie wählen, wenn am kommenden Sonntag Bundestagswahl wäre?“ 15 14 11 10 5 2 Angaben in Prozent; Quelle: Infratest dimap für ARD-Deutschlandtrend Sept. Okt. Nov. Dez. Jan. Febr. März April Mai nopolkritischen Ansatz stärker herausstellen können, ist noch unbeantwortet. Albrecht: Ich frage mich auch, welche öffentlich-rechtlichen Strukturen im Internet sinnvoll wären. Man kann auf Dauer nicht sagen, das wird privatwirtschaftlich super organisiert, sondern es braucht auch einen Rahmen. Es muss öffentliche Strukturen geben, die von den Bürgern beeinflusst werden können. Reinhardt: Im Gegensatz zum Staat, der alles oktroyiert, hat man in der Privatwirtschaft die Möglichkeit, den Anbieter zu wechseln. Polemisch gesagt: Ich vertraue lieber einer Organisation, die im Zweifel einfach pleitegehen kann, als einem Staat, der für uns schwer kontrollierbar ist und sehr viele Eingriffsmöglichkeiten hat. SPIEGEL: Den Staat halten Sie für schwerer zu kontrollieren als Google? Reinhardt: Der Staat ist schwerer zu bändigen als ein privatwirtschaftliches Unternehmen. Albrecht: Ich bin immer dafür gewesen, staatliche Kontrolle zu begrenzen. Aber ich bin ebenso dafür, dass in einem demokratischen Rechtsstaat die Politik das Zentrum der gesellschaftlichen Regelsetzung ist. SPIEGEL: Haben die Piraten kein Vertrauen in die Gewaltenteilung? Reinhardt: Was Überwachung und Datenschutz angeht, haben wir eine klare Position: Wir müssen vor allem gegen staatliche Überwachung, gegen staatliche Bevormundung vorgehen. Albrecht: Gegen die Vorratsdatenspeicherung kämpfe ich schon länger, als es die Piratenpartei gibt. Reinhardt: Die Piraten gibt es auch schon länger, als es die Piratenpartei gibt. SPIEGEL: Herr Albrecht, Herr Reinhardt, wir danken Ihnen für dieses Gespräch. MARIO VEDDER / DAPD Baustellenkontrolle in Frankfurt am Main, Migrantenberaterin Beyoglu in Hamburg: „Sie verstehen das System des deutschen Sozialstaats Z U WA N D E R E R „Hilferufe, Wut, Empörung“ Welten treffen aufeinander, seit Bulgaren und Rumänen nach Deutschland strömen. Verarmte EU-Migranten überfordern die Politik. n den Händen halten sie Plastiktüten, vollgestopft mit Briefen von deutschen Behörden und Mahnungen von Inkasso-Unternehmen, die meisten noch ungeöffnet. „Warum schreiben die Deutschen so viele Briefe?“, fragt eine Bulgarin, die in einer Menschenschlange vor der Beratungsstelle Verikom in der Hamburger Thielenstraße wartet, und schüttelt den Kopf. „Bei uns im Dorf gab es noch nicht einmal einen Postboten.“ Um nicht zu verzweifeln, hat sie die ihr unverständlichen Anschreiben sortiert: Gelbe Umschläge bedeuten eine Mahnung und sind gefährlich. Briefe mit Wappentier kommen vom Staat. Ein farbiges Emblem steht meist für eine Rechnung von Telefonanbietern. Welten treffen aufeinander, seit Bulgaren und Rumänen in großer Zahl nach Deutschland ziehen. Die Behörden sind im Umgang mit den oft mittellosen EUBürgern ähnlich überfordert wie die Zuwanderer mit der deutschen Lebenswirklichkeit. In dieser Woche stellt der Sachverständigenrat deutscher Stiftungen für Integration und Migration sein Jahresgutachten 2012 vor. Es beschäftigt sich mit dem Zusammenwirken der Integrationspolitik von Bund, Ländern und Kommunen und 36 I kommt zu einem ernüchternden Fazit: Die Abstimmung sei häufig mangelhaft, von einer wirksamen Kooperation kann nicht die Rede sein. Das zeigt sich vor allem im Umgang mit den neuen Zuwanderergruppen aus Südosteuropa. Eine übergeordnete Strategie gibt es nicht. Viele Bundes- und Landespolitiker gehen davon aus, dass es sich bei den bulgarischen und rumänischen Migranten um Saisonarbeiter handelt, die bald wieder in ihre Heimat zurückkehren – etwa so, wie es die Bundesregierung vor Jahrzehnten irrtümlich von türkischen oder griechischen Gastarbeitern erwartete. Auch in den Kommunen setzt sich erst allmählich die Erkenntnis durch, dass die zuwandernden EU-Bürger dauerhaft blei- Immigranten aus Bulgarien und Rumänien nach Deutschland, Zuzüge 2011 Veränderung gegenüber 2010 Bulgaren 19020 32686 +25,4 % +25,8% Rumänen D E R Quelle: Stat. Bundesamt ben wollen. Eine Vorreiterrolle übernimmt jetzt Berlin. Ende Mai will der Stadtstaat einen Aktionsplan beschließen, der die Lage der Zuwanderer bis 2016 grundlegend verbessern soll. Wie erforderlich das ist, zeigen Woche für Woche Meldungen auch aus anderen deutschen Städten. So fielen bei einer Razzia in Mannheim Ende März gravierende Fälle von Mietwucher auf. Zuwanderer lebten dort ohne Mietvertrag in menschenunwürdigen Verhältnissen. In Stuttgart wurden kürzlich zwei Rumänen verurteilt, die in sogenannten FlatrateBordellen Prostituierte aus ihrer Heimat ausbeuteten. Und in Münster haben Neuankömmlinge ein Armutscamp gebildet, sie leben in Zelten an einem Kanal. Zahllose Menschen aus Südosteuropa schlagen sich als Tagelöhner durch, teilweise für drei Euro pro Stunde, ohne Krankenversicherung und Sozialabgaben. Allein in Frankfurt am Main schätzen Ermittler die Zahl scheinselbständiger Bulgaren auf 10 000 bis 17 000. Weil gezielte Integrationsprogramme und staatliche Ansprechpartner für Bulgaren und Rumänen vielerorts fehlen, springen Vereine wie die Hamburger Beratungsstelle Verikom ein. Dort berät Tülay Beyoglu, 33, eine Tochter türkischer Einwanderer, normalerweise arabischoder türkischstämmige Migrantinnen in Scheidungs- und Unterhaltsfragen. Seit einiger Zeit jedoch wird ihr Büro von Bulgaren überrannt, die kaum Deutsch sprechen und oft genug weder Arbeit noch Wohnung haben. Beyoglu ist geduldig, oft macht sie Überstunden. „Hier braucht man 100 Hände“, sagt sie. Vor anderthalb Jahren fand zum ersten Mal eine Bulgarin den Weg in ihre Beratungsstunde. Die Frau war von einem türkischen Möbelhaus betrogen worden und S P I E G E L 1 9 / 2 0 1 2 Deutschland „Der Bericht der Bundesregierung ist eine Kriegserklärung an die Realität“, sagt Klaus J. Bade, der Vorsitzende des Sachverständigenrats deutscher Stiftungen für Integration und Migration: „Er zeigt, dass die politische Gestaltung erst dann in Gang kommt, wenn der Unfall bereits passiert ist.“ Bade hat sich intensiv mit den Neuankömmlingen aus Südosteuropa beschäftigt, er warnt davor, integrationspolitische Fehler der Vergangenheit zu wiederholen. Programme, die an seit langem in Deutschland lebende arabischoder türkischstämmige Bürger gerichtet sind, könnten Roma aus Bulgarien und Rumänien kaum weiterhelfen. Letztere müssten erst mal „die Alltagsregeln der westlichen Welt begreifen – all das, was in einem randständigen Dorf in Südosteuropa nicht erlernt werden kann“, sagt er. Wie tief die Kluft zwischen neuen Zuwanderern und einheimischer Bevölkerung häufig noch ist, lässt sich wohl an keinem anderen Ort so gut beobachten wie in Berlin-Neukölln, wo Rumänen und Bulgaren bereits seit einiger Zeit ihren Platz neben arabisch- oder türkischstämmigen Migranten suchen. Im April legte der Bezirk bereits seinen zweiten „Roma Statusbericht“ vor. Viele der Roma leben demnach in „prekären Lebensverhältnissen“. Etliche Kinder seien „häufig nicht altersgerecht entwickelt, nicht alphabetisiert“ und hätten „wenig oder keine schulischen Vorerfahrungen“. Für Probleme sorgten laut Bericht zudem „Lärmbelästigungen, ein erhöhtes Müllaufkommen, Sachbeschädigungen und ein generell anderes Verständnis von nachbarschaftlichem Zusammenleben“. Nachbarn reagierten oftmals mit „Unverständnis, Resignation, Hilferufen, Wut, Empörung oder sogar Hass auf die Lage“, heißt es weiter. In der „Rangordnung“ der Neuköllner Nationalitäten stünden die Unionsbürger aus Rumänien und Bulgarien „an letzter Stelle“. Was der Bericht beschreibt, erlebt die Neuköllner Schulstadträtin Franziska Giffey (SPD) fast täglich. Sie hatte vor zwei Jahren als eine der Ersten erkannt, dass Kinder aus neuen Migrantengruppen in ihre Schulen strömten. Giffey bemühte sich um sprachkundige Lehrer und Betreuer, sie alarmierte ihre Kollegen im Bezirk und im Berliner Senat. Trotzdem fühlt sich Giffey oft machtlos. „Hier zeigen sich die Auswirkungen einer europäischen Armutswanderung“, sagt sie. „Wir können nur reagieren, aber die Lage nicht steuern.“ Ende April tagte eine Arbeitsgruppe aus verschiedenen Senatsverwaltungen; die Lage der neuen Zuwanderer wird nach langem Zögern nun zum Thema in der Berliner Landespolitik. ÖZLEM GEZER 1 9 / 2 0 1 2 noch nicht“ zahlt immer noch die Raten aus einem dubiosen Kreditvertrag ab. Bis heute lebt sie mit ihrer Familie in einem heruntergekommenen Wohnhaus, das im Hamburger Stadtteil Wilhelmsburg nur „Bulgarenpension“ heißt. Sie hat keinen Mietvertrag; wenn sie eine amtliche Anmeldung braucht, muss sie dem Hauseigentümer 400 Euro Schmiergeld zahlen. „Bulgaren sind das letzte Glied in der Kette“, sagt Beyoglu. Täglich drängeln sich nun Menschen aus Südosteuropa vor ihrem Beratungszimmer. Manche beschweren sich über korrupte Arbeitgeber, andere brechen in Tränen aus, weil Schlepper ihnen ihr letztes Geld abnahmen. Es gibt Großfamilien, die Menschenhändlern 5000 Euro für den Umzug nach Deutschland zahlten. Ahnungslose Eltern gaben vermeintlichen Helfern 1000 Euro, nur für das Einreichen eines Kindergeldantrags. Die Menschen in Beyoglus Sprechstunde bieten ihr immer wieder Geld für die Hilfe an. „Sie sind es aus ihren Herkunftsländern gewöhnt, für alles zahlen zu müssen“, sagt sie. Viele der neuen Zuwanderer aus Bulgarien und Rumänien sind Roma. „Sie verstehen das System des deutschen Sozialstaats noch nicht.“ Auf Bundesebene sind solche Erkenntnisse offenbar noch nicht angekommen. Erst im Dezember schickte das Bundesinnenministerium einen Bericht zur Lage der Roma in Deutschland an die EU-Kommission. Eine nationale Strategie, heißt es darin, sei „nicht erforderlich“, schließlich stünden ihnen die existierenden Integrationsprogramme offen. Was für die Gruppe der Roma gelten soll, betrifft auch andere Rumänen und Bulgaren: Als EU-Bürger können sie zu Integrationskursen nicht verpflichtet werden. Besuchen sie die Kurse freiwillig, müssen sie dafür zahlen. D E R DJAMILA GROSSMAN / DER SPIEGEL S P I E G E L 37 Olympische Spiele in Peking 2008 „Die Wirkung des Sports nicht überschätzen“ MENSCHENRECHTE „Keine heile Welt“ Michael Vesper, 60, Generaldirektor des Deutschen Olympischen Sportbunds, ist gegen Boykotte. der Ukraine wird ja auf den Titelseiten erst durch die EM zum Kommission boykottiert die Thema. Fußball-Europameisterschaft in der Ukraine. Haben Sie dafür SPIEGEL: Warum formulieren Verständnis? die Sportverbände nicht politische Kriterien, die Länder erVesper: Ja, Verständnis schon. füllen müssen, um den ZuIch hätte auch keine Lust, neschlag für Olympia, Welt- oder ben dem ukrainischen PräsiEuropameisterschaften zu bedenten Wiktor Janukowitsch kommen? auf der Ehrentribüne Fußball Funktionär Vesper zu sehen, während er Opposi- „Ideale Plattform“ Vesper: Das ist leicht gesagt, tionelle einsperren und foltern aber praktisch unmöglich. Der lässt. Ich frage mich allerdings, warum Sport ist dafür auch gar nicht kompetent. den Verantwortlichen in Brüssel erst so Außerdem sind die politischen Entwickspät auffällt, was in der Ukraine los ist. lungen doch unkalkulierbar. Die Ukraine Die EU-Kommission verhandelt seit Jah- zum Beispiel erhielt den Zuschlag, als ren mit Kiew über ein Assoziierungs- dort die orange Revolution unaufhaltsam abkommen, aber auf einmal ist die Em- schien. Soll man Vergaben jedes Jahr wieder zurückziehen können, wenn die Lage pörung groß. SPIEGEL: Amnesty International hält einen sich ändert? Boykott für keine gute Idee. SPIEGEL: Warum wird der internationale Vesper: Richtig. Um politisch Druck zu Spitzensport so stark politisiert? machen, ist es sogar besser, solche Er- Vesper: Sport ist ein faszinierender Wetteignisse zu nutzen und mit den Verant- bewerb, der viele Menschen so begeistert wortlichen über die Menschenrechtsver- wie wenig anderes. Deshalb eignet er sich letzungen vor Ort zu reden. Das geht ideal als Plattform für die politische Komaber logischerweise nur, wenn man munikation. Das ist gut so, wenn auch hinfährt – auch wenn es keinen Spaß nicht immer einfach. macht. SPIEGEL: Können Großveranstaltungen die SPIEGEL: Es ist nicht nur die EM, die für Öffnung und Demokratisierung von StaaÄrger sorgt, sondern auch das Formel-1- ten befördern? Rennen in Bahrain oder die Eishockey- Vesper: Man darf die Wirkung des Sports Weltmeisterschaft in Weißrussland. Sollte nicht überschätzen, er kann nicht das man solche Events nur noch in lupenrei- leisten, was die Politik nicht schafft. Aber manchmal kann er durchaus etwas benen Demokratien ausrichten? Vesper: Wie viele davon gibt es? Und wer wegen. Die Pingpong-Diplomatie zwiverleiht das Siegel? Wir leben ja nicht in schen USA und China in den Siebzigern einer heilen Welt. Außerdem können ist ein Beispiel, so wie Olympia 1988 in Sportereignisse durchaus im Sinne von Seoul – Südkorea öffnete sich damals Öffnung, Demokratie und Menschenrech- langsam. Das Bild der beiden Blackten wirken. Die Lage der Opposition in Power-Aktivisten auf dem Siegerpodest SPIEGEL: Herr Vesper, die EUARNE DEDERT / DPA in Mexiko-Stadt 1968 steht bis heute für die amerikanische Bürgerrechtsbewegung. SPIEGEL: Es gibt aber auch genügend Negativbeispiele: Olympia 2008 in Peking oder die Fußball-WM 1978 in Argentinien. Vesper: Die Menschenrechtslage in China hat sich nicht grundlegend verbessert. Trotzdem war es gut, dass damals so intensiv darüber geredet wurde. Ob man die WM in Argentinien wegen der Militärdiktatur hätte absagen sollen? Das heute rückwirkend zu beurteilen ist müßig. SPIEGEL: Welche Art von politischem Protest halten Sie heute für angemessen? Vesper: Sportboykotte bewirken nichts und sind deshalb sinnlos. Mit dem Boykott der Spiele in Moskau 1980 ist nur ein Gegenboykott ausgelöst worden, sonst nichts. Sportler können und sollen sich politisch äußern, wenn sie es wollen, allerdings nicht auf dem Spielfeld. Genau so haben wir es übrigens auch in Peking 2008 gehalten. SPIEGEL: Also keine orangefarbenen Schals, wie die grüne Fraktionschefin Renate Künast anregte? Vesper: So etwas würde nur Gegendemonstrationen provozieren, der Sportplatz würde zum politischen Marktplatz. Natürlich sollten die Niederländer wie immer in orange Trikots antreten. SPIEGEL: In welchen Fällen müssen Sportveranstaltungen abgesagt werden? Vesper: Das kann man nicht theoretisch beantworten, sondern nur am konkreten Fall. Natürlich gibt es Länder, an die heute niemand ein sportliches Großereignis vergeben würde, aber auch die können sich weiterentwickeln. Sicher ist: Ein Ereignis müsste abgesagt werden, wenn die Sicherheit der Sportler und Zuschauer nicht gewährleistet ist. SPIEGEL: Warum wird über die EM in der Ukraine mehr diskutiert als über den Eurovision Song Contest in Aserbaidschan, obwohl die politische Lage dort schlimmer ist? Vesper: Das wundert mich auch. Es zeigt vermutlich, dass der Sport mehr Menschen begeistert und sich damit als Plattform besser eignet. INTERVIEW: RALF BESTE JERRY LAMPEN / REUTERS Lesen Sie zu diesem Thema: SEITE 92: Den ukrainischen Präsidenten Wiktor Janukowitsch treibt blinde Rache SEITE 94: Der Pole Janusz Reiter warnt vor einer Brüskierung der Ukraine SEITE 112: Dirk Kurbjuweit über die Fallstricke der Moralpolitik SEITE 146: Der Nationalspieler Philipp Lahm über die politische Verantwortung von Fußballprofis 38 D E R S P I E G E L 1 9 / 2 0 1 2 Deutschland RELIGION Abfall vom Glauben Vor dem Mannheimer Katholikentag fürchten Bischöfe und Funktionäre, dass ein Priesterrebell aus Österreich nun auch deutsche Kirchenmitglieder aufwiegelt. o sieht also ein Rebell in der katholischen Kirche aus: ein älterer Herr im dunklen Anzug, mit steifem Priesterkragen und strengem Scheitel. Aber wenn Helmut Schüller zu sprechen beginnt, klingt der 59-jährige Pfarrer wie ein junger Aktivist der Occupy-Bewegung. „Es gibt keine Hoffnung mehr auf Reformen in der Kirche von oben, es gibt nur noch den Aufstand“, sagt er. Seit Monaten sorgt Schüllers „Aufruf zum Ungehorsam“ für Aufruhr in der Kirche. Binnen kurzer Zeit schlossen sich in seiner Heimat Österreich 405 Geistliche der Initiative an, schnell folgten Ableger in weiteren Ländern, darunter Belgien, Brasilien, Irland und die USA. Anfang April erreichte die Protestwelle den Vatikan: In einer Osterpredigt setzte sich Papst Benedikt XVI. mit den Rebellen in seinem Klerus auseinander. Jetzt kommt die Bewegung im Herzen der katholischen Kirche Deutschlands an. Wenn Mitte Mai über 50 000 Gläubige in Mannheim zusammentreffen, hat Schüller als Gastredner gute Chancen, zum Star des Katholikentags 2012 zu werden. Denn der Rebell aus der Nähe Wiens fordert nicht nur zum Ungehorsam auf, er praktiziert ihn auch. Mit seiner Pfarrerinitiative ignoriert er strenge Regeln, die vermeintliche Sünder von der Eucharistiefeier ausschließen; er möchte Frauen zum Priesteramt zulassen und Laien mehr Teilhabe ermöglichen. Der deutsche Klerus ist vorsichtiger, Kritik kommt meist nur von Basisorganisationen wie „Wir sind Kirche“. Entsprechend nervös reagieren die Vertreter der Kirchenhierarchie. Im Bistum Hildesheim gab es eine Art Einreisesperre für Schüller, als in Soltau die Pfarrgemeinde St. Marien mit ihm über die Zukunft der Kirche diskutieren wollte. Hirte Norbert Trelle gilt Kritikern seitdem als „Basta-Bischof“. Sein Regensburger Bruder Gerhard Ludwig Müller nannte die Pfarrerinitiative aus Österreich „unchristlich“ und „ein Übel“. Und in Passau warf Bischof Wilhelm Schraml den Priesterrebellen einen „Abfall vom Glauben“ vor, also Häresie. Dafür befahlen Inquisitoren einst den Tod auf dem Scheiterhaufen. S Papst Benedikt XVI. am Gründonnerstag in Rom: Aufruhr in der Kirche Selbst Alois Glück, Vorsitzender des Zentralkomitees der deutschen Katholiken (ZdK), übte sich vor wenigen Tagen in Rom in vorauseilendem Krisenmanagement. Er werde schon dafür sorgen, versicherte der CSU-Politiker dem Papst, dass Schüller und seine aufrührerischen Gedanken nicht den Kirchentag beherrschten: Weitere Rebellionsaufrufe werde es in Mannheim nicht geben. Glück und seine einflussreiche Laienorganisation setzen lieber auf vorsichtige Reformen. „Einen neuen Aufbruch wagen“ lautet das vergleichsweise zahm formulierte Motto des Katholikentags. Das ZdK möchte keinen offenen Streit mit der Kurie riskieren. HERBERT PFARRHOFER / PICTURE ALLIANCE / DPA Pfarrer Schüller „Die Zeit der Bittbriefe ist vorbei“ D E R S P I E G E L 1 9 / 2 0 1 2 Da würde es nur stören, wenn Schüller auch in Mannheim äußert, was er im Gespräch sagt: „Rom unterstützt eine Retrokirche. Selbst kleinste Reformen werden wieder abgeschafft, wir haben eine Rückwärtsentwicklung.“ Geistliche dürften nicht länger „aus falsch verstandener Solidarität mit dem Papst“ ihre Kritik verschweigen: „Aus Liebe zur Kirche müssen wir Pfarrer auch etwas riskieren.“ Bischöfe wie Müller oder Schraml dagegen gehörten einer „Kaste“ an, die „nur auf Privilegien sitzt, die sie nicht aufgeben will“. An der Basis kommen Aufrufe zum Ungehorsam derzeit gut an. In Augsburg demonstrierten vor zwei Wochen 2500 Gläubige gegen ihren Bischof, der ohne echten Dialog Pfarrgemeinden schließen will. Auch in Köln, Bonn und Duisburg protestieren viele Gläubige gegen die Amtskirche, weil sie sich von ihr bevormundet und vernachlässigt fühlen. An etlichen anderen Orten haben Seelsorger Treffen organisiert, auf denen Katholiken Schüllers Thesen unterstützten. Der heutige Rebell hatte in der Amtskirche zunächst eine konservative Karriere gemacht. Er war Generalvikar des Erzbistums Wien und Chef der österreichischen Caritas, bevor er wegen seiner kritischen Ansichten suspendiert wur39 STEFANO SPAZIANI / ACTION PRESS de. Derzeit arbeitet er als Pfarrer einer Dorfgemeinde bei Wien. Dort entwickelte er im vergangenen Jahr ein – für katholische Verhältnisse – radikales Programm. „Die Zeit der Resolutionen und Bittbriefe ist vorbei“, sagt er, „das hat alles überhaupt nichts gebracht, es wurde alles ausgesessen.“ Die Amtskirche habe mehrere Generationen von Laien ausgebremst, deshalb müsse die Basis nun endlich handeln: „Wenn die Reformen nicht von oben offensiver aufgegriffen werden, dann müssen sie einfach unten praktiziert werden.“ Ungehorsam bedeutet für Schüller und die Mitglieder der Pfarrerinitiative, die Hostie auch an Wiederverheiratete oder Protestanten auszugeben. Wenn es der Personalmangel erfordert, lassen sie in ihren Gemeinden Gottesdienste zu, in denen Laien Predigt und Kommunion übernehmen. All dies verstößt gegen die Regeln der katholischen Kirche. Viele Pfarrer, so Schüller, handelten schon lange anders, als es ihnen die Kirche vorschreibt: „Die meisten leben in einem praktischen Ungehorsam, der nur so lange geduldet wird, wie er nicht öffentlich wird.“ Für ähnliche oder sogar geringere Vergehen wurden einzelne Seelsorger noch vor wenigen Jahren abgestraft. Als der Saarbrücker Pfarrer Gotthold Hasenhüttl auf dem Ökumenischen Kirchentag 2003 die Kommunion auch an Protestanten verteilte, verlor er sein Amt. Auch jetzt verlangt etwa das konservative „Netzwerk katholischer Priester“ ein „entschiedenes Einschreiten“ der Bischöfe. Vielleicht ist der Protest diesmal zu groß, vielleicht haben sich bereits zu viele Pfarrer angeschlossen, auf die die Amtskirche wegen des drängenden Priestermangels nicht verzichten kann. Oder es braucht einfach nur Zeit, bis die manchmal schwerfällige Kurie reagiert. Bislang jedenfalls trauten sich die Bischöfe nicht, gegen die ungehorsamen Seelsorger konsequent vorzugehen. Selbst der Papst überraschte viele Gläubige, als er am Gründonnerstag die Priesterrebellen relativ milde in einer Predigt erwähnte. Benedikt sprach verständnisvoll über die Autoren des Appells, die wohl glaubten, „der Trägheit der Institutionen“ sei nur „mit drastischen Mitteln zu begegnen, um neue Wege zu öffnen“. Er frage sich lediglich, ob Ungehorsam der richtige Weg sei. Ein Bannstrahl aus Rom sähe anders aus, entsprechend gelassen sieht Schüller dem deutschen Katholikentag entgegen. „Nachdem wir es vor Jahrhunderten immerhin geschafft haben zu akzeptieren, dass sich die Erde überhaupt dreht“, sagt er, „muss die Kirche doch einfach nur erkennen, dass sich die Erde seitdem weiterdreht.“ PETER WENSIERSKI GALERIE BILDERWELT / GETTY IMAGES Jüdische Arbeiter im Ghetto Lodz 1942: „Kostengünstigste Variante gewählt“ WI EDERGUTMACHUNG Enges Herz Der deutsche Staat hat jahrelang Rentenzahlungen an ehemalige jüdische Ghettoarbeiter blockiert. Nun landet der Streit wohl vor dem Verfassungsgericht. ls er seinen ersten Job annahm, war Elijahu Zicher gerade mal neun Jahre alt. Die Nazis waren in Polen einmarschiert, hatten Elijahus Mutter und ältere Schwester umgebracht und den Rest der Familie ins Ghetto Wlodowa im Osten Polens verschleppt. Der jüdische Junge fand eine Arbeit als Kanalarbeiter. Die Bedingungen waren, den Umständen entsprechend, locker: Zicher wurde bei der Arbeit nicht bewacht und bekam sogar einen kleinen Lohn. So wie Elijahu Zicher gingen Zehntausende Juden in den Ghettos der Nationalsozialisten einer halbwegs geregelten Beschäftigung nach. In einigen jüdischen Sperrbezirken gab es eigene Arbeitsämter, teilweise zahlten die deutschen Arbeitgeber sogar Rentenbeiträge. Weil Überlebende wie Zicher nicht in die Kategorie der Zwangsarbeiter fallen, räumte ihnen der Deutsche Bundestag 2002 mit einem eigenen Gesetz das Recht ein, eine deutsche Altersrente zu beziehen. So steht es zumindest auf dem Papier. Doch die Praxis sieht anders aus. Rund 70 000 Überlebende beriefen sich seit 2002 auf das „Gesetz zur Zahlbarmachung von Renten aus Beschäftigungen in einem Ghetto“ (ZRBG), aber mehr als 90 Prozent der Anträge wurden anfangs abgelehnt. Die Behörden legten das Gesetz sehr eng aus. D E R S P I E G E L 1 9 / 2 0 1 2 A Oft bestritten die staatlichen Versicherer, dass die ehemaligen Ghettobewohner freiwillig gearbeitet und dafür ein „Entgelt“ erhalten hatten, wie es das Gesetz vorschreibt. Sie behaupteten zum Beispiel, die Überlebenden hätten in den fünfziger Jahren gegenüber deutschen Behörden Zwangsarbeit angegeben und ihre Biografie gefälscht, um zusätzlich in den Genuss der Ghettorente zu kommen. Dabei erlitten viele Juden beides, erst das Ghetto, später Zwangsarbeit, so auch Elijahu Zicher. Die Überlebenden klagten, doch die Sozialgerichte stellten sich in den meisten Fällen hinter die Rentenversicherungen. Auch Zicher hatte seinen Antrag fristgerecht noch im Jahr 2002 eingereicht, um die volle Rente rückwirkend ab 1997 zu erhalten, wie es das Gesetz versprach. Doch die Rentenversicherung lehnte ab. Der Israeli klagte sich durch die Instanzen – und verlor. Am 30. April 2009 urteilte das Bundessozialgericht, dass auch eine Revision nicht zugelassen werde. Nun belegen interne Akten, dass nicht nur die Gerichte engherzig handelten, sondern auch die Bundesregierung. Vor allem das federführende Bundesarbeitsministerium spielte dabei eine unrühmliche Rolle. Ihm lag vor allem daran, die heutigen Beitragszahler nicht zu belasten. 40 Deutschland Das Bundesfinanzministerium wiederum weigerte sich, eine Entschädigung der Ghettoarbeiter aus dem Bundeshaushalt zu bezahlen. „Es wurde die kostengünstigste Variante gewählt, weil anderes gegen den Widerstand des Bundesfinanzministeriums nicht realisierbar erschien“, urteilt Stephan Lehnstaedt vom Deutschen Historischen Institut Warschau, der die Akten studiert hat. „Von den historischen Bedingungen hatten die Beteiligten offensichtlich keine Ahnung“, so das Fazit des Wissenschaftlers in einem bislang unveröffentlichten Aufsatz. Das zeigte sich schon in den Beratungen für das Ghettorenten-Gesetz. Nachdem das Bundessozialgericht 1997 entschieden hatte, die Arbeit im Ghetto müsse im Sinne des deutschen Rentenrechts als Beschäftigungszeit anerkannt werden, ging es für die Berliner Beamten darum, die Gesamtzahl der möglichen Antragsteller zu ermitteln. Intern, so geht es aus dem Schriftverkehr hervor, rechnete das Bundesarbeitsministerium mit maximal 3000 Personen. Gegenüber den Mitgliedern des Haushaltsausschusses des Deutschen Bundestags war sogar von nur 700 potentiellen Ghettorentnern die Rede – eine peinliche Fehlkalkulation, da bereits damals bekannt war, dass die Nazis während des Zweiten Weltkriegs in den besetzten Gebieten mehr als 400 Ghettos für Juden eingerichtet hatten. Allein im Warschauer Ghetto lebten 1941 rund eine halbe Million Menschen. Auch bei der Höhe der Rente knauserte die Bundesregierung von Anfang an. „Eine ,große Lösung‘ ist nach derzeitiger Finanzlage der Rentenversicherung nicht umsetzbar“, schrieb die Rentenabteilung im Mai 2001 dem damaligen Arbeitsminister Walter Riester (SPD). Selbst die als „finanziell überschaubar“ präsentierte Lösung stieß auf Widerstand. Das Arbeitsministerium vertrat die Auffassung, dass die Renten für die ehemaligen Ghettoarbeiter nicht allein aus den Beiträgen der heutigen Angestellten und Arbeiter finanziert werden könnten. Es handele sich um eine „gesamtgesellschaftliche Aufgabe“, deren Kosten der Bund erstatten müsse, heißt es in einem frühen Entwurf der Beamten für ein Gesetz. Doch das Bundesfinanzministerium lehnte ab. Am Ende wurde das Gesetz so formuliert, dass es in der Praxis äußerst schwierig war, überhaupt Ansprüche durchzusetzen. So mussten sich die Antragsteller einerseits „zwangsweise“ in einem Ghetto aufgehalten haben; andererseits sollte die Arbeit dort „aus eigenem Willensentschluss“ aufgenommen worden sein. Dieser offenkundige Widerspruch ermöglichte den Rentenversicherern eine restriktive Handhabe. Sie entwarfen komplizierte Fragebögen, in denen sich viele Überlebende verDie Wende brachten erst zwei Urteile des Bundessozialgerichts im Juni 2009. Sie revidierten die bisherige Rechtsprechung und erleichterten den Zugang zu den Renten. Erstaunlich schnell, innerhalb einer knappen Woche, hatten die Berliner Beamten ausgerechnet, wie die höchstrichterliche Entscheidung die Rentenkasse belasten würde. „Auf Basis grober Schätzungen muss damit gerechnet werden, dass die Rentenversicherung einmalige Nachzahlungen in Höhe von zwei bis drei Milliarden Euro tragen muss und jährliche Aufwendungen von bis zu 200 Millionen Euro entstehen“, heißt es in einer Vorlage für den damaligen Bundesarbeitsminister Olaf Scholz (SPD). Da dies die von Bundeskanzlerin Angela Merkel versprochene Absenkung des Beitragssatzes zur Rentenversicherung verhindert hätte, wollte das Bundesarbeitsministerium, dass die zusätzlichen Kosten aus Steuermitteln bezahlt werden. Doch daraus wurde wieder nichts. Für die große Zahl der abgelehnten Antragsteller schien das Urteil des obersten deutschen Sozialgerichts zunächst eine gute Nachricht zu sein. Sie reichten ihre Anträge neu ein, auch Elijahu Zicher aus Israel. Ihm wurde daraufhin zwar eine Rente bewilligt, allerdings nur für vier Jahre rückwirkend und nicht ab 1997, wie es das Ghettorenten-Gesetz vorsieht. Die Rentenversicherer berufen sich dabei auf einen PasMinister Schäuble, von der Leyen: Kein Interesse sus im Sozialgesetzbuch, wonach gen von rund 2,5 Milliarden Euro sowie eine „Heilung“ falscher Verwaltungsentmonatliche Renten von rund 270 Millio- scheidungen höchstens vier Jahre rücknen Euro zur Folge, warnten die Beam- wirkend gezahlt wird. Das Bundessozialten. „Angesichts leerer Rentenkassen be- gericht gab den Versicherern im Februar schloss das Bundesarbeitsministerium, dieses Jahres recht. Zichers Berliner Rechtsanwältin Simoauf Zeit zu spielen“, urteilt Experte na Reppenhagen will in dieser Woche VerLehnstaedt. Die Bundesregierung schob die Schuld fassungsbeschwerde einlegen. Die Juristin für die geringen Bewilligungsquoten den hat sich dafür ein symbolträchtiges DaÜberlebenden teilweise selbst in die Schu- tum ausgesucht: den 8. Mai, Jahrestag der he. Die hohe Zahl der Ablehnungen liege Befreiung Deutschlands vom Nationalauch an „der Unkenntnis der Antrag- sozialismus. Mit der Beschwerde will die steller über die komplizierte und auf den Anwältin auch den Druck auf die Bunersten Blick schwer verständliche Rechts- desregierung erhöhen, endlich eine Lölage“, heißt es in einer Antwort der Bun- sung zu finden. Doch Berlin mauert. Ein Vorschlag der desregierung auf eine Anfrage der FrakOpposition, das Ghettorenten-Gesetz zu tion der Linken vom 26. Juni 2006. Verschiedene Initiativen von Sozialrich- ändern, stößt bei den Regierungsfraktiotern aus Nordrhein-Westfalen oder Ab- nen auf wenig Sympathie. Und Arbeitsgeordneten des Deutschen Bundestags ministerin Ursula von der Leyen (CDU), schmetterte die Regierung ab. Der Ge- in anderen sozialen Fragen oft engagiert, setzgeber sei bereits 2002 „an die Gren- zeigt kein Interesse daran, das wohl letzte zen dessen gegangen, was in der gesetz- Kapitel der Wiedergutmachung im gegenlichen Rentenversicherung möglich ist“, seitigen Einvernehmen abzuschließen. Noch sei der Rechtsstreit mit den Ghetschrieb das Bundesarbeitsministerium im Oktober 2008 an das nordrhein-westfä- toarbeitern nicht endgültig entschieden, lische Sozialministerium. „Die Bundes- heißt es in ihrem Ministerium. Deswegen regierung hat deshalb mehrfach zum Aus- gebe es derzeit keinen Grund, tätig zu druck gebracht, dass eine Novellierung werden. des ZRBG nicht vorgesehen ist.“ CHRISTOPH SCHULT hedderten. Kürzlich schaltete sich sogar die Antidiskriminierungsstelle des Bundes ein. Sie forderte das Bundesversicherungsamt in einem Brief auf, die Antragsformulare zu überprüfen. „Einige der im Rentenantrag aufgeführten Fragen könnten unserer Auffassung nach die Geltendmachung von Rentenansprüchen unverhältnismäßig erschweren“, heißt es in dem Schreiben vom 19. April 2012. Kritik ließ das zuständige Arbeitsministerium jedoch schon damals kalt. Bereits 2006 hatte Bundesaußenminister Frank-Walter Steinmeier (SPD) bei Konsultationen in Jerusalem eine Änderung des Gesetzes ins Spiel gebracht, doch im Bundesarbeitsministerium trat man auf die Bremse. Die Opfer seien doch erst zufrieden, wenn 90 Prozent der Anträge bewilligt würden, schrieben die zuständigen Fachleute am 24. Februar 2006 an ihre Staatssekretäre. Das hätte NachzahlunCLEMENS BILAN / DAPD D E R S P I E G E L 1 9 / 2 0 1 2 41 Angeklagte R. und P., Anwalt Spirale sexueller Perversionen VERBRECHEN Geborenes Opfer Ein Paar soll ein Kind gezeugt haben, um es zu missbrauchen. Ein Gericht hat beide zu langen Freiheitsstrafen verurteilt. Annäherung an ein unfassbares Verbrechen. Als das Baby fünf Wochen alt war, elanie R. hat eine freundliche und warmherzige Art. So steht schoss P. ein Foto: sein erigierter Penis es in ihrem Zeugnis vom Okto- neben dem nackten Kind. Melanie R. ber 2011, ausgestellt von der Leitung eines hielt ihren Sohn währenddessen fest. P. Alten- und Pflegeheims im nordrhein- sandte die Aufnahme an eine Bekannte westfälischen Viersen. Sie kümmerte sich und bot sein Kind angeblich für Sexspiele liebevoll um Alte und Behinderte, ver- an. Die Frau informierte die Polizei. Es folgten Ermittlungen, die Anklage, stand sich gut mit den Kollegen, galt als das Urteil. Als der Prozess im März enfleißig, pünktlich, zuverlässig. Das Heim verabschiedete eine nette dete, berichteten die Medien über die Pflegerin, 26 Jahre alt, gut ausgebildet. „Horror-Eltern“ und das „verstörende GeMelanie R. wollte stets für andere da sein. ständnis“. Aber es blieb die Frage, wie Man trenne sich in beiderseitigem Ein- es so weit kommen konnte. Die Suche nach einer Antwort führt in vernehmen, schreibt die Heimleitung. Zu diesem Zeitpunkt ermittelte längst das Besprechungszimmer einer Kanzlei die Staatsanwaltschaft. Drei Tage später in Mönchengladbach, zu Rechtsanwalt wurden Melanie R. und ihr Chat- und Hendrik Rente und dessen Mandantin. Sexpartner Benjamin P., 27, einer Tat an- Melanie R. wirkt schüchtern, sie schiebt geklagt, die „außerhalb des Bereichs un- sich auf die Kante des Stuhls; eine Frau, serer Vorstellung“ liege, wie der Staats- groß und stämmig, die nicht viel redet. anwalt sagte, der die Anklage vertrat. „Ich würde das heute nicht mehr maSachverständige schildern, der Fall habe chen“, sagt sie dann doch. Und: „Ich wollRichter, Gutachter und Sozialarbeiter „an te das alles nicht.“ Was die Ermittler über sie und ihren die Grenze des Fassbaren gebracht“. Das Paar soll ein Kind gezeugt haben, Partner herausfanden, zeigt eine Spirale um es zu missbrauchen. Die Frau brachte sexueller Perversionen. Und die Abhänim Juni 2011 einen Jungen zur Welt, mit gigkeit einer jungen Frau, die sich, aus dem der Mann Sex haben wollte, wie es Angst, ihren Liebhaber zu verlieren, rein der Anklage hieß. Die beiden, so steht gelmäßiger Gewalt auslieferte. Bis zum Winter 2009 lebte Melanie R. es im Urteil des Landgerichts Essen, hätten sich auch darüber unterhalten, den ein Leben, das viele spießig nennen würJungen anderen Erwachsenen anzubieten den. Sie wuchs in der überschaubaren und ihn dazu zu erziehen, freiwillig in Welt des Städtchens Viersen am Niederrhein auf. Melanie besuchte die HauptKinderporno-Filmen mitzuspielen. 42 D E R S P I E G E L 1 9 / 2 0 1 2 M schule, holte die mittlere Reife nach und bestand das Examen zur Altenpflegerin. Sie tanzte gern, ging auf jedes Straßenfest, hatte Freundinnen und gelegentlich einen festen Partner. Mit 18 lernte sie ihren späteren Ehemann, einen bodenständigen Handwerker, in einem Internetchat kennen, zog zu ihm nach Mönchengladbach und heiratete, als sie 23 war. Das Paar lebte in einem Backsteinhaus im Zentrum der Stadt, unten ein türkischer Imbiss und ein Matratzen-Discounter, nebenan die Schwiegereltern. Kein Palast, aber ein Zuhause. Schon bald endete die Ehe vor dem Bildschirm. Ihr Mann spielte Playstation, Melanie verlor sich im Chatroom. Sie wollte etwas erleben, sehnte sich nach Komplimenten. Auf der Kennenlern-Website spin.de, im Forum für über 18-Jährige, traf sie auf Benjamin P. „Er hat mir einfach gefallen“, sagt Melanie heute. P. wirkte cool auf das Mädchen aus Viersen. Er soll sich „Ben Wilder“ genannt haben, mixte Drinks in einer Bar, schickte Fotos, die ihn in weißem Hemd und lässigem Sakko zeigten, mit Dreitagebart und „Hey Baby“-Blick. Man verstand sich, tauschte Telefonnummern aus. Melanie, die übergewichtige, schüchterne Frau, fühlte sich begehrt. Im Januar 2010 stieg sie in ihr Auto und fuhr über eine Stunde lang zu P. nach Gelsenkirchen. Die Wohnung, sagte sie, sei sauber gewesen, er habe gekocht. Die beiden hatten Spaß, es kam eines zum anderen. Der Spaß dauerte nicht allzu lange. Denn P. war nicht nur der coole Barkeeper, sondern Metallbauer ohne Arbeit, der eigentlich studieren wollte. Er lebte vom Geld, das ihm seine Mutter gab, und von Bafög. Von Januar 2010 an lebte er angeblich auch von Melanie R. Bei den Treffen soll P. Geld gefordert haben, mal 50, mal 100 Euro. „Ich hab sogar seinen Kühlschrank bezahlt“, sagt Melanie. Sie himmelte ihn an. Im Chat tauschten sie wilde Phantasien über Sadomaso-Praktiken aus, bei den Besuchen in Gelsenkirchen wurden die Phantasien oft Realität. Melanie R. ertrug dabei Unbeschreibliches und hatte bald viele Narben und Wunden. Gezwungen, sagte die junge Frau später aus, habe P. sie nie. Wenn sie ihm gesagt habe, es sei zu viel, habe er aufgehört. Dann wieder behauptete sie, P. habe Dinge getan, die sie nicht gewollt habe. Zu Hause im Schlafzimmer behielt Melanie ihr T-Shirt an und löschte das Licht, um die Wunden vor ihrem Mann zu verbergen. Wenn sie allein war, filmte sie sich bei extremen Sexpraktiken und lieferte Aufnahmen nach Gelsenkirchen. Dann habe P. mehr gewollt. Während Melanie bei ihm war, habe er Kinderpornos gezeigt, auch Pornoaufnahmen mit BIKY / IMAGO Deutschland Tieren. Und sie will erfahren haben, dass P. im Jahr 2003 intime Bilder von seiner damals 13-jährigen Schwester gespeichert hatte. Melanie sagte den Ermittlern, sie habe das alles nicht sehen wollen, aber sie blieb. Angeblich, weil P. sie erpresst habe. Von den Quälereien machte er Fotos, die er – so soll er mehrmals gedroht haben – ihrem Mann zeigen würde. Was die Fahnder auf den Computern von P. und Melanie fanden, klingt anders. Melanie, heißt es in der Anklage, soll die abartige Phantasie ihres Liebhabers mit eigenen Ideen angereichert haben, auch mit Einfällen zum Kindsmissbrauch. Als P. den Wunsch nach Sex mit einem Kleinkind äußerte, täuschte sie ihm vor, einen Sohn zu haben: Niklas, zehn Monate alt. Den bot sie ihm an, insgesamt fünfmal. Sie habe P., sagt der Staatsanwalt, damit an sich binden wollen. MelaTochter bekomme, werde sie diese frühzeitig „trainieren“. Die Ermittlungen ergaben, dass sich beide wohl sehr detailliert darüber ausgetauscht haben, wie man das eigene Kind zum Sexsklaven heranreifen lassen und erziehen könne. Noch vor der geplanten Schwangerschaft soll P. seinen Freund Thorsten zum Sex zu dritt eingeladen haben. Thorsten soll er auch versprochen haben, ihm die Muttermilch von Melanie zu verkaufen. Als Melanie schwanger wurde, ließ sich P. offenbar von anderen Internetbekannten als Held feiern. Einem Kumpel namens „Stingray“ soll er stolz gemeldet haben, der Plan mit einem eigenen Kind scheine sich zu erfüllen. Sein Sohn wurde im Juni 2011 geboren. Es kam zum Streit, weil das Baby nicht gestillt wurde und das Geschäft mit der Muttermilch geplatzt war. Foto an eine Bekannte sandte, zeigte die ihn an. P. wurde festgenommen, das Landgericht Essen verurteilte ihn Mitte März wegen schweren sexuellen Missbrauchs von Kindern und Schutzbefohlenen, wegen Missbrauchs seiner Schwester und wegen des Besitzes von Kinderpornografie zu acht Jahren Freiheitsstrafe. Gutachter halten beide für voll schuldfähig. Ihre sexuellen Neigungen seien nicht krankhaft, sondern steuerbar. Die Verteidiger kündigten Revision an, das Urteil ist nicht rechtskräftig. P. gestand die Taten zum großen Teil. Sein Anwalt betont, sein Mandant habe dem eigenen Sohn nie Gewalt angetan, was ausdrücklich strafmildernd bewertet worden sei. Im Übrigen wolle er sich zu den Vorwürfen wegen des laufenden Verfahrens nicht äußern. Melanie R. muss für fünf Jahre ins Gefängnis. nie erfand Ausreden, warum sie Niklas nicht mit nach Gelsenkirchen bringen konnte. Mal war er krank, mal beim Vater. Doch sie schickte Bilder von einem unbekannten kleinen Jungen. Im Chat sprach das Paar lange über schreckliche Dinge, die man mit dem Jungen ausprobieren könnte. Irgendwann merkte P., dass Niklas nicht existierte. Es entstand der Plan, selbst ein Kind zu zeugen. Melanie R. streitet das ab. Sie habe in der Zeit die Pille abgesetzt, aber nur, weil sie die nicht vertragen habe. Sie sei nur an ihren unfruchtbaren Tagen zu P. gefahren, um auf keinen Fall schwanger zu werden. Doch als P. im Juni 2010 schrieb: „In wenigen Tagen bist du wieder schwängerbar, probieren wir’s noch mal?“, antwortete sie „Ja“ und besuchte ihn. Später schrieb sie ihm laut Anklage, falls sie eine Fünf Wochen danach soll P. gefordert haben, das Kind müsse nun nach Gelsenkirchen kommen. Melanie sagte später zu Polizeibeamten, sie sei nur gefahren, um P. noch einmal zu besuchen und die Beziehung zu beenden. In der Schwangerschaft habe sie sich von ihm entfernt. Ihr Baby aber nahm sie mit. Dass P. seine perversen Phantasien in die Tat umsetzen könnte, will sie nicht geahnt haben. Sie habe das Baby gewickelt, als P. plötzlich nackt neben ihr gestanden und das Foto gemacht habe. Sie habe ihren Sohn nur festgehalten, weil er beim Wickeln gestrampelt habe. Das Foto lässt sich auch anders deuten. So, wie es das Gericht sieht: dass die Mutter ihren Sohn in die für P. geeignete Position brachte. Es war das letzte Mal, dass P. seinen Sohn sah. Als er eine Woche später das D E R S P I E G E L 1 9 / 2 0 1 2 Das Baby lebt bei Pflegeeltern, und schon heute machen sich Mitarbeiter von Sozialbehörden Gedanken darüber, wie man den Jungen auf den Tag vorbereiten kann, an dem er die Wahrheit über seine Eltern erfährt. Melanie R. hat zusammen mit ihrem Ehemann beantragt, das Sorgerecht für ihren Sohn zurückzubekommen. „Ich hab jetzt wieder Arbeit“, sagt sie bei dem Gespräch in der Anwaltskanzlei. Ein Arbeitsvertrag, so ihr Anwalt, sei Voraussetzung, um eine Chance auf offenen Vollzug im Gefängnis zu bekommen. Melanie R. hofft, ein offener Vollzug könnte helfen, ihr Kind treffen zu dürfen, zumindest manchmal und in Begleitung. Noch ist nicht entschieden, ob Gutachter den Kontakt zwischen Mutter und Kind befürworten. Die Sozialbehörden raten ab. CONNY NEUMANN 43 Deutschland AKADEM I KER Jäger im Dunkeln Der Unbekannte, der die Schwächen in Annette Schavans Dissertation enttarnte, nennt als Motiv die Lust an Detektivarbeit – und seinen Ärger über Betrüger. ie Jagd auf Annette Schavans Doktortitel begann kurz vor dem Jahreswechsel, am Silvesternachmittag um zehn vor vier. Ein Unbekannter, der sich Hotznplotz nennt, veröffentlichte einige Sätze ihrer Dissertation auf der Website VroniPlag: Seite 45, Zeilen 5 bis 18 und 20 bis 22. Die Doktorandin Schavan referiert dort Thesen des französischen Soziologen Émile Durkheim, große Gedanken in großen Worten. „Die Gesamtheit der moralischen Regeln bildet eine Mauer, ,an die viele Leidenschaften, Triebe und Bedürfnisse branden‘“, schrieb die heutige Bundesforschungsministerin einst. „Das zentrale Wertsystem“, heißt es weiter, „muss von den Gesellschaftsmitgliedern erlernt werden.“ Das Urteil von Hotznplotz fällt eindeutig aus: Die Ausführungen stammten nicht von der Doktorandin, sondern von einem berühmten Professor, „obwohl nur ein Halbsatz als Zitat gekennzeichnet ist“. Die Jagd war eröffnet, und sie fand in der vorigen Woche, vier Monate später, ihren vorläufigen Abschluss. Seit die gesammelten Vorwürfe im Internet veröffentlicht sind – unter 325 geprüften Seiten sollen 56 faule sein –, wird über das Ergebnis der Jagd diskutiert. Die Uni Düsseldorf prüft, ein Verfahren einzuleiten; die CDUPolitikerin, die 1980 in Düsseldorf von der Philosophischen Fakultät promoviert worden war, hatte selbst darum gebeten und zugleich den Plagiatsvorwurf zurückgewiesen. Dass sie ihren Doktortitel verliert, ist unwahrscheinlich – die bislang bekannten Schwächen der Arbeit rechtfertigen eine solche Sanktion kaum. Spannender als das Ergebnis der Jagd sind die Jäger Minister Guttenberg, Schavan 2009: Bloßstellen oder nicht? 44 D E R S P I E G E L 1 9 / 2 0 1 2 D und ihr Eifer: eine verschworene Truppe in den angegebenen Quellen stehen, ohne im Netz, die ein Jahr nach der Enttarnung dass sie korrekt darauf verwiesen hätte.“ Und warum das alles, was treibt ihn? des Dr. Karl-Theodor zu Guttenberg (CSU) einem weiteren Kabinettsmitglied „Bei mir ist es sowohl das Motiv des Spanachspürte. Während ihre Erkenntnisse ßes an der Detektivarbeit als auch das und teils auch ihre Diskussionen im In- Motiv, dass Leute mit einem akademiternet heute für jedermann zu verfolgen schen Betrug nach Möglichkeit nicht sind, bleiben sie selbst weitgehend im durchkommen sollten.“ Beides beförderte Verborgenen. Doch in Telefongesprächen, auch zum Jahreswechsel seinen Fleiß. In Chats und E-Mails äußerten sich etliche der Silvesternacht verfasste er auf VroniBeteiligte in Sachen Schavan, darunter Plag bis nachts um Viertel vor zwei mehderjenige, der die Veröffentlichung der rere Beiträge – und legte an Neujahr Vorwürfe schließlich in die Hand nahm. schon um 9.54 Uhr nach. Bevor die Vorwürfe gegen die MinisteSein echter Name ist ein Geheimnis. Nicht einmal seine Mitstreiter, die Admi- rin in der vorigen Woche veröffentlicht nistratoren und Rechercheure von Vroni- wurden, hatte es intensive Diskussionen Plag, kennen ihn. Reden kann man mit bei VroniPlag gegeben, wie Mitstreiter der Person nicht, Nachrichten werden bestätigen. Wochenlang hatten die Jäger über ein Mitglied des VroniPlag-Netz- gesucht, mit großem Aufwand. „Alle Büwerks an ihn weitergereicht, er schickt cher, die Frau Schavan im Literaturverdann ein anonymisiertes Fax, unterzeich- zeichnis aufgeführt hat, mussten digitalisiert werden, sofern sie nicht schon bei net mit „Robert Schmidt“. Warum die Anprangerung? „Ich halte Google Books verfügbar waren“, erzählt es für belegbar, dass Frau Schavan plagi- einer, „dazu weitere Werke, die themaiert hat“, schreibt er, „wenn auch in ge- tisch passen und aus denen sich Frau Scharingerem Ausmaß als andere.“ Woher der van bedient haben könnte.“ Dann wurde Verdacht? „Ich hatte erwartet, dass Frau verglichen. Das Ergebnis der Plagiatsjäger: SchaSchavan das Thema in der Arbeit souverän behandelt hätte, und war ziemlich van habe nicht immer fremde Formulieüberrascht, als ich sofort auf die ersten rungen als solche gekennzeichnet. Und Stellen stieß, die in ähnlicher Form auch sie habe in mehreren Fällen wohl nicht den Originaltext gelesen oder ihn jedenfalls nicht zitiert, sondern sich aus der Sekundärliteratur bedient, ohne dies kenntlich zu machen. Die Frage blieb: Schavan bloßstellen oder nicht? „Wir haben sehr lange diskutiert und die Abstimmung mehrmals verschoben“, erzählt der Insider mit dem Kürzel „KayH“, ein Sprachwissenschaftler aus dem Rheinland, „am Ende war es eine knappe Entscheidung mit nur einer Stimme Mehrheit dagegen.“ Die Zahl problematischer Seiten habe nur geringfügig über der Zehnprozentgrenze gelegen, die normalerweise überschritten sein müsse, bevor Ergebnisse bekannt gemacht würden; und inhaltlich sind die Plagiate nach Meinung des Insiders „eindeutig, aber lange nicht so schwerwiegend wie in anderen Fällen“. Schon vor der Abstimmung war aber wohl allen klar, ohne dass sich die Beteiligten daran zu stören schienen: Wenn die Vorwürfe nicht auf VroniPlag veröffentlicht würden, wird einer der Mitstreiter die Erkenntnisse anderswo im Internet ausbreiten – das war dann „Robert Schmidt“. GORAN GAJANIN / ACTION PRESS CHRISTOPH TITZ, MARKUS VERBEET ZEITGESCHICHTE Die Zukunft der Vergangenheit Roland Jahn will die Stasi-Unterlagen-Behörde offenbar auf Dauer erhalten – eigentlich sollte 2019 das Bundesarchiv die Spitzelberichte übernehmen. u Terminen kommt Roland Jahn am liebsten zu Fuß, obwohl ihm Dienstwagen und Chauffeur zur Verfügung stehen. Statt Anzug und Krawatte trägt er meistens Jeans und offenes Hemd. Und dass sein Amt nun „Jahn-Behörde“ heißen könnte, so wie es zuvor die Namen Gauck und Birthler trug, Behördenchef Jahn: „Solange die Gesellschaft das will“ schmeichelt ihm nicht. Seit gut einem Jahr ist Jahn, ein ehemaliger Bürgerrechtler und ARD-Journa- 2008 informell auf das Transferdatum dem Bundesland aus. Sie garantierten list, Bundesbeauftragter für die Stasi-Un- 2019 verständigt. Dann läuft eine andere Bürgernähe, argumentiert Jahn. Auch terlagen. „Von Mensch zu Mensch“ will Ostspezialität aus, der Solidarpakt. Au- Sachsen-Anhalts Ministerpräsident Reier die Belange seiner Behörde im Ge- ßerdem enden 2019 alle Stasi-Überprü- ner Haseloff (CDU) will die geplante spräch regeln. Der Apparat solle ihn nicht fungen im Öffentlichen Dienst. Ohne Schließung der Außenstelle Magdeburg verändern, sagt Jahn. Was viele über- Überprüfungen, so die Logik, auch keine verhindern. „Ich möchte, dass Roland rascht: Er will offenbar auch das Amt wie Extra-Behörde. Im Koalitionsvertrag von Jahn ausreichend Argumente hat, um das Union und FDP wurde 2009 dann „eine Konzept in unserem Sinne zu korrigievorgefunden erhalten. 2019 sollte die Stasi-Unterlagen-Behör- Expertenkommission“ versprochen, die ren“, so Haseloff. Jahn, dessen Amtszeit bis 2016 läuft, de eigentlich abgewickelt werden. 30 Jah- die Entwicklung der Aufgaben des Bunre nach dem Ende der DDR gehören die desbeauftragten „analysiert und Vorschlä- mag sich nicht an Abwicklungsdebatten Akten ins Bundesarchiv, so lautete bis- ge macht, ob und in welcher Form diese beteiligen. „Wir kümmern uns um die lang ein parteiübergreifender Konsens. mittel- und langfristig zu erfüllen sind“. Aufarbeitung, solange die Gesellschaft Bis heute ist eine derartige Kommission das will“, sagt er. „Wir sind Dienstleister.“ Die Ära spektakulärer Stasi-Enthüllungen könnte dann übergehen in eine Epoche nicht einberufen. Zuständig ist dafür Aktuell plant er, aus der ehemaligen BerJahns Dienstherr, der Staatsminister für liner Stasi-Zentrale einen „Campus für der unaufgeregten Dokumentenpflege. In aller Stille arbeitet Jahn daran, den Kultur und Medien, Bernd Neumann Demokratie“ zu schaffen. Solche Vorhaben schüren Zweifel, weil Kurs zu ändern. Aus der Sonderinstitu- (CDU). Doch der scheut die Auseinandertion soll eine Dauereinrichtung werden. setzung mit der zerstrittenen Dissidenten- die Stasi-Akten-Behörde anderen in die Die letzte noch in der DDR gegründete Szene. Zudem ist aus Sicht der Unions- Quere kommt, der Stiftung Aufarbeitung Institution würde ohne Verfallsdatum er- strategen die Stasi-Akten-Behörde eine etwa, die vom Bund jährlich drei Millionützliche Verbündete: Die Auskünfte nen Euro erhält und 25 Mitarbeiter behalten bleiben. schäftigt. Vorsitzender des Stiftungsrats Die neue Linie sorgt nun für Streit unter schaden in der Regel den Linken. Da werde wohl klammheimlich ein ist Meckel, der auch deshalb Jahns Amehemaligen Dissidenten und Historikern. Vor allem im Beirat von Jahns Behörde Konsens aufgekündigt, empört sich Bun- bitionen bremsen möchte. Und noch einer lauert: Thomas Krüger, gibt es Kritik. Als das Gremium Ende März destagsvizepräsident Wolfgang Thierse unter Leitung des Theologen Richard (SPD). Es gebe einen „klaren Auftrag an der Chef der Bundeszentrale für politiSchröder tagte, fragten Mitglieder, wie sich den Behördenleiter, sich Gedanken über sche Bildung. In scharfen Briefen mahnte Jahn das Ende seiner Behörde vorstelle. die Umstrukturierung zu machen“. Davor er mehrfach, die Stasi-Akten-Behörde möge ihren Auftrag nicht überdehnen. Er sei ausgewichen, berichten Teilnehmer. dürfe sich Jahn nicht drücken. Dessen Vorgängerin Marianne Birthler Bildungsarbeit zum Thema DDR – das Stattdessen legte Beiratsmitglied Markus Meckel, der letzte Außenminister der hatte bereits einem behutsamen Rückbau sei der Job der Bundeszentrale. „Sinnvoll DDR, mit Co-Autor Jörn Mothes „Thesen der Behörde zugestimmt, die bis heute und nötig ist eine Diskussion um die Zuzur Zukunft der Behörde“ vor. Darin plä- 1600 Mitarbeiter hat. Um den Jahresetat kunft der Behörde des Bundesbeauftragdieren sie für eine geordnete Auflösung von rund 100 Millionen Euro zu senken, ten“, so Krüger. Davon will Jahn nichts wissen, er redet und fordern konkrete Planungen. Auch sollte etwa die Zahl der Außenstellen von lieber über „neue Aufgaben“. Um die Zukünftig bedürfe es zwar rechtlicher Son- ursprünglich 14 auf 8 reduziert werden. Kaum bemerkt von der Öffentlichkeit kunft der Vergangenheit, scheint es, ist derbedingungen für den Umgang mit Stasi-Akten, „aber nicht der Existenz einer stoppte Jahn dieses Vorhaben. Mitte Jahn nicht bange. Neuerdings könnten ja Sonderbehörde“. So sieht es auch Beirats- April traf er sich mit Mecklenburg-Vor- auch Angehörige von Verstorbenen Akpommerns Ministerpräsident Erwin Sel- teneinsicht beantragen, das bringe viel chef Schröder. Noch in der Großen Koalition hatten lering (SPD). Die beiden sprachen sich zusätzliche Arbeit. sich die Experten von SPD und CDU für den Erhalt der drei Außenstellen in STEFAN BERG D E R S P I E G E L 1 9 / 2 0 1 2 MICHAEL HÜBNER / ACTION PRESS Z 45 Deutschland einen Millionenkredit überlassen hatte. Der Kaufmann, der lange in Bremen gelebt hatte, hatte einen guten Leumund: Er führte sein Familienunternehmen in fünfter Generation, war erst von der Weser und dann von Wien aus in die Weltspitze der Branche aufgestiegen. Machold war der Stradivari-Mann. Etwa 600 Geigen, 60 Celli und 12 Bratschen aus der berühmten Werkstatt im italienischen Cremona gibt es noch, jedes zweite Instrument hat Machold in den Händen gehalten. Seine Reputation war so groß, dass er sich die Wertgutachten für die Sparkassen-Stradivaris selbst ausstellen durfte – er trat ja auch vor Gericht als Sachverständiger auf. Vermutlich im Sommer wird Machold in anderer Rolle im Gerichtssaal zu sehen sein: als Angeklagter. Die Wiener Staatsanwaltschaft ermittelt gegen ihn wegen des Verdachts der Untreue, des Konkursbetrugs und des schweren gewerbsmäßigen Betrugs. Bei den Strafverfolgern gingen 46 Anzeigen aus Australien, den USA, den Niederlanden, aus Belgien und Deutschland ein, in denen Machold der Verlust wertvoller Instrumente zur Last gelegt wird. Seit Monaten versuchen österreichische Ermittler sowie Jörg Beirer, 72, Masseverwalter im Konkursverfahren, Licht ins Dunkel der macholdschen Geschäfte zu bringen. Zutage tritt das Bild eines Geschäftsmanns, der vermutlich seit Jahren klamm war, in Kommission genommene Violinen für Millionen verkaufte – und den Erlös oftmals nicht an die Eigentümer der Instrumente oder kreditgebende Banken weitergegeben, sondern damit andere Verbindlichkeiten abgelöst haben soll. Die Ermittler und der Konkursverwalter haben nun offenbar aufgedeckt, wie Machold trickste und täuschte – aber auch, wie einfach es ihm Banken machten. Niemand merkte, wenn er dieselbe Geige bei zwei Geldinstituten zur Absicherung von Krediten benutzte. Den Herren von der Bremer Sparkasse, die sich zu dem Reinfall mit Hinweis auf das Bankgeheimnis nicht äußern mögen, wurde im April vorigen Jahres endgültig klar, dass ziemlich wertloses Holz im Tresor lag. Die Banker ließen die vermeintlichen Stradivaris von dem Hamburger Holzwirt Micha Beuting untersuchen. Wären die Instrumente echt gewesen, müssten die Bäume für das Deckenholz vor 1737 gefällt worden sein – dem Todesjahr Antonio Stradivaris. Beuting wies in seinem Gutachten anhand der Jahresringe nach, dass die Bäume Jahrzehnte nach Stradivaris Tod gefällt worden waren. Wahrscheinlich in den Nordalpen oder im Bayerischen Wald, sicher nicht in den Südalpen, wo die Fichten für Stradivaris Geigen in den Himmel wuchsen. K R I M I N A L I TÄT Vergeigt Dietmar Machold war der erfolgreichste Stradivari-Händler der Welt – und vermutlich ein Betrüger. Viele Instrumente sind verschwunden, Gläubiger fordern 100 Millionen Euro. Verkäufer Machold: Wertloses Holz im Tresor ie Herren von der Bremer Sparkasse haben sich um einen Tisch versammelt, in dessen Mitte Ikonen abendländischer Kultur ruhen: zwei Violinen Antonio Stradivaris, des Gottvaters der Geigenbaukunst. Die eine ist 294, die andere 325 Jahre alt. Zusammen haben sie einen Wert von 5,2 Millionen Euro. Das glauben die Herren von der Sparkasse. Es tritt, auf ihre Einladung, der Geigenbauer Roger Hargrave, 64, aus dem niedersächsischen Schwanewede hinzu. Er 46 D wirft einen kurzen Blick auf die Instrumente, dann fällt er ein vernichtendes Urteil: „Das sind keine Stradivaris.“ Die Bremer Banker – so erinnert sich Hargrave an die Begegnung Anfang vorigen Jahres – seien „völlig geschockt“ gewesen, „es gab keinen Sauerstoff mehr im Raum“. Einer der Herren habe ihn eindringlich um Diskretion gebeten, „es war denen total peinlich, auf einen so großen Schwindel hereingefallen zu sein“. Immerhin war es ihr langjähriger Kunde Dietmar Machold, 62, gewesen, der ihnen die beiden Violinen als Sicherheit für D E R S P I E G E L 1 9 / 2 0 1 2 REINER RIEDLER Die Banker waren Machold auf den Leim gegangen. „Die beiden Geigen sind nur jeweils zwei- bis dreitausend Euro wert“, sagt der Geigenbauer Hargrave. Den Bankern blieb nicht mehr, als im Insolvenzverfahren vor dem Wiener Handelsgericht eine Forderung von 5,9 Millionen Euro anzumelden. Die Sparkasse steht mit ihrem Schaden nicht allein – eine Pleite dieser Größenordnung gab es im weltweiten Instrumentenhandel noch nicht. Seit das Firmengeflecht Machold Rare Violins, das der Inhaber schließlich in Kadenza GmbH umbenannte, Ende 2010 zusammenbrach, ist das Ausmaß sichtbar. Geldinstitute, Kunden und ehemalige Mitarbeiter haben im Insolvenzverfahren 6 S 159/10i vor dem Wiener Handelsgericht Forderungen von rund hundert Millionen Euro angemeldet. So verlangt die UniCredit Bank AG (vormals Bayerische Hypo- und Vereinsbank) 6 Millionen, die Schweinfurter Flessabank 5,4 Millionen, die österreichische Bawag 5,8, die UniCredit Bank Austria 2,3 sowie die Hypo Alpe Adria 1,5 Millionen Euro. Der in Südfrankreich lebende Niederländer William L. wartet auf 2,5 Millionen Euro. Im Konkursverfahren haben Antragsteller Ansprüche auf mehr als 200 Streichinstrumente gestellt, deren Aufbewahrungsort, so Beirer, „unbekannt ist, weil die entsprechenden Angaben von Machold fehlen“. Der vormals noble hanseatische Kaufmann Machold, der mit seinem weltläufigen Auftreten die Hauptrolle in einer „Buddenbrooks“-Verfilmung hätte spielen können, sitzt im Gefängnis in der Wiener Josefstadt in Untersuchungshaft. Er ist in Teilen geständig und muss mit einer mehrjährigen Freiheitsstrafe rechnen. Der Unternehmer unterhielt in guten Zeiten Filialen in New York und Chicago, in Tokio, Seoul, Zürich, Wien und Bremen. Er profitierte davon, dass der Preis für Stradivaris und andere historische Geigen wie beispielsweise von Guarneri del Gesù seit 1960 um das Zweihundertfache gestiegen ist. Im Juni 2011 zahlte ein Anonymus für die Violine „Lady Blunt“ den Rekordpreis von 15,9 Millionen Dollar. Wer aber fragt, warum selbst eine günstigere, rund sechs Millionen Dollar teure Stradivari-Geige mit einem Gewicht von etwa einem Pfund heutzutage fast 250-mal so viel kostet wie dieselbe Menge Gold, gilt in der Welt der Violinen als Banause. Machold verdiente Millionen. Nach dem Verkauf von drei Strads und einer Guarneri del Gesù gönnte er sich 1997 das 700 Jahre alte Schloss Eichbüchl vor den Toren Wiens: Kaufpreis eine Million Mark, Restaurierung für vier Millionen. Jeder sollte sehen, wie erfolgreich er war. Als er zehn Jahre später die Lehrerin Barbara Drews, heute 36, heiratete, glitt das D E R S P I E G E L 1 9 / 2 0 1 2 47 Deutschland Paar standesgemäß in einem gelben RollsRoyce nach Südfrankreich. Der Jurist wurde ein geachtetes Mitglied der feinen Gesellschaft. Gibt es Schöneres im titelverliebten Österreich, als zum Professor ehrenhalber ernannt zu werden? So belohnte das Wiener Kultusministerium Machold für eine Sammlung historischer Geigen, die er der Österreichischen Nationalbank beschafft hatte. Doch, es gab noch Schöneres: 2005 überreichte ihm der niederösterreichische Regierungschef Erwin Pröll auf Eichbüchl das „Große Goldene Ehrenzeichen für Verdienste um das Bundesland“. Und, das Allerschönste: Er weihte Machold vor illustrem Publikum zum „Weltbürger“. Der Aktionsradius des Weltbürgers beschränkt sich zurzeit auf den täglichen Jörg Beirer, einer der renommiertesten österreichischen Konkursverwalter, wundert sich: In einigen Fällen habe Machold den Banken nur Fotokopien von Instrumenten oder selbstgefertigte Gutachten zukommen lassen. „Es ist keine bankübliche Praxis, dafür Millionenkredite zu vergeben“, sagt Beirer. Er hat Machold ein paar Dutzend Mal getroffen und konnte dabei ein Talent beobachten, auf das die Banker hereingefallen sein könnten. „Der Herr hat es verstanden, durch eine hervorragende Selbstinszenierung mit Schloss, Fotoapparate- und Uhrensammlungen, teuren Autos, über den Erdball verstreuten Firmen und einem Netzwerk von Sachverständigen etwas vorzugeben, das er nicht ist und nicht hat“, sagt Beirer. Machold verfüge über eine „von Selbstsicherheit und Charme begleitete Überzeugungskraft“. nen die Instrumente, die ihm nicht gehörten, im Juni 2009. Sie wurden im Rahmen des Ermittlungsverfahrens sichergestellt. William L. erstattete Strafanzeige und brachte damit das Verfahren in Gang. Schlag auf Schlag kamen immer mehr krumme Geschäfte ans Tageslicht – Machold hatte selbst Freunde wie den Niederländer Gert Jan K. hereingelegt. Der war als Direktor und Teilhaber eines an der Amsterdamer Börse notierten Unternehmens reich geworden. Der Kunstmäzen kaufte historische Geigen und stellte sie Künstlern zur Verfügung; oft hieß er die Macholds zu Hause willkommen. In einer Zeugenaussage beklagte K., dass Machold fünf seiner Instrumente und einige Geigenbögen „unrechtmäßig verkauft beziehungsweise meinem Vermögen entzogen“ habe. Schaden: 20 Millionen Euro. Wiederholt hatte Machold versucht, Banken und Kunden, die auf Geld warteten, hinzuhalten, mitunter jahrelang. Ende 2010 sprach er von einem Riesengeschäft, das er auf mehr als 30 Reisen eingefädelt habe – und das ihn retten werde. Der Milliardär S. aus der Nähe von Mailand wolle Instrumente für 40 Millionen Euro kaufen. 8 bis 14 Millionen sollten „bald“ als erste Tranche fließen, Machold rechnete mit einem Gewinn von 16 bis 18 Millionen Euro. Damit nicht genug: Ein weiterer Gewinn in Höhe von 10 Millionen Euro sei aus einem Deal mit der Sawallisch-Stiftung am Chiemsee zu erwarten gewesen. 15 Millionen Euro Erlös hätte ein Geschäft mit einer Unternehmensgruppe aus Peking bringen können, das er 2006 eingefädelt habe. Das Geld kam nicht, Macholds Imperium brach zusammen. Das Geschäft mit dem italienischen Milliardär S., davon ist Macholds Strafverteidiger Stephan Zinterhof überzeugt, „wäre zustande gekommen und könnte noch heute abgeschlossen werden“. In einer E-Mail vom 16. April hätten Beauftragte des Unternehmers versichert, weiterhin Interesse am Aufbau einer Sammlung historischer Instrumente zu haben. Die Vorverträge mit den Eigentümern der Geigen, die ihre Instrumente auf Macholds Vermittlung nach Italien verkaufen wollten, seien noch gültig. Zinterhof bewertet das Verhalten mancher Geldinstitute als fragwürdig: „Angesichts dieses großen Geschäfts müssen sich die Banken, die Machold in das Konkursverfahren getrieben haben, wohl fragen lassen, ob sie nicht mehr Geduld hätten haben müssen.“ Macholds Plan, seine Unternehmen dereinst seinem Sohn Lüder zu vermachen, ist Makulatur. Dem habe er schon vor Jahren gesagt, dass er in den Firmen „erst groß reinemachen“ müsse, offenbarte Machold in einer Vernehmung. Das war wohl ein bisschen untertrieben. CARSTEN HOLM Ehepaar Machold vor Schloss Eichbüchl 2010: Hochzeitsreise im gelben Rolls-Royce Hofgang. Er hat alles vergeigt: Sein Schloss wurde für 3,5 Millionen Euro verkauft, das Inventar mit Stilmöbeln, Teppichen und der Bibliothek für 120 000 Euro. Sein Elternhaus in Bremen fand für 350 000 Euro einen neuen Besitzer. Auch seine Frau Barbara hat Machold verloren. Sie ließ sich im Februar scheiden. Im selben Monat, während der mehr als sechsstündigen 6. Beschuldigtenvernehmung im Wiener Landeskriminalamt, packte Machold aus. Es ging um die zwei Millionen Euro teure Stradivari-Geige „Ex-Rosé“. Er habe gleich zwei Banken daran „zu Sicherungszwecken Eigentum eingeräumt“, sagte Machold. Als er die Violine 2006 für drei Millionen Euro verkaufte, habe er den Kredit bei der ersten Bank, der Bawag, getilgt. Die zweite Bank, die Bayerische Hypo- und Vereinsbank, ging erst einmal leer aus. Das war offenbar kein Einzelfall. „Ich habe Zertifikate für Geigen, wenn ich eines brauchte, dupliziert“, gab Machold zu. 48 Schon Mitte des vergangenen Jahrzehnts, so scheint es, kam der Händler nur noch über die Runden, indem er Schulden bei Banken und Kunden durch immer neue Betrügereien tilgte. Einen seltsamen Weg nahm etwa eine Viola Carlo Ferdinando Landolfis aus dem Jahr 1765. Der Niederländer William L. gab Machold das eine Million Euro teure Instrument in Kommission, es verschwand. Plötzlich tauchte die Viola auf einer Liste der Flessabank auf, mit der Machold dort Kredite abgesichert hatte. Die Schweinfurter Kreditgeber hatten ihre Sicherheit jedoch nur auf dem Papier. In Wahrheit landeten die Viola und die ebenfalls L. gehörende, 269 Jahre alte Violine des Geigenbauers Camillus Camilli bei der Raiffeisenlandesbank Niederösterreich-Wien. Die Banker hatten Machold im Frühsommer 2009 angekündigt, seine Kredite fällig zu stellen, falls er nicht Sicherheiten beibringe. Das Ende drohte. Der Geigenhändler überließ ihD E R S P I E G E L 1 9 / 2 0 1 2 CARSTEN HOLM / DER SPIEGEL Szene Was war da los, Frau Arnau? Mireia Arnau, 39, spanische Verkäuferin, über das Gefühl der Ohnmacht: „Es sollte einen Streik geben in Barcelona und eine Demo gegen die Krise. Unsere Chefs stellten uns frei zu streiken, aber wir öffneten den Laden trotzdem. Ich bin seit neun Jahren hier, wir verkaufen Kindersachen. Ich glaube nicht, dass ein Streik etwas an der Lage in Spanien ändern kann. Nachmittags füllten sich die Straßen, gegen sechs gingen die ersten Leute auf die Polizei los. Wir wollten den Laden zumachen, aber es waren Kunden da, ein Paar mit einem dreijährigen Mädchen. Wir schlossen uns ein. Erst schlugen die Chaoten draußen die Scheiben vom Starbucks ein, dann die Fenster der Bank nebenan. Dann hämmerten drei Jungs gegen unser Schaufenster. Ich flehte sie an aufzuhören. Ich bat die Fotografen draußen, uns zu beschützen. Einige stellten sich vor unseren Laden. Am nächsten Tag zählten wir 30 Bruchstellen. Wissen Sie, Barcelona ist eine der wunderbarsten Städte der Welt, hier leben friedliche Menschen. Diese Chaoten haben nichts mit unserer Stadt zu tun.“ EMILIO MORENATTI / AP Arnau Wollen Sie jetzt besonders cool sein, Herr Seehofer? Der bayerische Ministerpräsident Horst Seehofer, 62, hat seine 6423 Facebook-Fans am 8. Mai zu einer Party in die Münchner Discothek P1 geladen. SPIEGEL: Herr Seehofer, geht’s noch? Seehofer: Absolut. SPIEGEL: Was feiern Sie? Seehofer: Ich möchte mich mit der SPIEGEL: Ein Kommentar unter Ihrer Seehofer: Als hätten wir da Nachholbe- Feier bei allen bedanken, die mich auf Facebook unterstützen. Die Meinungen meiner Facebook-Fans sind für mich wertvoll. Da darf man sich schon mal mit einer Party revanchieren. Außerdem möchte ich möglichst viele von ihnen persönlich kennenlernen. SPIEGEL: Der P1-Hauptclub hat Platz für 600 Menschen. Was machen Sie, wenn alle Ihre 6423 Facebook-Fans oder mehr vorbeikommen? Seehofer: Ehrlich gesagt, mache ich mir darüber wenig Gedanken. Normalerweise fragen Journalisten doch: Was machen Sie, wenn der Saal nicht voll wird? 50 Einladung auf Facebook hieß: „hallo horst, ist das ernst gemeint?“ Seehofer: Total ernst. Gefallen hat mir auch der Kommentar: „wer hat den account gehackt?“ Ein anderer fragt, ob er im Piraten-T-Shirt kommen darf. SPIEGEL: Man könnte denken, Sie wollen zeigen, dass die CSU auch eine Partei für junge Menschen ist. Partygänger Seehofer, Ehefrau Karin D E R S P I E G E L 1 9 / 2 0 1 2 darf. Der typische Fan von Horst Seehofer auf Facebook ist zwischen 18 und 34 Jahre alt, lebt in einer Großstadt, spricht Deutsch und Englisch. Bei unseren Wählern machen die unter 30-Jährigen mittlerweile die zweitgrößte Altersgruppe aus. Was die Resonanz bei den jungen Menschen angeht, haben uns eigentlich nur noch die Piraten etwas voraus. SPIEGEL: Ist Ihre Facebook-Party der Versuch, die Piraten auszubremsen? Seehofer: Das Thema Internet hat keine einzelne Partei gepachtet. SPIEGEL: Sind Sie auf Facebook mit Angela Merkel befreundet? Seehofer: Unsere Freundschaft ist deutlich älter als Facebook. SPIEGEL: Schreiben Sie Ihre Postings auf Facebook selbst? Seehofer: Alle Postings auf meiner Facebook-Seite, die mein Kürzel „HS“ tragen, sind von mir. Nur fürs Eintippen und Absenden bitte ich einen Mitarbeiter, das für mich zu erledigen. SEBASTIAN WIDMANN / DDP IMAGES Gesellschaft Hoch die Flasche EIN VIDEO UND SEINE GESCHICHTE: Wie drei Leipziger ein Bier in die Stratosphäre schickten „Schlucki“, ein gelbes Filzding. Budget: 900 Euro. Arbeitsstunden: etwa 300. Bleibt immer noch die Frage: warum? Sieben Jahre hatten Gregor, Kevin, Philipp in einer WG gelebt und zusammen studiert, jetzt gingen ihre Wege auseinander. Philipp zog nach Berlin, Kevin war Vater geworden. Aber ihre Freundschaft sollte bleiben. Um das zu bekräftigen, für immer, wollten sie etwas Besonderes anstellen. Freundschaft, Weltall, Bier, die heilige Dreifaltigkeit des Mannes. Am 17. März, um vier Uhr morgens, fuhren sie los, mit vier Helfern. Gegen acht Uhr standen sie auf einem lehmigen Acker bei Helmstedt. Es war kalt, es regnete. Von hier aus würde der Ballon zwar abgetrieben werden, aber nicht über die Grenze. Sie befüllten ihn mit Helium auf einen Durchmesser von zwei Metern. Unterm Ballon hing der Fallschirm, dann die Styroporkiste. Der Ballon stieg schnell. Je höher er stieg, desto niedriger der Luftdruck, desto mehr würde der Ballon sich dehnen, bis zu einem Durchmesser von zehn Metern. Dann würde er platzen. Die Konstruktion würde wieder gen Erde rauschen, vom Fallschirm gebremst. So war der Plan. Bald, wohl bei 2000 Meter Höhe, verloren sie das Signal, der Ballon war jetzt außer Netzreichweite. Sie fuhren nach Osten, wie sie es errechnet hatten. Gegen elf Uhr empfingen sie ein Signal, es kam aus einem Wald. Sie fanden Kiste, Flasche und Kamera in einer Baumkrone. Die Kamera war intakt. Gregor rief seine Eltern in Kroppen an, er komme mit Freunden, sie seien übrigens hungrig. Dann saßen sie am Couchtisch, und die Vorführung begann, drei Stunden und 39 Minuten vom Start bis zur Landung. VIMEO.COM etzt saßen sie also alle im Wohn- Wolken. Hier treiben Bakterien, reisen zimmer von Gregors Eltern, damp- Pflanzensamen; im Vergleich dazu ist die fende Kaffeebecher standen auf dem Stratosphäre trocken und nahezu keimCouchtisch, in Kroppen, Oberspreewald- frei. Aber der Ausblick ist natürlich gut. Die Logistik war kompliziert. Kunz, Lausitz, und sie fühlten sich großartig, als hätten sie den Weltraum erobert, was ja Eißfeller und Siegl hatten sich für einen halbwegs stimmte. Satt waren sie außer- Ballonflug entschieden, sie schauten sich dem: Als Gregor angerufen und seiner die Exkursionen ihrer Vorbilder an, Mutter angekündigt hatte, er sei zufällig schrieben Einkaufslisten: Kamera, Wetin der Gegend, komme vorbei, ach ja, mit terballon, Fallschirm. GPS-Tracker, um sechs hungrigen Kumpels im Schlepp, da den Landeplatz zu finden. Behälter für hatte sie hastig Berge von Käsebroten, die Flasche? Schrauben, Schnüre. Nylon? Salamibrötchen, Keksen, Gurken, Schokolade aufgetischt, und jetzt waren sie erschöpft und vor allem aufgedreht. Gleich würden sie die Bilder sehen, ihre Bilder aus dem Weltall. Gregors Vater ließ rasselnd den Rollladen herunter. Sie hatten die Kamera eingestöpselt, den Beamer aufgestellt. Und dann sahen sie den Aufstieg. Sahen die Wälder, die Wolkendecke. Sie sahen den blauen Schimmer, der die Erdkugel umgibt, sahen die gleißende Sonne, die Schwärze des Weltalls. Bierflasche und Maskottchen in der Stratosphäre Anfang dieses Jahres hatten die drei Freunde Gregor Siegl, Kevin Kunz und Philipp Eißfeller, junge Mediziner aus Leipzig, die eben ihr Studium beendet hatten und Aus der Videoplattform Vimeo an ihrer Doktorarbeit schrieben, beschlossen, eine Flasche Sternburg Export, Kevin und Gregor fuhren in den Bau0,5 Liter, 5,2 Prozent Alkoholgehalt, Richtung Weltraum zu befördern. In die markt, in Gang 16 knoteten sie die Stratosphäre. Ferner wollten sie die Fla- Schnur, die ihnen vertrauenswürdig sche wieder auf der Erde landen lassen schien, an einem der hohen Metallregale fest, dann zerrten sie daran, bis das Regal und das irre Ganze filmen. Außer diesen drei Männern ist vermut- zu wackeln begann, die Verkäufer palich noch niemand auf den Gedanken nisch angerannt kamen – Test bestanden, gekommen, eine Bierflasche in Richtung Schnur gekauft. Klebeband, Kabelbinder, Holzplatte. Weltraum zu befördern, weil es eigentlich auch keinen Grund dafür gibt. Für den Epoxidharz. Laken. Handschuhe. KlebNormalbürger stellen sich in diesem Fall stoff. Schlauchstück. Gas. Eine volle Flasche würden sie in die Styroporkiste lezwei Fragen: wie und warum? Die Stratosphäre beginnt etwa elf Ki- gen, damit sie nicht gefror und platzte; lometer über der Erde und reicht bis zu die Kamera kam ebenfalls in die Kiste. einer Höhe von 50 Kilometern, viermal Eine zweite Bierflasche, leer, würden sie so hoch, wie ein Verkehrsflugzeug fliegt. an einem Ausleger vor der Kamera beDarunter liegt die Troposphäre: eine festigen, an die Flasche würden sie das dichtere Schicht aus feuchter Luft, Wind, Maskottchen der Brauerei kleben, D E R S P I E G E L 1 9 / 2 0 1 2 J RALF HOPPE Video: Ein Bier ganz oben Für Smartphone-Benutzer: Bildcode scannen, etwa mit der App „Scanlife“. 51 Gesellschaft F RAU E N R E C H T E Zwei gute Argumente Junge Frauen aus der Ukraine demonstrieren mit nackten Brüsten gegen Prostitution und korrupte Politiker. Sie finden Nachahmerinnen weltweit. Sogar Alice Schwarzer ist auf ihrer Seite.Von Dialika Neufeld ür fünf Jahre soll sie ins Gefängnis, Oxana mit dem Puppengesicht, sie läuft neben ihrem Anwalt her, an einem kühlen Donnerstag im ukrainischen Frühling, läuft durch die Straßen von Kiew, 24 Jahre alt, in ihrer Lederjacke, schwarzen Stiefeln, die Zigarette runtergeraucht, fünf Jahre, weil sie mal wieder ihre Brüste in die Welt gehalten hat. Um 17 Uhr ist der Anhörungstermin im Innenministerium. Sie haben es eilig. Sie ziehen vorbei an Häusern aus der Stalin-Zeit, hoch und braun und grau. Sie überlegen, wie sie den Ausdruck „Leck mich am Arsch“ positiv verkaufen können, das hat Oxana Schatschko nämlich zum indischen Botschafter gesagt. „Das war ein freudiger Protest. Ein freudiger Protest für die Rechte der ukrainischen Frau“, sagt Oxana schließlich. So will sie es gleich im Innenministerium aussagen. Die Rechte der Frau, das ist Oxana Schatschkos Thema, sie ist eine ukrainische Freiheitskämpferin, und ihre Waffen sind an ihrem zierlichen, blassen Körper befestigt wie zwei halbierte Äpfel. Ihre Waffen sind Symbol der Weiblichkeit, Symbol der Mütterlichkeit, Symbol der Sexualität, millionenfach genutzt von Filmern, Werbern, um alles zu verkaufen, vom Joghurt bis zum Staubsauger. Sie haben Oxana und ihren Kampf auf die Titelseiten der Welt gebracht. Haben sie und ihre Mitstreiterinnen zu den Covergirls des internationalen Protests gemacht, zu den Ikonen der Nacktrebellion. Mit diesen Waffen, so glauben ihre Unterstützer, haben die Frauen einen neuen Feminismus erfunden. Mit diesen Waffen, so finden ihre Kritiker, pornografisieren sie sich selbst. Sie waren 16, 17 Jahre alt, als es begann, erzählt Oxana, die Älteste von ihnen Anfang zwanzig, und ihre Eltern wünschten ihnen eine frühe Ehe. Oxana, Anna Huzol und Sascha Schewtschenko, so heißen 52 F die Erfinderinnen. Sie lebten damals noch in Chmelnizky, einer Stadt mit 300 000 Einwohnern und zwei Atomreaktoren. Arbeit gab es kaum, die Männer tranken. Und die Mädchen diskutierten an langen Abenden über Philosophie, Marxismus und die Situation der Frau in der postsowjetischen Gesellschaft. Sie entschieden, dass sie nicht heiraten, sondern etwas verändern sollten. Zuerst waren sie nur zu dritt. Mittlerweile sind sie über 300 Frauen in der Ukraine. Studentinnen, Journalistinnen, Wirtschaftswissenschaftlerinnen, sie nennen sich „Femen“ und haben eine Bewegung begründet, die Frauen in Tunesien und Amerika angesteckt hat. Eine Bewegung, die selbst erfahrene Frauenrechtlerinnen dazu bringt, sich auszuziehen. „Vielleicht brauche ich politisches Asyl“, sagt Oxana jetzt, „das, was sie mir vorwerfen, ist absurd.“ Sie und ihr Anwalt sind beim Innenministerium angekommen. Oxana ist professionelle Ikonenmalerin, sie lebt in einem Altbauzimmer in Kiew mit grüngeschimmelter Decke. Eigentlich hat sie also einen Beruf und ein gewöhnliches ukrainisches Leben, arm und im Aufbruch. Doch ihr Zimmer ist zugestellt mit Protestplakaten, und an die Wand hat sie eine Femen-Kämpferin gemalt, mit wehendem Haar und nackten Brüsten. Das Selbstporträt einer Frau, die Ärger macht. Erst vor ein paar Tagen ist sie aus einem Moskauer Gefängnis zurückgekommen, weil sie versucht hatte, oben ohne die Wahlurne mit Putins Stimmkarte zu klauen. Zwei Wochen lang saß sie dafür in der Zelle. Jetzt ist sie angeklagt, als Hooligan die indische Botschaft besetzt zu haben. Die Frauen aus postsowjetischen Staaten, so soll das indische Außenministerium behauptet haben, würden nach Indien D E R S P I E G E L 1 9 / 2 0 1 2 Nach einem Papstgebet im Vatikan Beim Weltwirtschaftsforum in Davos Internationale Femen-Proteste: „Der bloße Busen Vor dem Parlament in Kiew FABRICE COFFRINI / AFP wird zur Waffe“ D E R S P I E G E L 1 9 / 2 0 1 2 53 DPA Während des Internationalen Frauentags in Istanbul EFREM LUKATSKY / AP PIER PAOLO CITO / AP Gesellschaft dem Haar, dicker Augenschminkommen, um da als Prostituierte ke, hohen Schuhen. Anna ist zu arbeiten. klein und ernst, trägt rote GumDie indische Botschaft bestritt mistiefel, das Haar hat sie sich das zwar, dennoch stürmte kurz geschnitten und rot gefärbt, Oxana zusammen mit drei ansie ist mit 27 Jahren die Älteste deren Frauen das Gebäude. Sie der Gruppe und neben Oxana schwenkte die indische Flagge, und Sascha so etwas wie die schlug sie gegen Fenster und Chefideologin. Türen. Sie rief: „Ukrainerinnen Damals, in Chmelnizky, mit sind keine Prostituierten“ und 21 Jahren, fing sie an, August Beeben: „Leck mich am Arsch.“ bel zu lesen, den Begründer der Solche Protestaktionen beginsozialdemokratischen Arbeiternen meistens im Café Kupidon. bewegung in Deutschland. Sie Während Oxana im Innenminislas, dass Bebel schon Ende des terium ihre Aussage macht, sitzt 19. Jahrhunderts einen Entwurf Anna Huzol hier an einem Holzzur Gleichberechtigung der Frautisch und arbeitet an der nächsen ins Parlament eingebracht ten Aktion. Das Kupidon liegt hatte. Und dann sah sie sich um im Keller eines hohen Stadthauin ihrem Leben und dem ihrer ses in der Puschkinskaja uliza. Freundinnen und stellte fest: Es Das Lokal ist fensterlos, es ist hat sich nichts geändert. das Hauptquartier, Büro und Sie erzählte jedem, was sie gePressezentrum von Femen. Hier lesen hatte. Sie fand Anhängerekrutieren sie neue Mitglieder, rinnen, und zusammen mit Oxamanchmal kommen die sogar na und Sascha gründete sie eine ganz von selbst, hübsche MädGruppe, die sie „Neue Ethik“ chen mit einem Ideal, 30 Nacktnannten. Sie veranstalteten Disaktivistinnen sind es mittlerweikussionsrunden an der Uni, wo le. Hier treffen sie sich, trinken Anna Wirtschaft studierte, und Apfelsaft und rauchen Kette. bald die ersten Demos. Zuerst Das Bild der ukrainischen noch angezogen. Die Sache mit Frau ist geprägt vom Klischee: den Brüsten fing erst zwei Jahre schön, arm und leicht zu haben. später in Kiew an. Frauenhandel und Prostitution „Von Anfang an wusste ich: blühen im Land der Fußball-EuIch will nicht zu so einer typiropameisterschaft. Überall in schen feministischen OrganisaKiew, in der U-Bahn, in Klein- Aktivistin Schatschko: „Vielleicht brauche ich politisches Asyl“ tion mutieren“, sagt Anna Huanzeigen, werden Frauen mit verschatteten Arbeitsversprechen gelockt. geht nicht nur um Frauenrechte, es geht zol. „Ich wollte keine Organisation, in Hinter der „Kellnerin im Club“ versteckt auch um Wirtschaft und Korruption, ge- der die Frauen reden, reden, reden, die gen Putin oder gegen Berlusconi. Es geht Jahre vergehen und nichts passiert. Wir sich oft die Nutte im Puff. Viele gehen auf diese Angebote ein, nicht um die Haftbedingungen von Julija haben mehr Extremismus in der Frauenweil sie arm sind und ohne Perspektive. Timoschenko, um die sich gerade ganz bewegung gebraucht.“ Ab 2008 gingen sie nacheinander nach Fast neun Prozent der Ukrainer sind ar- Europa zu drehen scheint. Die Femenbeitslos, davon ein Großteil Frauen. Frauen sagen: Timoschenko gehört einer Kiew, erst Anna, dann Sascha und zum „Wenn der Frauenkörper alles Mögliche Oligarchen-Clique an, die sich mit ande- Schluss Oxana. Sie fingen an, für die verkaufen kann, dann müssen wir damit ren Oligarchen streitet. Sie sehen keinen Rechte der Studentinnen einzutreten. Doch der Kampf gegen Prostitution und auch soziale Ideen verkaufen“, sagt Anna Grund, etwas für Timoschenko zu tun. Sextourismus wurde schnell so etwas wie und drückt ihre Kippe in einen vollen ihre Kernkompetenz. „Das Thema hing Aschenbecher. Das erste Mal zogen sie in der Luft“, sagt Anna. Weil es so nervte, so im Sommer 2008 los. In Hurenkleidern dass sie als normale Frauen nicht einmal gingen sie auf die Straße. „Die Ukraine die Kreschtschatik hinunterlaufen konnist kein Bordell“, schrien sie und hielten ten, ohne dass sie jemand fragte: „Wollen ihre Plakate in die Luft. Die Medien bewir vielleicht vögeln gehen?“ richteten darüber, sofort entstand eine Von nun an nannten sie sich Femen. Debatte, und die Frauen verstanden: Anna hatte gelesen, dass es einen Teil des Skandale zu produzieren bedeutet Macht. Heute planen sie eine Reise nach Paris. weiblichen Oberschenkelknochens gebe, Das jedenfalls ist ihre Hoffnung. 2009 machten sie ihren ersten Nackt- Eine Gruppe französischer Feministinnen der lateinisch „Femen“ heiße. Das stimmt protest. Auf dem Kreschtschatik, dem hat sie eingeladen. „Morgen muss ich nicht ganz. „Femen“ bedeutet einfach Ku’damm von Kiew, zogen sie gegen In- auch noch nach Moskau fliegen, für eine Oberschenkel, sowohl bei Frauen als auch ternetpornos auf. „Zuerst war es noch Fernsehshow“, sagt Anna. Eigentlich soll- bei Männern. Aber es klang gut. Vor alpeinlich“, sagt Anna, „wir hielten unsere te Oxana das übernehmen, aber die darf lem klang es nach starken Frauen. Der westliche Feminismus hat in seiner Brüste mit den Händen zu“, aber die Re- nun bis an ihr Lebensende nicht mehr Geschichte die verschiedensten Protestsonanz war gut. Und beim nächsten Mal nach Russland einreisen. Anna Huzol ist zu einem begehrten formen versucht, von Sabotageakten und machten sie es wieder. Irgendwann war der Busen nur noch eine Uniform für sie. Gesicht geworden. Sie sieht anders aus Bomben in Abgeordnetenbriefkästen im Die Themen, zu denen sie demonstrie- als die meisten Femen-Mädchen, die ihre 19. Jahrhundert über Großdemonstratioren, finden sie in den Nachrichten. Es Schönheit ausstellen, mit wasserstoffblon- nen bis hin zu BH-Verbrennungen Ende Haben sie einen neuen Feminismus erfunden? Oder pornografisieren sie sich selbst? 54 D E R S P I E G E L 1 9 / 2 0 1 2 VALERIA MITELMAN / DER SPIEGEL der sechziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts. In Deutschland wurde der Kampf gegen den Paragrafen 218 zu einer breiten Bewegung. Anfang der siebziger Jahre wurde „das Private politisch“, und es gingen Hunderttausende Frauen für das Selbstbestimmungsrecht in der Abtreibungsfrage auf die Straße. Doch nach den großen Zeiten der Bewegung in Deutschland und Europa kam seit den neunziger Jahren lange Zeit nichts mehr. Alles schien erreicht. Femen kommt aus einem Europa, das erst seit 20 Jahren Demokratie versucht, ein Europa, in dem es die größte Hoffnung vieler 16-Jähriger ist, nach dem Studium einen guten Mann zu finden und irgendwann einmal Mutter zu sein. Ein Europa, in dem Männer im Internet Frauen bestellen können wie Sportschuhe und in dem man eingesperrt wird, wenn man seine Brüste zeigt. „Deshalb schreien wir und zeigen uns“, sagt Anna, nicht nur in der Ukraine, sondern in ganz Europa, „denn bei euch ist auch längst noch nicht alles gut.“ Sie gehen im Hausmädchenkostüm in Paris auf die Straße, schreien „Schande“ vor der Tür von Do- Femen-Chefideologin Huzol: Von August Bebel gelernt minique Strauss-Kahn. Sie gehen Alice Schwarzer hat erbitterte Kämpfe in Kiew auf die Straße, wenn in der Ukraine ein Mädchen vergewaltigt und getötet gegen das Zurschaustellen weiblicher wird, wie es Ende März einer 18-Jährigen Nacktheit geführt. Warum hebt sie die geschah. Sie schreien auch gegen die Fuß- Brüste ukrainischer Blondinen jetzt auf ball-EM und gegen den Sextourismus, den einen „Emma“-Titel? Fragt man Alice Schwarzer, wie sie die diese bringen wird. Alles mit nacktem Oberkörper. „Wir versuchen, der Brust als Gruppe sieht, dann will sie lieber schriftSymbol einen anderen Kontext zu geben.“ lich antworten, in druckfertigen Sätzen. Sie schickt eine E-Mail, es kommt ihr Eine Brust könne auch politisch sein. „Die Reaktion auf einen Nacktprotest wohl auf jedes Wort an. Sie schreibt: „Die Femen fangen den ist ein Maßstab für Freiheit in einem Land“, sagt Anna. „In der Schweiz wer- Bumerang in der Luft auf und werfen ihn den wir nicht festgenommen, aber in zurück. Der bloße Busen, der sie gemeinWeißrussland werden wir fast umge- hin zum Objekt macht, wird bei ihnen zur Waffe. Sie setzen ihn als Blickfänger bracht.“ Im Durchgang zum Klo des Café Kupi- ein, um ihre Message an den Mann zu don steht der Schrein der Bewegung: eine bringen: eben den Protest gegen die EntVitrine voller Femen-Fanartikel, Kaffee- blößung von Frauen! Gegen Prostitution! tassen, T-Shirts, bedruckt mit zwei stili- Gegen Frauenhandel! Das finde ich gut.“ Die Mittel von Femen seien typisch für sierten Brüsten in den ukrainischen Nationalfarben, das ist das Femen-Logo. Es die spielerische Ironie der zweiten beziesieht hier mehr nach Popkultur aus, we- hungsweise dritten Feministinnengeneration, schreibt Schwarzer. Aber es sei auch niger nach Frauenbewegung. Sogar die „Emma“, das große Blatt des eine Gratwanderung, auf der die Frauen Feminismus in Deutschland, widmete leicht ausrutschen könnten. „Neulich ihnen kürzlich eine Titelgeschichte, von habe ich gesehen, dass die Femen für die Alice Schwarzer, der vordersten Anti-Por- Zeitschrift ,Elle‘ ganz nackt posiert hano-Kämpferin, selbst geschrieben: „Die ben. Das ist so ein Ausrutscher. Jetzt müsMädels sind nicht nur mutig und schlau“, sen sie aufpassen, dass der Bumerang schreibt Schwarzer, „sondern auch ziem- nicht zurückfliegt – und sie zum Objekt werden.“ lich kreativ.“ D E R S P I E G E L 1 9 / 2 0 1 2 Dennoch hat sie die Frauen jetzt nach Deutschland eingeladen, sie planen einen gemeinsamen Protest. Sie scheinen sich anzunähern, die alten und die neuen Feministinnen. Die alten, die heute manchmal wirken, als wären sie aus der Zeit gerutscht. Die jungen, die erkannt haben, dass Aufmerksamkeit Medien braucht. Und dass Medien nun mal Brüste lieben. So sind sie schon lange nicht mehr allein mit ihrem neufeministischen Protest. Da gibt es die Pussy-Riot-Frauen mit ihrem feministischen Punkrock aus Moskau. Sie sitzen in U-Haft. Weil sie die Kanzel einer Kirche gestürmt und gegen Putin gewettert haben, drohen ihnen sieben Jahre Gefängnis. Da sind die Slutwalks in den USA. Da war die ägyptische Kunststudentin Aliaa Magda al-Mahdi, die sich im Kampf für ihre sexuelle Selbstbestimmung ausgezogen hat und deren Foto um die Welt ging. Und selbst in Tunesien hat sich erst kürzlich ein Femen-Ableger gegründet. Manchmal begegnen sie sich auch im echten Leben, die alten und die neuen Feministinnen, das eine Europa und das andere, manchmal benutzen sie sich gegenseitig. Eine Woche nach ihrer Anhörung im Innenministerium, an einem frühlingshaften Freitag, steht Oxana Schatschko in Paris am Trocadero, im Hintergrund der Eiffelturm. Eine Gruppe französischer Frauenrechtlerinnen hat Femen eingeladen, hat ihnen den Flug bezahlt, ein Apartment besorgt. Sie wollen sich gemeinsam ausziehen. Eigentlich darf Oxana Kiew bis zu ihrem Prozess nicht verlassen. Das musste sie unterschreiben. Es wird mindestens noch einen Monat dauern, bis sie Klarheit über ihre Strafe hat. „Hauptsache, dabei“, sagt sie, „so ein schöner Ort zum Demonstrieren.“ Zusammen mit Sascha Schewtschenko, mit langem blondem Haar und Fliegerbrille, und Inna Schewtschenko, auch blond und in Hot Pants, steht sie zwischen Touristen, die Fotos machen. Links spielt eine Panflöte, rechts werden Crêpes verkauft. Aber Oxana, Sascha und Inna sehen all das nicht, sie sind hier, um den Platz auszuspionieren. Sie müssen nach Polizisten schauen, Fluchtwege checken, Angriffspunkte minimieren. Morgen, das ist der Plan, werden sie diesen Platz einnehmen, zusammen mit den Französinnen. Es soll um die Rechte der muslimischen Frau gehen, um die Burka. Die Idee zu diesem Protest stammt von Safia Lebdi, der Frau, die Femen nach VALERIA MITELMAN / DER SPIEGEL 55 Gesellschaft Frankreich geholt hat. Sie sitzt im Maison de la Mixité, einem Kulturzentrum im Erdgeschoss eines Plattenbaus im Pariser Osten. Sie ist eine militante Feministin, so steht es in ihrem Wikipedia-Eintrag. Sie ist bekannt im Land, als Gründungsmitglied der Frauenrechtsorganisation „Ni putes, ni soumises“, weder Huren noch Untergebene. Außerdem ist sie Grünen-Politikerin, sie spricht mit lauter Stimme, dabei wippen ihre schwarzen Locken: „Morgen werden wir unseren Sex auf den öffentlichen Platz werfen. Das ist cool, das ist frisch“, sagt sie, und man fragt sich, worum es jetzt gerade eigentlich geht, um muslimische Frauenrechte oder um nackte Brüste? Und wohin führen diese Aktionen eigentlich? Zum Umdenken der Männer? Oder einfach zu einem freien Blick auf schöne Körper? Oxana, Sascha und die anderen Femen-Mädchen stehen im Nachbarraum und malen Plakate für den nächsten Tag, mit dicken Pinseln und schwarzer Farbe. Sprüche wie „Muslim women let’s get naked“, „Nudity is freedom“ oder „Afghanistan take off your clothes“. Lebdi hat Spenden gesammelt, um die Frauen aus der Feministin Inna Schewtschenko*: Fluchtwege checken Ukraine einzuladen. Wochen„Sollen wir ein Fragezeichen dahinterlang hat sie Unterstützerinnen gesucht, hat herumtelefoniert, alle Frauenrecht- machen?“, fragt Sascha. „Nein, das ist keine Frage“, sagt Safia lerinnen angeschrieben, die sie kannte. Feministinnen, die bereit wären, sich für Lebdi, ihre Locken tanzen jetzt auf dem die Sache auszuziehen. „Es war sehr Kopf, „wenn wir das machen, werden die schwer, die Frauen zu überzeugen. Da anderen Frauen abspringen.“ Es gebe ist viel Angst. Auch Angst, über die Bur- einen Unterschied zwischen Islam, Islaka zu sprechen“, sagt sie. Sie habe Hun- mismus und Fundamentalismus, sagt sie, derte Frauen angefragt. Jetzt rechnet sie das seien völlig verschiedene Sachen. mit 20 Teilnehmerinnen, überwiegend mit arabischem Hintergrund. Lebdi weiß, dass sie von Femen profitieren kann. Sie benutzt Femen, um Aufmerksamkeit für ihre feministischen Themen zu bekommen. Weil es leichter ist, gehört zu werden, wenn halbnackte Ukrainerinnen neben einem stehen. Und umgekehrt benutzt Femen die Feministinnen aus Oxana, Sascha und Inna schauen mit Frankreich, um nach Paris zu kommen und neue Bilder von sich in die Welt zu leerem Gesicht auf das Plakat, und es wird klar: Darüber haben sie noch nie nachschicken. Am nächsten Morgen stehen Oxana, gedacht. Sie sind gut darin, mit fanatiInna und Sascha vor einem roten Tisch schen Gesichtern Parolen zu skandieren, voller Farben und Pinsel, sie reden dar- sie sind mutig, sie riskieren viel. Aber die über, wie diese Bilder aussehen sollen. Unterschiede zwischen Islam und IslamisWas für einen Spruch sie sich auf die Brüs- mus? Lebdi jedenfalls sorgt dafür, dass sie te malen sollen. Safia Lebdi steht dane- das Plakat im Müll versenken. ben, sie entdeckt ein Plakat, auf dem steht: „Islam is the religion of sadism.“ * Das Foto aus Kiew gewann vergangene Woche beim „Nein“, sagt Lebdi, „nein. Damit bin World Press Photo Award den zweiten Preis in der ich nicht einverstanden.“ Kategorie Porträts. Am späten Vormittag kommen die ersten Aktivistinnen an im Maison de la Mixité. Die iranische Frauenrechtlerin Maryam Namazie ist aus London angereist, auch die libanesischstämmige Schauspielerin und Buchautorin Darina al-Joundi ist da. Die Frauen essen Kuchen und lachen und werfen nach und nach ihre Kleider ab. Sie tackern aus schwarzem Stoff lange Burkas zusammen, die sie sich überziehen und dann wegwerfen wollen, um den Schockeffekt zu vergrößern. Oxana, die Künstlerin, beschriftet ihre Körper: „Nackter Krieg“. Das steht jetzt auf den jungen Brüsten, und auf den etwas älteren Brüsten kann man lesen: „Ich bin eine Frau und kein Objekt.“ Sie stecken sich ihre Pässe in die Unterhose, für den Fall, dass sie festgenommen werden. Sie stellen sich vor den anderen Frauen auf und geben ihnen letzte Anweisungen. „Wir sind eine kleine Armee, aber eine starke“, sagt Inna. „Wir zählen eins, zwei, drei, vier, und dann werfen wir unsere Burkas weg.“ Die Frauen stellen sich in einen Halbkreis, Inna zählt, und dann werfen sie ihre Schleier fort. „Nicht posen“, sagt Inna dann. „Ihr seid keine Models, ihr seid Soldatinnen.“ Als sie um 14 Uhr beim Trocadero aus den Taxen steigen, in ihre schwarzen Schleier gehüllt, Seite an Seite, der alte und der neue Feminismus, werden sie von etwa 40 Journalisten erwartet, von ihren Videokameras und Mikrofonen. Inna hat den Medien Zeit und Ort der Protestaktion gesteckt. So machen sie es immer, und es funktioniert jedes Mal. Auch fünf Polizeiwagen sind gekommen. Oxana, Inna und Sascha rennen auf den Platz, die anderen Frauen laufen hinter ihnen her. Sie werfen ihre Schleier fort, recken die Plakate in den grauen Pariser Himmel, die Französinnen nackt bis auf die Jeans, die Ukrainerinnen nackt bis auf ihre schwarzen Unterhosen, und sie schreien, bis ihre Stimmen brechen. Die Polizisten folgen den Frauen über den Platz, sie stellen sich vor ihnen auf. Sie grinsen. Sie wollen niemanden festnehmen, sie wollen nur gucken. GUILLAUME HERBAUT/INSTITUT FOR THE ARTIST MANAGEMENT Über den Unterschied zwischen Islam und Islamismus scheinen sie nicht nachgedacht zu haben. Video: Nackter Protest Für Smartphone-Benutzer: Bildcode scannen, etwa mit der App „Scanlife“. 56 D E R S P I E G E L 1 9 / 2 0 1 2 Gesellschaft BERLIN Danke ORTSTERMIN: In der Berliner Charité lernt ein verletzter Flüchtling aus Syrien, was ein Leben in Deutschland bedeutet. inen Monat nach seiner Flucht sitzt Salah in einem deutschen Krankenhaus auf einem Bett, seine Hände liegen im Schoß, die rechte Hand umschließt den Zeigefinger der linken Hand. Vor ihm sitzt eine Oberärztin mit Perlenohrringen. Sie sagt: Ziehen Sie bitte mal Ihre Hose aus. Salah zögert einen Moment, dann zieht er seine Hose nach unten und sagt: „Danke“. Es ist eins der Wörter, die er gelernt hat. „Freund“, „Borussia Dortmund“, „Danke“. Vor einem Monat wusste er von Deutschland nur, dass der FC Bayern dort spielt und dass die Autos von Audi dort hergestellt werden. Salah, 38 Jahre alt, stammt aus Syrien, aus der Hölle Assads, aus der Stadt Homs. Seine Flucht führte ihn zunächst in die Keller von Homs, wo Ärzte seine Wunde zunähten, er schlief mit zehn Mann in einem Raum, er sah, wie eine Granate seinen Laden zerstörte, er humpelte durch das Granatfeuer aus der Stadt und fuhr mit dem Bus bis nach Jordanien, zog in einen Schuppen, gab die Hoffnung auf, und dann, am 26. März um 1.45 Uhr, stieg er in Amman in ein Flugzeug der Lufthansa, LH 693. Die Stewardess lächelte und fragte: Chicken or Pasta? Salah betrachtete die blonden Frauen, sie brachten Coca-Cola in kleinen Bechern aus Plastik und schienen keine Sorgen zu haben. Er aß ein Gericht ohne Geschmack, dann schlief er ein. Als er in Deutschland landete, ging gerade die Sonne auf. Salah ist einer der ersten Syrer, die mit Hilfe des Auswärtigen Amts nach Deutschland geflogen sind. Er wurde von den Diplomaten ausgewählt, weil seine Verletzung so schwer ist, dass ihm in Syrien oder Jordanien nicht mehr geholfen werden konnte. Ein Gewehrprojektil hat Salah die rechte Gesäßbacke durchbohrt und den Ischiasnerv beschädigt. Sein Bein ist gelähmt, vom Knie abwärts. Die Ärzte wollen versuchen, das Narbengewebe zu entfernen, das sich an dem Nerv gebildet 58 E hat. So könnte der Nerv wieder funktionieren. Als Salah nach seiner Landung in Frankfurt am Main am Zoll einen deutschen Grenzbeamten in Uniform sah, zuckte er zusammen. Wo er herkommt, bedeutet eine Uniform Gefahr. Der Zollbeamte in Frankfurt stempelte seinen Pass und lächelte. Salah ging durch den Flughafen, sah die polierten Böden, die großen Men- schen, die alle ein Ziel zu haben schienen, und dachte, dass Deutschland aussieht wie von Audi designt. Als sein Land noch nicht so zerschossen war, arbeitete er als Kleidungshändler auf dem Basar von Homs. Seine Hobbys waren Fußball und Grillen am Strand, Lammfleisch mit Zitronensaft. Der Schuss kam aus der Kalaschnikow eines Polizisten und traf Salah an einem Freitag nach dem Gebet. Er hatte gegen Assad demonstriert und war bei der Demonstration in der ersten Reihe gelaufen. Die Schmerzen kamen später. Salah merkte nur, dass sein Bein ihm nicht mehr gehorchte, und er sah, wie das Blut in seine Jeans floss. D E R S P I E G E L 1 9 / 2 0 1 2 Er kam in ein Lazarett der Rebellen, in eine Wohnung an einem geheimen Ort. Der Operationssaal war im Schlafzimmer. Salah wartete zwei Tage auf seine Operation. Die Ärzte behandelten erst die Verletzten mit den Kopfschüssen. In Deutschland flog er weiter von Frankfurt nach Berlin, dort holten ihn drei Helfer vom Flughafen ab und fuhren ihn in die Charité. Eine Krankenschwester fragte Salah nach einer Krankenversicherungskarte. Er sagte, die einzige Versicherung, die er habe, sei bei Gott. Die Kosten für seine Behandlung übernimmt eine Hilfsorganisation aus Syrien. Salah kam in ein Zimmer und schlief lange. Als ein Helfer später fragte, ob er sich ein wenig Berlin angeschaut habe, sagte er ja. Salah dachte, die Charité sei Berlin. Am nächsten Morgen kam das Frühstück um sieben Uhr, Marmelade aus einem Plastikschälchen, eine Scheibe Gouda, Butter, zwei Scheiben Graubrot. In Homs, als noch Frieden war, hatte Salah gern um elf Uhr gefrühstückt, frisch gebackenes Fladenbrot aus Weizenmehl, handwarm. Als er nun in sein kaltes Berliner Graubrot biss, wusste er, dass auch in Deutschland nicht alles gut war. Die Operation soll in einer anderen Stadt durchgeführt werden. Salah lebt bis dahin im Hotel hinter verschlossenen Vorhängen. Er bittet darum, dass der Name der Stadt geheim bleibt, Salah ist auch nicht sein richtiger Name. Er fürchtet, der syrische Geheimdienst könnte ihn in seinem Hotelbett erschießen. An dem bisschen Deutschland, das er kennt, ist ihm aufgefallen, dass sogar Fahrräder eigene Wege auf die Straßen gemalt bekommen. Das findet er schön. Aber wenn er abends im Dunkeln in seinem Hotelzimmer liegt, hämmert der Krieg in seinem Kopf. Er träumt dann, dass ihn der Geheimdienst verhaftet. Manchmal ruft er seinen Freund Rabi an, der in Homs ausharrt, und hört still zu, wenn Rabi erzählt, wer TAKIS WÜRGER gestorben ist. Trends Aldi-Filiale Ramsauer SUBVENTIONEN Aldi kassiert Geld vom Staat Der Discounter Aldi erhielt in den vergangenen Jahren staatliche Subventionen in beträchtlicher Höhe. Sowohl Aldi Nord als auch Aldi Süd hatten beim Bundesamt für Güterverkehr (BAG) Fördermittel für Unternehmen des Güterkraftverkehrs beantragt. Warum und in welcher Höhe der Handelskonzern mit einem weltweiten Umsatz von 57 Milliarden Euro staatliche Unterstützung für Fort- und Weiterbildungsmaßnahmen bekam, ist unklar. Auskünfte dazu verweigert das BAG vorerst, da diese „Betriebs- oder Geschäftsgeheimnisse“ von Aldi betreffen könnten. „Bei den erbetenen Informationen handelt es sich um unternehmensbezogene Informationen, die nicht offenkundig sind und bei denen ein Geheimhal- tungswille von Aldi nicht ausgeschlossen werden kann“, hieß es. Auch Bundesverkehrsminister Peter Ramsauer, dessen Behörde das BAG unterstellt ist, äußerte sich nicht, sein Ministerium teilte lediglich mit: „Sofern die Fördervoraussetzungen für die Unternehmen von ALDI Süd bzw. Nord zutreffen, sind diese auch zuwendungsberechtigt.“ Selbst dem Parlament werden Auskünfte über die Verwendung der staatlichen Gelder verweigert. Eine kleine parlamentarische Anfrage der Grünen-Abgeordneten Valerie Wilms wurde mit der Aussage beantwortet, die Datenverarbeitung der BAG sei nicht „so ausgelegt“, dass man sagen könne, welche Unternehmen wie hoch gefördert würden. „Es ist ärgerlich, als Abgeordnete im Nebel stochern zu müssen und keine klaren Auskünfte zu bekommen, was mit Steuergeldern und Fördermitteln eigentlich passiert“, sagt Wilms. „Die Förderungen sollen bei der Aus- und Weiterbildung helfen und nicht das Sparprogramm eines Discounters aufpeppen. Sollte ein milliardenschwerer Laden wie Aldi tatsächlich diese Gelder anzapfen, wäre das unverschämt.“ Sowohl Aldi Süd als auch Aldi Nord bestätigten den Erhalt der Subventionen, verwiesen aber auf die Prüfung durch das BAG. V O L K S WA G E N Gehaltsobergrenze für Vorstände Bernd Osterloh, Betriebsratschef des VW-Konzerns, plant, die Bezahlung des Vorstands zu ändern. VolkswagenChef Martin Winterkorn hatte im vergangenen Jahr einschließlich der Bezüge bei der Porsche Automobil Holding SE 18,3 Millionen Euro verdient – so viel wie zuvor kein Boss eines DaxKonzerns. Die Summe löste eine Debatte über die Bezahlung von Managern aus. VW-Betriebsrat Osterloh sagt: „Sicherlich wird es bei VW Veränderungen geben.“ Als die Ziele für das Management 2009 vereinbart wurden, habe „keiner bei VW mit einem solch positiven Geschäftsverlauf 60 Winterkorn, Osterloh D E R S P I E G E L 1 9 / 2 0 1 2 gerechnet“, der die Vorstandsvergütungen in die Höhe schießen ließ. Dadurch betrug der Mindestlohn für die Mitglieder des VW-Konzernvorstands im vergangenen Jahr gut sieben Millionen Euro. „Jetzt müssen wir darauf entsprechend reagieren“, sagt Osterloh. Die Arbeitnehmervertreter hätten das Thema im Präsidium des VWAufsichtsrats bereits zur Diskussion gestellt. Offen sei, ob die Ziele für das Management angehoben werden, damit sich solche Gehälter nicht wiederholen können – oder ob der Autokonzern eine Obergrenze für die Vorstandsbezahlung einführt. Osterloh fordert zugleich eine Anhebung des Spitzensteuersatzes: „Warum sollen ab einem Einkommen oberhalb von zehn Millionen Euro keine 75 Prozent Steuern erhoben werden?“ WALTER SCHMIDT / NOVUM MICHAEL GOTTSCHALK / DAPD JOCHEN ZICK / ACTION PRESS Wirtschaft T E L E KO M M U N I K AT I O N Mobilfunk ohne Masten Die drittgrößte deutsche Handy-Gesellschaft, E-Plus, will Tausende Mobilfunkmasten und Sendestationen an einen Finanzinvestor verkaufen. Erste Gespräche mit möglichen Interessenten hat E-Plus-Chef Thorsten Dirks in den vergangenen Wochen aufgenommen. Grund für den geplanten Millionendeal ist der permanent hohe Finanzbedarf des Düsseldorfer HandyAnbieters. Seit Monaten versucht das Unternehmen mit seinen Marken E-Plus, Base und Simyo den Mobilfunkmarkt mit aggressiven Flatrate-Angeboten aufzumischen und Konkurrenten wie der Telekom oder Vodafone Marktanteile abzujagen. Erst vor drei Wochen schockte der Düsseldorfer Mobilfunker die Konkurrenz mit einem neuen Tarif, in dem mobiles Internet, SMS und Telefongespräche für eine monatliche Pauschale von 20 Euro ange- boten werden. Nachteil des aggressiven Kurses: Es fehlt Geld für den dringend notwendigen Netzausbau. Das will Dirks nun über den Verkauf der Sendemasten einnehmen. Nach einem erfolgreichen Deal sollen die Stationen dann mit langfristigen Verträgen wieder angemietet werden. Offiziell will sich E-Plus nicht zu dem geplanten Verkauf äußern, verweist aber auf die niederländische Mutter KPN. Die hatte bereits Ende vergangenen Jahres in den Niederlanden damit begonnen, Sendemasten zu verkaufen, und in einer ersten Tranche 78 Millionen Euro eingenommen. S TA AT S F I N A N Z E N Mehr Kontrolle Finanzminister Wolfgang Schäuble möchte ein unabhängiges Kontrollgremium einrichten, das darüber wacht, dass Bund und Länder künftig verschärfte Etatdisziplin wahren. Es soll als Beirat des Stabilitätsrats firmieren, in dem Bund und Länder ihre Finanzpolitik abstimmen. Mitglieder werden Vertreter der Bundesbank und des Sachverständigenrats sein, aber auch Wissenschaftler. Aufgabe des Beirats ist es, eine Schätzung des Staatsdefizits vorzulegen „und Empfehlungen zur Einhaltung des mittelfristigen Haushaltsziels abzugeben“, heißt es in einem Eckpunktepapier des Finanzministeriums. Mit den Plänen will Schäuble Vorgaben des Fiskalpakts in deutsches Recht umsetzen. Der Pakt erlaubt Euro-Ländern nur noch ein strukturelles Defizit von 0,5 Prozent des Bruttoinlandsprodukts. Weichen sie vom Konsolidierungspfad ab, können Strafzahlungen fällig werden. 65 Prozent davon soll der Bund tragen, 35 Prozent die Länder. Sendeanlage QUERSCHNITT Private und öffentliche Forschungsausgaben in Prozent des BIP 2012 (Prognose) 3 und mehr 2 bis unter 3 1 bis unter 2 unter 1 keine Angabe Hauptsitze der 100 europäischen Unternehmen mit den höchsten Forschungsausgaben 2010 Finnland führt Weltweit werden die 40 wichtigsten Industriestaaten in diesem Jahr voraussichtlich rund 1,4 Billionen Dollar für Forschung und Entwicklung (F&E) ausgeben – 5,2 Prozent mehr als 2011. Jedes der 40 wichtigsten Forschungsländer erhöht laut einer Studie des amerikanischen Battelle-Instituts sein Budget, Ausnahme ist das krisengeplagte Griechenland: Dort werden nur 0,5 Prozent des Bruttoinlandsprodukts in F&E investiert. In Europa führt Finnland mit 3,8 Prozent die Liste der forschungsstärksten Standorte an, Deutschland rangiert mit 2,87 Prozent im oberen Mittelfeld. Die finnische Spitzenposition ist vor allem der herausragenden Stellung von Nokia geschuldet: Die Ausgaben des Mobilfunkkonzerns entsprachen 2010 rund vier Fünftel der nationalen Forschungsaufwendungen. Im europäischen Konzernvergleich gibt Volkswagen das meiste Geld aus: 6,26 Milliarden Euro fließen in die Labore. GETTY IMAGES 1 GlaxoSmithKline 4,38 Mrd. € 5 4 Sanofi-Aventis 4,39 Mrd. € Volkswagen 6,26 Mrd. € Daimler 4,85 Mrd. € 2 3 Nokia 4,94 Mrd. € Quelle: Battelle, IRI D E R S P I E G E L 1 9 / 2 0 1 2 61 Wirtschaft THOMAS LOHNES / DAPD Top-Manager Franz, Vorstandsmitglied Spohr (r.): Mit Kürzeln und Fachbegriffen gespickte Kriegserklärung LUFTHANSA Pingpong Konzernchef Christoph Franz verschreckt die Belegschaft mit einem radikalen Sparkonzept. Er will die Billigtochter Germanwings und große Teile des Europaverkehrs zusammenlegen. Die Kosten sollen sinken – die Preise nicht. eden Freitag bekommen die Angestellten der Deutschen Lufthansa die neue Ausgabe ihrer Mitarbeiterzeitung; viele von ihnen befördern sie gleich in den Papierkorb. Die etwas bieder anmutende Info-Broschüre enthält selten Aufregendes, oft missfällt Lesern auch der belehrende und zuweilen PR-lastige Ton. Der Ausgabe der vergangenen Woche dürfte dieses Schicksal erspart bleiben. 62 J Unter der Überschrift „Good news – bad news“ erläutert Lufthansa-Chef Christoph Franz in einem Beitrag erstmals detailliert, warum er in den kommenden beiden Jahren anderthalb Milliarden Euro und jeden fünften Arbeitsplatz in der Verwaltung einsparen will. „Unsere Umsätze haben sich in den letzten zehn Jahren verdoppelt“, informiert Franz seine Mitarbeiter. Leider hätD E R S P I E G E L 1 9 / 2 0 1 2 ten die Ergebnisse „damit nicht Schritt gehalten“. Das soll sich nun ändern, damit der Konzern 170 bereits bestellte Flugzeuge bezahlen kann, ohne dass die Verschuldung abhebt. Ob die Erklärung von Franz ausreicht, die verunsicherte Belegschaft zu beruhigen, bleibt abzuwarten. Seit Wochen schon sickern immer neue Einzelheiten über das bereits zur Jahreswende ein- geleitete Effizienzsteigerungsprogramm „Score“ an die Öffentlichkeit. Einige Gerüchte wie etwa das vom Wegfall von 2500 Jobs in Deutschland wurden inzwischen bestätigt. Andere Spekulationen wie die über die Gründung eines neuen Billigcarriers erwiesen sich dagegen als falsch. In hauseigenen Internetforen wird das Kürzel inzwischen schon mit „Scare“ übersetzt, was auf Deutsch bedeutet, jemandem Angst einzujagen. Das ist vielleicht etwas übertrieben. Grund zur Sorge haben die LufthansaAngestellten auf jeden Fall. Bis vor einigen Tagen konnte man den Eindruck gewinnen, die Aufregung um das neue Sparprogramm wäre vom Konzern geschickt geschürt worden, um eine Drohkulisse im Vorfeld von Tarifverhandlungen für die Kabinenangestellten und Piloten aufzubauen. Doch seit der Konzern am Donnerstag vergangener Woche die Zahlen für das Ende März abgelaufene Geschäftsquartal vorstellte und einen Verlust in Höhe von fast 400 Millionen Euro bekanntgeben musste, ist wohl auch dem letzten Zweifler klargeworden, wie ernst die Lage bei Europas größter Airline wirklich ist. Noch unter Wolfgang Mayrhuber, dem Vorgänger von Franz, der in gut einem Jahr die Führung des Aufsichtsrats übernehmen soll (SPIEGEL 18/12), hatte der Konzern Premiumkunden in der Firstund Business-Class stark umworben und sogar neue, exklusive Luxus-Lounges für sie gebaut – allerdings ohne großen Erfolg. Besonders Vielflieger klagen über mangelnden Service und Komfort in den Maschinen der deutschen Airline (siehe Kasten Seite 64). Parallel dazu kaufte das Unternehmen im großen Stil Beteiligungen ein wie die Sabena-Nachfolgegesellschaft Brussels Airlines, die angeschlagene österreichische AUA oder den britischen Traditionscarrier BMI. Nach der Pleite der Al- Umsatz der Lufthansa, in Mio. € 1. Quartal 2011 1. Quartal 2012 6268 6619 + 5,6 % 169 381 Verlust in Mio. € italia versuchte die Lufthansa auch noch, im italienischen Markt Fuß zu fassen. Die meisten der neuen Beteiligungen erwiesen sich allerdings als Flop. Die Aufrüstung des Angebots und die Ausflüge in die große weite Welt kosteten den Konzern viel Geld. Geld, das zur Beschaffung neuer, spritsparender Flugzeuge wohl deutlich besser angelegt gewesen wäre. „Dass wir unsere Flotte nicht rechtzeitig erneuert haben, ist ein klares Versäumnis des Managements“, kritisiert der Vorsitzende der Gesamtvertretung des fliegenden Personals, Stefan Ziegler. Nun muss alles schnell gehen, nach dem Geschmack vieler Arbeitnehmervertreter zu schnell. „Fehler, die in den vergangenen zehn Jahren gemacht wurden“, rügt Ziegler, der auch im Aufsichtsrat der Lufthansa sitzt, „kann man nicht innerhalb von zwei bis drei Jahren bereinigen.“ Franz und seine Mannen wollen es trotzdem versuchen. Besonders weit gediehen sind die Planungen offenbar bei der avisierten Zusammenlegung des dezentralen Europaverkehrs mit der hauseigenen Billigfluggesellschaft Germanwings. Das geht aus einer zwölfseitigen vertraulichen Präsentation hervor. Ihr Titel – „Weiterentwicklung dezentrale Verkehre“ – klingt zunächst harmlos. Arbeitnehmervertreter betrachten das mit Kürzeln und Fachbegriffen gespickte Papier dennoch als Kriegserklärung. In dem Konzept, das am Freitag vergangener Woche erstmals den Vertretern des fliegenden Personals vorgestellt wurde, wird detailliert dargelegt, wie der Konzern das Geschäft abseits der Verkehrsdrehscheiben in Frankfurt und München profitabel machen will. Das scheint auch bitter nötig. Laut einer Aufstellung in dem Papier erwirtschaftete die Lufthansa-Tochter Germanwings seit 2005 nur ein einziges Mal Gewinn, gerade mal 18 Millionen Euro im Geschäftsjahr 2009. Noch düsterer sieht es offenbar im dezentralen Europaverkehr der Lufthansa aus. Dort gab es seit 2005 kein einziges Mal schwarze Zahlen. Stattdessen summierten sich die Verluste 2009 und 2010 jeweils auf über 200 Millionen Euro, verursacht auch durch den Regionalableger Eurowings. Die Lufthansa-Geschäftsführung will Germanwings nun umbenennen – in die Firma Direct4U GmbH. Neben den eigenen Flugzeugen sollen dort mehrere Dut- Ryanair-Chef Michael O’Leary, Easyjet-Kunden in Paris: Ketzerische Vorschläge nach dem Vorbild der Billigflug-Ikone D E R S P I E G E L 1 9 / 2 0 1 2 63 GILLES ROLLE/REA/LAIF 12 5% IMAGO Wirtschaft zend Kurz- und Mittelstreckenmaschinen der Lufthansa eingebracht werden. Die Flugzeuge der neuen Gesellschaft sollen künftig nur noch in Pingpong-Manier zwischen ihren jeweiligen Start- und Zielorten verkehren – so wie es die Billigflug-Ikone Ryanair seit Jahren vorexerziert – und das Anfliegen von Städten wie Berlin, Stuttgart oder Hamburg unter sich aufteilen. Dienstleistungen wie zum Beispiel die Bodenabfertigung soll der runderneuerte Lufthansa-Ableger künftig frei am Markt einkaufen dürfen, ein Sakrileg in der 57-jährigen Konzerngeschichte. Wie viele Arbeitsplätze dadurch wegfallen könnten, ist bislang noch unklar. Ähnlich ketzerisch muten andere Vorschläge in der aufwendigen Fleißarbeit an. Die neue, selbstentwickelte Billigplattform soll in Düsseldorf künftig auch die Verantwortung für den Langstreckenverkehr übernehmen. Dort musste die Lufthansa eine ursprünglich geplante Verbindung nach Tokio mangels Nachfrage bereits bis auf weiteres absagen. Ziel dieser und weiterer Maßnahmen ist es, die anfallenden Verluste ab 2012 jährlich um jeweils 50 Millionen zu verringern und ab 2015 endlich einen Gewinn im innerdeutschen Verkehr und im dezentralen Europageschäft zu erwirtschaften. Voraussetzung ist allerdings, dass der Rohölpreis bis dahin um fast 16 Prozent sinkt, eine ziemlich optimistische Annahme. Obwohl die Kosten der neuen Gemeinschaftsfirma auf dem bisherigen, niedrigeren Niveau von Germanwings verharren sollen, will die Geschäftsführung von den Passagieren möglichst die bisherigen Preise für klassische Lufthansa-Dienste verlangen. „Das ist, als würden Sie einem Kunden einen VW zum Preis eines VW, aber mit der Innenausstattung eines Škoda verkaufen“, kommentiert Arbeitnehmervertreter Ziegler, im Hauptberuf Flugkapitän bei der Lufthansa, die Pläne auf Nachfrage. Ein Konzernsprecher erklärt, bei der Ausarbeitung handele es sich „bislang noch um ein Konzept“. Konkrete Beschlüsse des Vorstands oder des Aufsichtsrats gebe es dazu noch nicht. Die aufgeschreckte Belegschaft dürfte das kaum beruhigen, zumal Ende vergangener Woche durchsickerte, dass offenbar auch bei der Lufthansa-Technik mehrere hundert Stellen wegfallen könnten. In seiner Hausmitteilung versucht der oberste Lufthansa-Chef, seinen Angestellten trotzdem Mut zu machen. Derzeit, so Franz, befinde sich die Lufthansa noch „in einer Position der Stärke“ und verfüge über ein solides „finanzielles Fundament“. Deshalb müsse die Lufthansa bislang auch nicht als „Getriebene agieren“. Viele Mitarbeiter dürften in den vergangenen Wochen einen anderen Eindruck gewonnen haben. DINAH DECKSTEIN MANISH SWARUP / AP Bar an Bord eines Emirates-Airbus-A380 In der Imbissbude Die Lufthansa verärgert ihre Kunden – vor allem Vielflieger. ie Fahrt am Flughafen Frankfurt vom First-Class-Terminal zum einsteigebereiten Flugzeug nach Hamburg dauert nur wenige Minuten. Doch diese Minuten reichen, um zu verstehen, wie verärgert Spitzenkunden der Lufthansa sind. Vier Männer sitzen im Fond des Vans, sie kennen einander nicht, ein Manager eines Dax-Konzerns ist dabei und ein Partner der größten Unternehmensberatung der Welt. Ihre Firmen geben sechsstellige Beträge für Flugtickets aus, jedes Jahr, nur für sie. Es ist ein Gespräch über unbequeme Sitze, arrogante Flugbegleiter und Verschlechterungen im Kundenbindungsprogramm. Die Männer sind sich einig: Lufthansa nur noch dann, wenn es wirklich sein muss. Solche Gespräche sind gefährlich für die deutsche Airline. Sie zeigen, dass die Lufthansa dabei ist, ihren Ruf als Nobel-Carrier zu verlieren. Sogar das Personal lästert mittlerweile offen über das Produkt. Die Rede ist von alten, scheppernden Jumbo-Jets, enttäuschten Gästen, die etwa das schlichte Catering in der Business-Class bemängeln, die peinliche Unterhaltungselektronik oder das störungsanfällige WLAN. Carsten Spohr, Passagevorstand der Linie, stimmt der Einschätzung „im Grundsatz“ zu. „Ja, wir haben Nachholbedarf in einigen Bereichen unseres Produktes“, antwortete er im Intranet. Man sei noch nicht bei allen Produkten dort, wo man als „führende Airline“ sein müsse. Emirates, Etihad oder Singapore Airlines zeigen, was geboten werden kann: Economy-Sitze, die mit individuellen Monitoren ausgestattet sind, Business64 D Class-Sessel, die auch Betten werden können, First-Class-Abteile mit Minibar oder Toiletten mit Fußbodenheizung und Dusche. Spohr weist darauf hin, dass auch Lufthansa aufrüste, spricht vom „größten Investitionsprogramm“ in der Firmengeschichte. Jeder einzelne Sitz werde ausgetauscht. Doch am Ende bleibt bei Vielfliegern hängen, dass auch schon mal selbst in der neuen First des A380 Salz und Pfeffer aus Tütchen wie in der Imbissbude kommen, der Monitor wie eine Miniaturausgabe der Version der Tochter Swiss wirkt. Kleinigkeiten, über die aber Menschen stolpern, die den Gegenwert eines Kleinwagens für einen Flug ausgeben – und ihn anderswo billiger und besser bekommen können. Zu harte Sitze, die Knie des Hintermanns im Rücken: Auch die großangekündigte Umrüstung der LufthansaEuropa-Flotte scheint bei manchen Passagieren weniger gut anzukommen. In einem internen Magazin berichten Mitarbeiter, Kunden bemängelten die Qualität der Sitze. „Der Sitz polarisiert“, heißt es. Lufthansa höre nicht zu, man trage die Nase hoch, Gold-Kunden würden an Bord ignoriert werden, ein Unterschied zu Air Berlin sei nicht spürbar – die Kundengeschichten klingen oft gleich. Besonders Mitglieder des umsatzstarken HON Circle, die Vielflieger mit dem höchsten Status, fühlen sich verprellt – Privilegien wurden geschmälert, Economy-Class-Flüge zählen künftig nicht mehr für die Qualifikation. Am neuen Flughafen Berlin verzichtet die Lufthansa gleich auf ein eigenes HON-Gebäude. MARTIN U. MÜLLER D E R S P I E G E L 1 9 / 2 0 1 2 Wirtschaft FINANZMÄRKTE Schwarze Löcher Europa ringt um einen Notfallplan für die spanischen Geldhäuser. Weil grundlegende Reformen versäumt wurden, stellt die Kreditbranche die Währungsunion erneut vor eine Zerreißprobe. s war einer dieser Sätze, die Notenbanker gern sibyllinisch im Raum stehenlassen. Der europäische Rettungsfonds EFSF, das Auffangnetz für klamme Euro-Staaten, sei bislang wenig erfolgreich gewesen, sagte Mario Draghi vergangenen Donnerstag auf einer Pressekonferenz in Barcelona. „Er ist sowohl hinter den Erwartungen als auch hinter den Bedürfnissen zurückgeblieben.“ Was da nicht stimmt mit dem Fonds und was geändert werden muss, überließ der Notenbankchef der Interpretation der angereisten Journalisten. Außerdem verschwieg der Italiener, dass sein Haus längst Möglichkeiten auslotet, die Kompetenzen des EFSF oder seiner auf Dauer angelegten Nachfolgeinstitution ESM auszuweiten und den Rettungsmechanismus schlagkräftiger zu machen. Euro-Gruppenchef Jean-Claude Juncker hatte Draghi in der Sache vor zwei Wochen um Rat gebeten. Bislang nämlich soll der ESM nur klammen Regierungen aushelfen dürfen, die im Gegenzug harte Auflagen erfüllen müssen. Doch seit kurzem werden zumindest hinter verschlossenen Türen auch direkte Hilfen für Banken ernsthaft diskutiert. In Brüssel befasst sich ebenfalls eine Arbeitsgruppe mit dem heiklen Thema. Die Zeit drängt. Im Jahr fünf nach Beginn der Finanzkrise sind die Probleme der Banken weiterhin ungelöst, in einigen Ländern bedrohen sie gar die Stabilität des Staates – und die Zukunft der europäischen Gemeinschaftswährung. E Vor allem die spanischen Banken wanken. Sie sitzen auf Wackelkrediten von rund einer Billion Euro, die am maroden Immobiliensektor hängen, und brauchen deshalb dringend frisches Kapital als Risikopuffer. Die Schätzungen reichen von 50 Milliarden bis zu 200 Milliarden Euro. Weil solche Summen die Banken wie den Staatshaushalt überfordern, müsste die spanische Regierung dringend beim EFSF Hilfe suchen, glauben Experten. Doch Ministerpräsident Mariano Rajoy sträubt sich. Nicht nur, weil dann die Euro-Partner quasi mitregieren würden, sondern auch, weil sein gesamtes Land dann gebrandmarkt und von den internationalen Geldströmen wohl auf lange Zeit abgeschnitten wäre. Direkte Hilfen der Euro-Länder für Banken aber sind ein heikles Thema. Re- Finanzzentrum in Madrid: „Die nationalen Aufseher gierungen wie die deutsche weigern sich strikt. Sie fürchten, dass ihr Geld in einem derholt in Gefahr bringe. Immobilienschwarzen Loch verschwindet. „Was in blasen wie die in Spanien oder in Irland den spanischen Banken los ist, davon ha- hätten ohne die tatkräftige Hilfe der heiben wir keine Ahnung“, heißt es in Bun- mischen Banken nicht entstehen können. desbankkreisen. Diese Unkenntnis ist „Und die nationalen Aufseher haben daeine Folge der gefährlichen Kleinstaaterei, bei versagt, das zu verhindern.“ Nach der Lehman-Pleite machten die die sich Europa ausgerechnet in der Finanzindustrie leistet, die international so Europäer weiter wie vorher – ein entverwoben ist wie keine andere Branche. scheidender Fehler, glaubt Daniel Gros, Doch jedes Land kontrolliert – und rettet Direktor des Center for European Policy Studies (CEPS). „Die Niederlande haben im Notfall – seine Banken selbst. Clemens Fuest, Professor in Oxford schon im Oktober 2008 vorgeschlagen, eiund Berater der Bundesregierung, ist nen europäischen Bankenrettungsfonds überzeugt: „Ohne eine grundlegende Re- einzurichten, das ist am Widerstand form des europäischen Bankensektors ist Deutschlands gescheitert“, sagt Gros. der Euro in Gefahr.“ Denn es sei die Fi- Stattdessen habe jedes Land sich nur um nanzindustrie, die die Gemeinschaft wie- seine eigenen Probleme gekümmert, das Am Tropf Nettoausleihungen der Banken bei der Europäischen Zentralbank (EZB) in Mrd. € Quelle: J.P. Morgan 300 250 200 Spanien Italien zum Vergleich: Deutschland 150 100 JOSÉ GIRIBAS 50 Finanzpolitiker Draghi, Merkel: Gefährliche Kleinstaaterei Dez. 2008 S P I E G E L Dez. 09 Dez. 10 Jun. 11 Aug. 11 Nov. 11 März 66 D E R 1 9 / 2 0 1 2 haben versagt“ europäische Bankensystem „wurde insgesamt nicht ausreichend stabilisiert“. Beispiel Bankenrettung: Zu viele marode Institute wurden über nationale Fonds am Leben gehalten, zugleich aber durch Beihilfe-Auflagen der EU für staatliche Hilfen auf Nationalmaß gestutzt und weiter geschwächt. Auch die Einrichtungen, die Kundeneinlagen absichern sollen, sind nach wie vor national organisiert. Beispiel Aufsicht: Globale Bankkonzerne wie BNP Paribas und die Deutsche Bank haben es in Europa nach wie vor mit 27 nationalen Aufsichtsbehörden zu tun, die ihre Informationen oft sorgsam voreinander verbergen. Die neue europäische Aufsicht EBA müht sich mit ihren gerade einmal 62 Mitarbeitern und ohne ernstzunehmendes Eingriffsrecht verzweifelt um ein wenig Koordination. Das jüngste Beispiel für den Schlingerkurs in der europäischen Bankenpolitik lieferten die Finanzminister der EuroZone vergangenen Mittwoch bei einem Treffen in Brüssel. An der Frage, in welcher Höhe Banken künftig Kapitalpuffer verordnet bekommen sollen, entzündete sich heftiger Streit. Nach mehr als zwölfstündigen Verhandlungen hatte Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble genug. „Wir sehen uns zum Champions-LeagueFinale in München“, sagte er verärgert in Richtung seines britischen Kollegen George Osborne und strebte um 23 Uhr Richtung Ausgang. Doch der britische Schatzkanzler machte ungerührt weiter und brachte um Mitternacht weitere Änderungsanträge für das umstrittene Gesetzesvorhaben ein. Entnervt gaben die verbliebenen Finanzminister und ein deutscher Staatssekretär nach. Eine Einigung ohne die Briten mit ihrem großen Finanzplatz London sollte unbedingt vermieden werden. Am frühen Donnerstagmorgen konnte Osborne dann einen großen Sieg verkünden. Die Briten dürfen ihren Banken bis zu zwölf Prozent hartes Kernkapital verordnen – mehr, als einige andere Länder wollten – und bringen damit die ganze Finanzbranche unter Zugzwang. Wenn die Pläne wirklich umgesetzt werden, warnen Banker, brauchen die europäischen Finanzkonzerne viele hundert Milliarden Euro zusätzliches Kapital. Zwar hat die Bundesregierung grundsätzlich Sympathie dafür, wenn die Banken noch größere Kapitalpuffer anlegen müssen. Doch woher soll so schnell so viel Geld kommen? Schon jetzt haben beispielsweise spanische Geldhäuser zu wenig Kapital, um drohende Verluste aus waghalsigen Immobilienfinanzierungen auszugleichen. Die Regierung in Madrid arbeitet fieberhaft an einer Bad Bank, die Institute von ihren Altlasten befreien soll. Favorisiert wird ein von den Banken selbst getragenes Modell, möglicherweise abgesichert durch eine Garantie staatlicher FörderD E R S P I E G E L 1 9 / 2 0 1 2 banken. Plan B aus Sicht der Spanier wären direkte Hilfen aus Europa an die Banken. Wissenschaftler wie Fuest, DeutscheBank-Chefvolkswirt Thomas Mayer oder CEPS-Ökonom Gros favorisieren eine solche Lösung. Doch auch direkte Hilfen vom ESM könne es nur gegen knallharte Auflagen geben. „Wer zahlt, schafft an“, sagt der gebürtige Schwabe Mayer schlicht. Fuest fügt hinzu: „Spanien muss die Aufsicht über seine Banken nach Brüssel abgeben.“ Nach Auffassung der Wissenschaftler zeigt der Fall Spanien einmal mehr, dass der Umgang der Euro-Zone mit ihren Banken vorgestrig ist. ESM-Hilfen an spanische Institute sehen sie als ersten Schritt zu einer sehr viel stärkeren Integration des europäischen Bankenmarktes. Gros wird in den nächsten Tagen ein Papier vorlegen, in dem er einen gemeinsamen europäischen Fonds zur Einlagensicherung und Abwicklung maroder Banken vorschlägt. „Es wäre sinnvoll, einen europäischen Bankenrettungsfonds aufzubauen, der aus Abgaben der Banken gespeist wird. Das würde etwa zehn Jahre dauern“, erklärt der Ökonom. Fuest war schon vor einem Jahr mit der Idee gemeinschaftlicher Institutionen in Europa auf Werbetour. Diese Woche hat der Bundestag zu einer Anhörung geladen. Was der Oxford-Professor den Abgeordneten dort empfehlen will, deckt sich weitgehend mit den Vorschlägen Gros’ und kommt einer kleinen Revolution gleich. „Die nationalen Aufsichtsbehörden müssen durch eine starke europäische Aufsicht ersetzt werden“, sagt Fuest. „Auch die nationalen Einlagensicherungsfonds müssen zusammengeschlossen werden. Außerdem bedarf es eines ständigen europäischen Fonds, der marode Banken sanieren oder aber geordnet abwickeln kann.“ Ob dieser dann mit Geldern des ESM oder über eine regelmäßige Abgabe europäischer Banken gefüllt werde oder ob er allein von staatlichen Garantien gestützt werde, sei zu diskutieren. Es gehört zur Freiheit von Wissenschaftlern, auch für wenig realistische Ideen zu werben – doch der Druck auf die Politik kommt ebenfalls von anderer Seite: Deutsche-Bank-Chef Josef Ackermann, der schon 2009 einen europäischen Bankenrettungsfonds angeregt hatte, hält einen solchen Fonds für „wünschenswerter denn je – zur Stabilisierung von Bankensystemen, zur Restrukturierung auch großer grenzüberschreitender Banken, zur Sicherung des Finanzbinnenmarkts und zur Vermeidung von Wettbewerbsverzerrungen durch nationale Regelungen“. Die Re-Nationalisierung der europäischen Bankenmärkte sei besorgniserregend und erschwere das dringend notwendige Wachstum in den Problemlän67 SAEZ PASCAL/SIPA PRESS Wirtschaft dern. In der EZB sind viele Protagonisten ebenfalls der Meinung, dass die Löscharbeiten gegen die Flächenbrände in der Industrie endlich zentral organisiert werden müssen. Draghis neuer Außenminister Jörg Asmussen wirbt seit einigen Wochen nachdrücklich für die Idee eines gemeinsamen Abwicklungsfonds nach Vorbild des deutschen Soffin. Und der EZB-Präsident selbst erklärte auf einer Konferenz in Frankfurt am Main: „Eine Stärkung der Bankenaufsicht und ein Auffangsystem für Banken auf europäischer Ebene sind vordringlicher geworden.“ Doch sosehr der Druck wächst, die Banken zur Europa-Sache zu machen, so massiv ist der Widerstand gegen solche Pläne. „Die Länder der Währungsunion sollten zunächst die wirtschafts- und finanzpolitische Integration vorantreiben“, sagt Michael Kemmer, Hauptgeschäftsführer des deutschen Bankenverbandes. „Erst dann ist es sinnvoll, auch die Finanzaufsicht noch stärker zu zentralisieren und einen europäischen Bankenrettungsfonds ins Auge zu fassen.“ Die Bundesregierung wittert hinter den Vorschlägen den Versuch, starke Länder wie Deutschland auch bei der Bankenrettung noch stärker zur Kasse zu bitten. Berlin lehnt einen gemeinsamen Rettungsfonds ab, man müsse vielmehr zu gemeinsamen europäischen Standards für Abwicklungsverfahren und Sicherungssysteme kommen, heißt es dort. Deshalb will die Bundesregierung bei der Sanierung der spanischen Geldhäuser einen Präzedenzfall verhindern. Schon die Rettung deutscher Banken auf Kosten des Steuerzahlers war nicht besonders populär. Nun auch noch spanische Banken zu stützen, die sich an der Costa del Sol verzockt haben, wäre im Bundestag kaum mehrheitsfähig. Zudem würde es kaum bei der Rettung spanischer Banken Europas Banken zu retten. „Da wird die Büchse der Pandora geöffnet“, sagt einer ihrer höchsten Beamten. Nur bei Ländern, die offiziell unter den Rettungsschirm flüchteten, konnten die Experten aus Brüssel genaue Vorgaben für die notwendigen Strukturreformen und Sparpakete durchdrücken. Die will sich das stolze Spanien offenbar ersparen. Zudem ist der Bankensektor nur eines von vielen Problemen Spaniens. Die Jugendarbeitslosigkeit liegt bei über 50 Prozent. Die Industrie gilt in großen Teilen als nicht mehr konkurrenzfähig, der Arbeitsmarkt als sklerotisch, die Spanier haben viele Jahre weit über ihre Verhältnisse gelebt. Frisches Geld aus Europa, dessen Rückzahlung von anderen garantiert wird, könnte dazu führen, dass die Spanier in ihren Reformanstrengungen erlahmen. Viele Strukturreformen, die die Regierung versprochen hat, stehen erst einmal nur auf dem Papier. Doch so vorsichtig Europa mit Hilfen für klamme Banken sein sollte – an einer Erkenntnis führt kein Weg vorbei: Die Euro-Partner müssen ihren Finanz-Nationalismus überwinden. Sonst bleiben Europas Banken ein ständiger Krisenherd und werden zum dauerhaften Wettbewerbsnachteil. MARTIN HESSE, CHRISTOPH PAULY, ANNE SEITH Die Bundesregierung will einen Präzedenzfall bei der Sanierung spanischer Geldhäuser verhindern. bleiben. Irland, das nur wegen seiner Banken unter den Rettungsschirm schlüpfen musste und deshalb mittlerweile eine deutlich höhere Staatsverschuldung als Spanien aufweist, könnte auf Gleichbehandlung pochen. Schon jetzt fordern die Iren auf den EU-Gipfeln Rabatte, weil sie für die Kredite zur Rettung ihrer Banken sehr hohe Zinsen zahlen müssen. Auch in der EU-Kommission halten viele nichts davon, mit Sonderprogrammen DEUTSCH E BANK Hütchenspiel 3.0 Investmentbanken machen mit Altlasten aus der Finanzkrise wieder gute Geschäfte. Auch jene, die 2008 von staatlichen Rettungsaktionen profitierten. aiden Lane, Jungfrauen-Straße – so heißt die Seitengasse hinter der Notenbank Fed in Manhattan. Das klingt nach Reinheit und Unschuld. Maiden Lane – so hat die New York Fed 2008 auch einen Rettungsfonds genannt, der helfen soll, eines der dunkelsten Kapitel der amerikanischen Wirtschaftsgeschichte zu einem versöhnlichen Ende zu bringen: den Beinahe-Kollaps des Versicherungskonzerns AIG und die Rettung durch den amerikanischen Staat mit 182 Milliarden Dollar. Jetzt ist der Maiden-Lane-Fonds wieder in den Schlagzeilen: Er hat alte Schrottpapiere von AIG mit einem Nennwert von 7,5 Milliarden Dollar losgeschlagen. Käufer ist neben dem britischen Geldhaus Barclays die Deutsche Bank. Es ist die Pointe einer Geschichte, die mit Unschuld so wenig zu tun hat wie die Straßen von Manhattan. Es geht um waghalsige Investoren und raffinierte Banker, um niedrige Zinsen und Geschäfte, die an Hütchenspiele erinnern. Bis weit in das Jahr 2008 hinein schnürte die Deutsche Bank in den USA aus Häuserkrediten und anderen Darlehen komplexe Wertpapiere. Diese Collateralized Debt Obligations (CDOs) verkaufte sie an Kunden, die auf steigende Immobilienpreise wetten wollten, einen Teil hielt die Bank selbst. Die Investoren M Künftiger Bankchef Jain: Giftiger Nachlass Krisenprofiteure Zahlungen und Sicherheiten des Rettungsfonds Maiden Lane in Folge der AIG-Krise an ausgewählte Banken, in Mrd. Dollar Société Générale Goldman Sachs Deutsche Bank Merrill Lynch Calyon UBS DZ Bank Barclays Bank of Montreal Wachovia 4,3 3,8 1,8 1,5 1,4 1,0 Quelle: US-Kongress 16,5 14,0 8,5 6,2 erhofften sich von den CDOs höhere Renditen, als sie damals angesichts niedriger Zinsen bei den meisten Anlagen zu holen waren. Doch als die Preise am US-Häusermarkt abstürzten, merkten die CDOKäufer, dass in ihren Wunderpaketen oft nicht drinsteckte, was drauf stand, und blieben auf hohen Verlusten sitzen. Nicht so die Deutsche Bank. Sie hatte bei AIG in großem Umfang CDOs gegen einen Ausfall versichert. 2008 musste AIG wegen der zunehmenden Marktturbulenzen bei der Deutschen Bank Sicherheiten hinterlegen. Als zunehmend fragwürdig wurde, ob AIG im Zweifel die Versicherung auszahlen könnte, sprang die Fed ein. Sie kaufte der Deutschen Bank ihre CDOs mit einem kräftigen Preisabschlag ab. Dennoch machte die Bank keinen Verlust, weil sie die von AIG gestellten Sicherheiten behalten durfte. Die Frankfurter sollen allein aus dem Maiden-Lane-Deal 8,5 Milliarden Dollar erhalten haben. Ein Minusgeschäft war das Ganze damals für AIG, dafür sprang der Staat ein. Auch Barclays und Goldman Sachs profitierten damals von der AIG-Rettung. Und siehe da, jetzt, da der giftige Nachlass der wilden Jahre versteigert wird, stehen die Investmentbanken erneut auf der Gewinnerseite. Schon 2011 kündigte die Fed den Verkauf von AIG-Altbeständen an. In den vergangenen Monaten nahm das Geschäft Fahrt auf. Im Januar ging ein Milliarden-Portfolio an Credit Suisse, im Februar schlug Goldman Sachs zu, dann kam noch einmal die Schweizer Bank D E R S P I E G E L 1 9 / 2 0 1 2 zum Zug und jetzt die Deutsche Bank und Barclays. Geschichte wiederholt sich: Weil die Notenbanken billiges Geld in die Märkte pumpen, sind die Zinsen niedrig; für Investoren wird es schwieriger, lukrative Renditen zu erwirtschaften. Deshalb wagen Hedgefonds, Versicherungen und Pensionsfonds sich wieder an riskante Geschäfte und entdecken die alten CDOs. Wertpapiere, die mit Krediten für Häuser oder Bürotürme besichert sind, kann man heute mit hohen Abschlägen erwerben – und hoffen, dass ihr Wert wieder steigt. Das machen sich auch die Nachlassverwalter der AIG zunutze. Doch die Ramschpapiere landen nicht deswegen bei Investmentbanken, weil diese selbst wieder mit CDOs zocken wollen. Neue Gesetze erschweren künftig den spekulativen Handel auf eigene Rechnung. Die Deutsche Bank hat den Eigenhandel nach eigenen Angaben eingestellt. Für die Helfer des künftigen Bankchefs Anshu Jain ist der Maiden-Lane-Deal vielmehr ein fast todsicheres Geschäft. Während die Deutsche Bank mit der einen Hand die alten AIG-Papiere für 67 Prozent des Nennwerts in Empfang nahm, hatte sie an jedem Finger der anderen Hand schon Investoren, die ihnen die alten Papiere, neu verpackt, gegen einen Aufschlag wieder abnehmen werden. So jedenfalls wird der Deal in Finanzkreisen beschrieben, dort heißt es, die Bank habe dabei 80 bis 100 Millionen Dollar verdient. Die Deutsche Bank äußert sich nicht zu dem Geschäft. In Internetforen empören sich Bürger, dass die einstigen Profiteure der AIG-Rettung sich jetzt erneut die Taschen füllen. Zudem, so heißt es, hätte die Fed die Papiere auch direkt an interessierte Investoren verkaufen können. Das wäre allerdings aufwendiger gewesen, als eine Bank als Dealer einzuschalten. Immerhin haben die amerikanischen Steuerzahler ihre Verluste, die sie einst als AIG-Retter erlitten, jetzt etwas reduzieren können. Die Fed verkaufte die CDOs teurer, als sie sie einst erwarb. Das Risiko aus den alten Ramschpapieren liegt demnächst unter anderem bei Pensionsfonds und Versicherungen. Falls die US-Wirtschaft wieder in eine Rezession rutscht und die Hauspreise erneut sinken, tragen die Kunden die Verluste. Die Deutsche Bank dürfte dann ihren Schnitt längst gemacht haben. BIZ-PHOTOS / ACTION PRESS MARTIN HESSE 69 Wirtschaft Wer immer wieder kurz befristet arbeinissen, die in der Grundsicherung landen. Die Gründe für den Absturz liegen auf tet, muss ebenfalls damit rechnen, kein der Hand: Wer trotz Vollzeit wenig ver- Arbeitslosengeld zu bekommen. Denn dient, erreicht kaum die Schwelle, bei der ein Antragsteller muss in der Regel in sein Anspruch auf Arbeitslosengeld über den vergangenen zwei Jahren mindestens der Schwelle der Grundsicherung liegt. zwölf Monate erwerbstätig gewesen sein – Ein Arbeitnehmer mit einem Monatsver- für viele Arbeitnehmer auf Zeit ein Ausdienst von 1600 Euro brutto beispielswei- schlusskriterium. Dabei sind es gerade die Angehörigen se erwirbt lediglich Ansprüche von 835 Euro. Der Hartz-IV-Anspruch für einen des Niedriglohnsektors, die den Schutz Die Arbeitslosenversicherung benachteiligt prekär Beschäftigte: Familienvater mit zwei Kindern aber liegt der Arbeitslosenversicherung brauchen. bei rund 1300 Euro. Konsequenz: Weil „Die Anpassungslasten auf dem ArbeitsViele landen in Hartz IV, das Arbeitslosengeld aus der Versiche- markt werden heute vor allem von Zeitobwohl sie in die Nürnberger rung nicht zum Leben reicht, landet er in arbeitern, Beschäftigten mit befristeten Kasse eingezahlt haben. der Grundsicherung und beim Jobcenter. Arbeitsverträgen und im Niedriglohnsektor getragen“, sagt Ulrich Walwei, Vize-Direktor am Institut für Arenn andere sich morbeitsmarkt- und Berufsforschung. gens auf den Weg zur Stattdessen werden prekär BeArbeit machen, fährt schäftigte auch im Sozialsystem Heiner Kuhlmann, 28, mit seinem benachteiligt, belegen Zahlen der Fahrrad eine Runde um das eheBundesagentur für Arbeit. 45 malige Flughafengelände BerlinProzent der Zeitarbeiter bekomTempelhof. Es sind zehn Kilomen nach dem Jobverlust direkt meter, die seinem Tag Struktur Hartz IV. Fast jeder Zweite, der geben. „Ich muss irgendwas tun“, in der Grundsicherung landet, sagt er. „Wenn ich zu Hause herhat keine abgeschlossene Berufsumsitze, werde ich depressiv.“ ausbildung. Das ist nicht nur fiVor zwei Monaten verlor Kuhlnanziell ein Nachteil. Wer keinen mann seinen Job bei einer Firma, Anspruch auf Arbeitslosengeld die Bücher für Bibliotheken kaerwirbt, wird im deutschen Fürtegorisiert und etikettiert. Ein sorgesystem wie ein Sozialfall knappes halbes Jahr war er bei behandelt. Er muss nachweisen, dem Unternehmen beschäftigt dass er über kein Vermögen verund zahlte regelmäßig die Beifügt und dass es keine Familienträge zur Arbeitslosenversicheangehörigen gibt, die für ihn aufrung. Doch jetzt, da er auf kommen könnten. Unterstützung angewiesen ist, Damit nicht genug. Hartz-IVbekommt er den Hartz-IV-RegelEmpfänger, selbst wenn sie direkt satz von 374 Euro plus Miete und vom ersten Arbeitsmarkt kommuss sich regelmäßig beim Jobmen, werden nicht wie die übricenter melden. „Da stehe ich gen Beschäftigten von der Ardann morgens mit 300 oder 400 beitsagentur betreut, sie müssen Leuten vor der Tür“, klagt er. sich wie der Berliner Heiner Kuhlmann gehört zur wachsenKuhlmann beim Jobcenter anden Gruppe von Arbeitnehmern, stellen. die Gefahr läuft, dass ihr einziger Das Problem hat mittlerweile Zugang zum Arbeitsmarkt einer die Politik erreicht. SPD und GrüDrehtür gleicht – raus aus Hartz ne wollen es vor allem kurz beIV und immer wieder zurück. fristeten Beschäftigten erleichtern, Seit Jahren steigt die Zahl der Leistungen zu beantragen. Würde Beschäftigten, die zwar in die Arder Vorschlag umgesetzt, so die beitslosenversicherung einzahlen, Berechnungen der Bundesagenaber nach der Kündigung kein tur für Arbeit, würde sich die Arbeitslosengeld erhalten: 2007 Zahl der Arbeitslosengeldempfänlandeten noch knapp 600 000 Arbeitsloser Kuhlmann: Behandelt wie ein Sozialfall ger um bis zu 250 000 erhöhen. Menschen nach ihrer Entlassung Um den Missstand nachhaltig zu bedirekt in der Grundsicherung, 2011 waren Tiefer Fall kämpfen, reichen jedoch Korrekturen am es bereits 740 000. Für jeden vierten Ar- Zugänge aus Erwerbstätigkeit ... Kleingedruckten der Arbeitslosenverbeitnehmer, der in Deutschland seinen sicherung nicht aus. Wirksamer wäre Job verliert, heißt es mittlerweile: Stelle ... in das Arbeitslosengeld (SGBIII) weg, Anspruch weg. Die gesetzliche Ar- 2007 2,15 Mio. etwas ganz anderes: eine wachsende Zahl von unbefristeten und gutbezahlten beitslosenversicherung, gegründet 1927, 2,05 Mio. Jobs. steckt im Dilemma. Für viele Arbeitneh- 2011 „Es geht nicht primär um Geldleistunmer ist sie keine Hilfe mehr. In den sieb2011 gen“, sagt Walwei, „wir brauchen eine ziger Jahren erhielten noch zwei Drittel ... in Hartz IV (SGBII) gegenüber aktive Arbeitsmarktpolitik, die die Menaller Erwerbslosen Arbeitslosengeld, heu- 2007 593800 2007 schen qualifiziert und in stabile, langfriste ist es nicht einmal mehr jeder dritte. 2011 736 000 + 24 % tige Arbeitsverhältnisse bringt.“ Es sind vor allem Zeitarbeiter und die Beschäftigten in prekären Arbeitsverhält- Quelle: Bundesagentur für Arbeit MARKUS DETTMER, CATALINA SCHRÖDER ARBEITSMARKT Job weg, Anspruch weg W 70 D E R S P I E G E L 1 9 / 2 0 1 2 MAURICE WEISS / OSTKREUZ / DER SPIEGEL Wirtschaft A F FÄ R E N Madeleine und die Räuber Seit Monaten zeichnet die Quelle-Erbin Madeleine Schickedanz von sich das Bild einer schwachen Frau, die von Bankiers und Immobilien-Jongleuren um ihre Milliarden gebracht wurde. Bislang unbekannte Dokumente entlarven diese Legende. FRANK ZAURITZ Konzernerbin Schickedanz: Verlust in der Todeszone der Aktienzockerei 72 D E R S P I E G E L 1 9 / 2 0 1 2 er 26. März 2006 war ein Tag, an „Bild“ jammerte sie kurz danach, sie habe dem sich für Madeleine Schicke- im Monat nur noch 600 Euro zum Leben. danz noch alles ins Glück hätte Doch von falschen Entscheidungen und wenden können, an dem der Ruin einer verpassten Chancen will Schickedanz heuFamilie, die zu den Ikonen des deutschen te nichts mehr wissen. Kein Wort davon, Wirtschaftswunders gehört, noch zu ver- dass sie sich schlicht verzockt haben könnmeiden gewesen wäre. te. Stattdessen stilisiert sie sich seit MoThomas Middelhoff, der Vorstandsvor- naten zum Opfer finsterer Mächte. Die sitzende der KarstadtQuelle AG, war an Wochenzeitung „Die Zeit“, das „Manager diesem Sonntag nach Hersbruck gereist – Magazin“ und der WDR verbreiteten Geauf den Michelsberg, zum schlossähnli- schichten, die von der naiven Erbin erchen Anwesen seiner Großaktionärin, zählten, die unter die Räuber gefallen war. 44 911 Quadratmeter Land mit gusseiserDie Rolle der Schurken spielten darin nen Laternen und Parkbänken entlang die feinen Herren der Privatbank Sal. Opden Flanierwegen. Middelhoff war gekommen, um ein Versprechen einzulösen, das er Schickedanz offenbar ein Jahr vorher in ihrem Chalet in St. Moritz gegeben hatte: der Quelle-Erbin zu helfen, eine Milliarde Euro aus dem Konzern zu ziehen. Für ihre Privatschatulle, für ein Leben im Luxus. Wie das gehen sollte, hatte der Manager in einem 20-seitigen Papier zusammengefasst, das er Schickedanz und ihrem Mann Leo Herl als PowerPoint-Präsentation vorstellte. „KarstadtQuelle AG Neu Wertmaximierungsstrategien“ steht auf dem Deckblatt. Middelhoffs Fazit: „Teilverkauf entweder über die Börse oder an Einzelinvestor er- Schickedanz-Villa in Hersbruck: Ein Leben im Luxus scheint als vielversprechendste Strategie.“ Mit anderen Worten: Schickedanz sollte ihre Aktien zu Geld machen – rund ein Drittel der gesamten Konzernpapiere. Davon den größten Batzen gleich am nächsten Tag, wie es in einer Tischvorlage zur Präsentation heißt. „20 Prozent am Montag zu 20 Euro“, den „Rest zu“ voraussichtlich „30 Euro im nächsten Jahr“. Fast 900 Millionen Euro sollte das bringen. Ein alternativer Vorschlag, ebenfalls in dem Papier ausgeführt, versprach sogar einen Erlös von mehr als einer Milliarde Euro. Angesichts der Tatsache, dass Schickedanz viele Aktien billig, zu Kursen zwischen fünf und zehn Euro, gekauft hatte, war es ein Angebot, „Bild“-Ausriss, Juli 2009: Opfer finsterer Mächte das sie kaum ablehnen konnte. Aber sie tat es doch; die Quelle-Erbin penheim und ihr vierschrötiger Partner, behielt ihre Aktien. Weil sie die Mehrheit der Immobilienunternehmer Josef Esch. an dem Konzern nicht aufgeben wollte, Von einem geheimen Plan, von einer Verder so eng mit dem Namen ihrer Familie schwörung war die Rede. Die Banker und verbunden war? Oder weil sie einfach zu Esch hätten die stillen Reserven des Kargierig war? Weil die Aussicht auf noch hö- stadtQuelle-Konzerns an sich reißen und here Kurse sie elektrisierte, auf vielleicht zu Geld machen wollen – Kaufhaus-Im30 statt 20 Euro pro Aktie ein Jahr später? mobilien in besten City-Lagen. Und weil all dies in einer AktiengesellSicher ist: Es war die falsche Entscheidung. Das Unternehmen, zwischenzeitlich schaft, wegen lästiger Vorschriften, nur in Arcandor umgetauft, ging 2009 in die schwer zu realisieren gewesen sei, hätten Insolvenz. Die Aktien waren damit so gut die Verschwörer beschlossen, Karstadtwie wertlos, Schickedanz verlor einen Quelle wieder zu einer Art FamilienunGroßteil ihres Vermögens, und in der ternehmen zu machen, den Konzern von D E R S P I E G E L 1 9 / 2 0 1 2 D der Börse zu nehmen. Dafür hätten sie die gutgläubige Quelle-Erbin als Strohfrau missbraucht, sie zu immer neuen Aktienkäufen getrieben – bis in den Ruin. Bereits im vergangenen Jahr ließ Schickedanz ihren früheren Geschäftspartnern deshalb einen Schriftsatz zustellen, in dem sie – mit genau dieser Argumentation – 1,2 Milliarden Euro Schadensersatz fordert. Außerdem will sie mehrere hundert Millionen nicht zahlen, die Sal. Oppenheim von ihr verlangt. Zwar ist das 201-Seiten-Papier bisher nur ein Klageentwurf, eine Drohung, mit der ihre Anwälte in Verhandlungen mit dem Bankhaus gegangen sind. Sollten die Gespräche scheitern, kann daraus aber eine der größten Schadensersatzklagen werden, die je vor ein deutsches Gericht gekommen sind – wenn auch eine mit zweifelhaften Aussichten. Was Schickedanz vorträgt, ist eine abenteuerliche Geschichte. Gegen diese Geschichte spricht schon das Middelhoff-Strategiepapier, von dem es ein Exemplar mit handschriftlichen Randnotizen gibt – Herls Handschrift. Das und die Aussage von Middelhoff („Ich habe ihr geraten … sich auf diesem Wege zu derisken“) lassen Schickedanz wie eine Lügnerin aussehen, wenn sie heute behauptet, nie habe ihr einer so einen Aktienverkauf empfohlen. Und es existieren noch mehr Papiere; ebenso geheim und bislang unter Verschluss. Sie stammen aus der Madeleine Schickedanz Vermögensverwaltungs GmbH & Co. KG und belegen, dass die heute 68-Jährige alles andere als ein wehrloses Opfer war. Und dass Leo Herl – als Generalbevollmächtigter seiner Frau – zu den Puppenspielern und nicht zu den Puppen gehörte. Er kannte das Stück, überwachte die Aufführung und verhedderte sich schließlich in einem Plot, so groß, dass alle die Kontrolle darüber verloren. Nicht nur er und seine Frau. Zurück ins Jahr 2001: Madeleine Schickedanz war damals das arme reiche Mädchen, einzige gemeinsame Tochter der Unternehmerlegenden Grete und Gustav Schickedanz – eine Frau von fast sechzig, die trotzdem ihren Platz, ihre Rolle bislang nicht gefunden zu haben schien. Sie lebte im Luxus, hatte mehrere Villen, in Deutschland, der Schweiz, Spanien. Aber der Preis dafür war ein Name, dem sie nicht gerecht werden konnte. Ihr Vater habe sie nie auf die Rolle als Geschäftsfrau vorbereitet, klagte sie später, nach der Arcandor-Pleite. Und wahrscheinlich FOTO: FRANK ZAURITZ / BILDZEITUNG DIETER BUERGY / ACTION PRESS 73 Wirtschaft hatte der alte Schickedanz recht, wenn er ihr nur wenig zutraute: Noch heute spotten sie in Hersbruck, jedes Mal wenn die Madeleine in der Schule die Versetzung geschafft habe, hätten die Klassenräume einen neuen Anstrich bekommen, vom Vater, aus Dankbarkeit. Unter der Last des großen Namens wirkte Madeleine Schickedanz oft zerbrechlich, schüchtern, unsicher. Wie zum Schutz vor Erwartungen, die sie selbst nicht erfüllen konnte, heiratete sie dann dreimal Manager des Konzerns, die sich vermeintlich besser mit Geld auskannten als sie. Der aktuelle hieß nun, 2001, Leo Herl, er war früher bei Quelle gewesen. Er wollte unternehmen, bewegen, gestalten; seine Frau hatte er dabei nicht nur an seiner Seite, sondern offenbar auch auf seiner Seite. Denn so zurückhaltend sie als Mensch auch sein mochte, als Anlegerin trat sie mit Herl umso forscher auf. Bereit für die Art von Geldanlagen, bei denen alles ganz groß ist: die Gewinnchance, das Risiko. Schon der erste Schritt Richtung Abgrund zeigt dabei, dass Madeleine Schickedanz mehr war als eine Marionette von Esch und Oppenheim. Kurz nach der Fusion von Quelle-Gruppe und Karstadt im Jahr 1999 hatte sie nämlich die Aktienmehrheit verloren. Und warum auch immer sie mehr sein wollte als die reiche Erbin, die den Luxus genießt – 2001 und 2002 kaufte sie für 190 Millionen Euro Aktien, um sich die Macht zurückzuholen. Die bezahlte sie nicht nur mit ihrem Geld. Sie lieh sich 120 Millionen Euro, über ihre Schweizer Firma Grisfonta, von Sal. Oppenheim. Schickedanz verstieß damit schon zu einem Zeitpunkt, als sie den Immobilienmagnaten Josef Esch noch gar nicht kennengelernt hatte und ihre Geschäfte mit Oppenheim gerade erst anfingen, gegen das Grundgesetz aller seriösen Anleger: dass man nie Aktien auf Pump kauft und schon gar nicht die Schulden mit den gekauften Aktien absichert. Denn die können morgen das Doppelte, aber auch nichts mehr wert sein. Es war eine Methode, die bereits damals nicht zu ihrer Behauptung passte, sie habe doch nur eines gewollt: ihr Geld sicher anlegen. Um sich vorzustellen, was nun der Name Schickedanz im Bankhaus Oppenheim auslöste, braucht es nicht viel Phantasie. Schickedanz hatte einen 120-Millionen-Kredit, aber geschätzt ein 2,4-Milliarden-Vermögen. Die Differenz heißt bei Bankern Geschäftschance. Und wo Oppenheim eine Geschäftschance witterte, da war Esch nicht weit. Schon seit Jahren legte er mit der Bank Immobilienfonds auf, die Reichen enorme Steuerersparnisse versprachen. Und viele dieser Kunden machten Esch gleich 74 noch zu ihrem Vermögensverwalter, weil er sie mit seinem Vollservice umgarnte: Privatjets, Bodyguards, Termine bei StarMedizinern – Esch besorgte alles. Im August 2001 trafen sich der Milliardärsflüsterer und Bankchef Matthias Graf von Krockow mit Leo Herl. Gemeinsam heckten sie jenen Plan aus, der jahrelang der Treibstoff für ihre Zusammenarbeit sein sollte: Esch und die Bank suchten Immobilien, um noch mehr Fonds für reiche Kunden zu schnüren. Die Schickedanz-Seite sollte die Häuser liefern – die von Karstadt in besten Innenstadtlagen. Glaubt man Schickedanz, dann war sie bereits damals der Bank und Esch ausgeliefert, wegen der 120 Millionen, die sie sich geliehen hatte. Außerdem habe Esch versucht, auch ihr Vermögensverwalter zu werden, um ihr alle Entscheidungen abnehmen zu können. Lange habe sie gezögert. Dann, 2003, habe sie sich breitschlagen lassen und einen Vermögensverwaltungsvertrag unterschrieben. Tatsächlich? Die Dame verwickelt sich in Widersprüche. Als die Staatsanwaltschaft Köln nach einer Generalvollmacht für Esch fragte, sagte Schickedanz: „Ich KarstadtQuelle-Chef Middelhoff 36,44 € 35 Zickzack in den Untergang Aktienkurs KarstadtQuelle/Arcandor und die Schickedanz-Aktienkäufe Quelle: Thomson Reuters Datastream 30 2005/06 25 29 € 20 Schickedanz kauft auf Kredit weitere Aktien für 430 Mio. €. Im 25 € März 2006 verwirft sie den Vorschlag, zur Minimierung ihres Risikos Aktien zu verkaufen. Juni 2009 Die Arcandor AG beantragt die Eröffnung des Insolvenzverfahrens sowohl für die Muttergesellschaft als auch für einige Tochtergesellschaften wie Karstadt und Quelle. 15 10 10 € 2008 5 2001/02 Madeleine Schickedanz kauft Aktien im Wert von 190 Mio. €. Sie leiht sich 120 Mio. €. 2004 5,75 € 0 KarstadtQuelle steht vor der Pleite. Schickedanz erwirbt im Rahmen einer Kapitalerhöhung Aktien im Wert von 170 Mio. € auf Pump. 04 05 06 Vorstandschef 7€ Middelhoff soll Schickedanz mitgeteilt haben, dass sie ihre Aktien bei einem Kurs von sieben Euro verkaufen könnte und somit schuldenfrei wäre. Sie verkauft nicht. 07 08 09 10 2001 D E R 02 03 S P I E G E L 1 9 / 2 0 1 2 INA FASSBENDER / REUTERS habe ihm keine gegeben.“ Esch habe mehrfach darum gebeten. Sie aber habe lieber von Mal zu Mal unterschrieben, wenn er ihr Plazet brauchte. Das spricht dafür, dass sie Esch grundsätzlich misstraute. Und dagegen, dass Schickedanz bei allem, was anschließend passierte, nur noch eine Art Flipperkugel war, die hin und her geschleudert wurde, bis es schließlich hieß: Game over. Als der Konzern 2004 zum ersten Mal knapp vor dem Aus stand, war es deshalb auch ihre Entscheidung, nicht die von Esch, noch mal für 170 Millionen Euro Aktien zu kaufen. Zum Kurs von 5,75 Euro, wieder auf Kredit. Warum? Folgt man ihren Anwälten, dann wollte Schickedanz die Aktien gar nicht zeichnen. Esch habe sie bedrängt. Eingeknickt sei sie erst, als er ihr versprochen habe, dass sie nichts zu befürchten habe. Notfalls werde eine Esch-Firma für den Kredit bei der Bank geradestehen. Dieses Versprechen habe Esch sogar mit einem „Schuldbeitritt“ untermauert. Deshalb, so die Schickedanz-Seite, sei sie nur die Strohfrau eines Scheingeschäfts gewesen. Zurückzahlen müsse sie den Kredit nicht. Es gibt tatsächlich ein Papier über so einen Schuldbeitritt, datiert auf 2004, aber Esch hat es nie unterschrieben. Auch Schickedanz zeichnete nur mit „Zur Kenntnis genommen“ ab. Und wieso hätte Esch sie überhaupt bedrängen müssen, die Aktien zu kaufen? Hatte sie eine andere Wahl? Für Schickedanz ging es um alles: Die Hausbanken verlangten frisches Geld, eine Kapitalerhöhung. Sonst wollten sie dem Konzern die Kredite kündigen. Hätte Schickedanz sich geweigert, wären ihre Aktien nahezu wertlos geworden und die 190 Millionen Euro, die sie 2001 und 2002 dafür bezahlt hatte, perdu gewesen. Genau so erklärte es ihr Mann Leo Herl auch den vier erbberechtigten Schickedanz-Kindern aus früheren Ehen, die erst hinterher erfuhren, dass Mutter schon wieder auf Kredit Aktien gekauft hatte. „In die Illiquidität“ hätte es den Konzern geführt, wenn man die Kapitalerhöhung nicht mitgemacht hätte, sagte er laut Protokoll der Gesellschafterversammlung der Madeleine Schickedanz Vermögensverwaltung am 15. Juni 2005. Und dann, so Herl, wäre KarstadtQuelle verramscht worden. Auch seine Gattin sprach in jener Sitzung, und sie klang keineswegs wie eine hilflose Frau, die sich nicht gegen Esch hatte wehren können. Sie gab vielmehr die führungsstarke Unternehmerin, die weiß, was sie tut, und sich von keinem sagen lassen muss, was sie anders machen sollte. Auch nicht von ihrem Sohn aus erster Ehe. Der hatte es gewagt, ihr in der Versammlung die Entlastung zu verweigern, weil sie so viele Kredit-Millionen in KarstadtQuelle gesteckt hatte. Geradezu Oppenheim-Banker Ullmann, Oppenheim, Krockow: Am Ende die Dummen hellseherisch hatte der Sohn die „Geschäftspolitik“ seiner Mutter als „riskant“ kritisiert und eine „tragende Strategie“ vermisst, so das Protokoll. Außerdem hielt er es für „nicht akzeptabel und inkorrekt, wenn über außerordentliche Vorgänge dieser Größenordnung keine Gesellschafterbeschlüsse eingeholt werden“. Für diese Rüge hatte er gute Gründe: Schon damals stand Schickedanz bei den Kindern tief in der Kreide, weil sie sich so oft aus dem Familienvermögen bedient hatte. Doch als persönlich haftende Gesellschafterin der Vermögensverwaltung beschied sie ihren Sohn kühl: Sie werde, wie es im Protokoll heißt, „dort, wo sie das Risiko trägt, alleine entscheiden“. Sie. Alleine. Entscheiden. Kein Wort davon, dass sie angeblich nur Strohfrau war, mit dem Kredit in Wahrheit nichts zu tun hatte und es deshalb gar kein Risiko gab. Kein Wort über den angeblichen Schuldbeitritt von Esch. Dabei wäre es doch leicht gewesen, so die Kritik aus der Familie zu ersticken. Sogar nach der Nahtoderfahrung 2004, als der Konzern nur dank der Kapitalerhöhung gerettet wurde, kaufte Schickedanz weiter KarstadtQuelle-Aktien auf Pump. 50 Millionen Euro lieh sie sich dafür im Frühjahr 2005 bei Sal. Oppenheim. Diesmal lag der Börsenkurs bei knapp acht Euro pro Stück. Mitte des Jahres übernahm dann ExBertelsmann-Chef Thomas Middelhoff den Vorstandsvorsitz von KarstadtQuelle. Aus seiner Sicht war nach der Kapitalerhöhung das Schlimmste überstanden. Nun konnte er den Konzern umbauen. Der Plan war, nahezu alle KarstadtQuelle-Aktien aufzukaufen und das Unternehmen von der Börse zu nehmen. Dann wollte er es filetieren, die Einzelteile verscherbeln und die Immobilien in Oppenheim-Esch-Fonds verwerten. Das Problem war nur: Allein Schickedanz konnte als Großaktionärin Anteile kaufen, ohne allen anderen Aktionären ein Übernahmeangebot machen zu müsD E R S P I E G E L 1 9 / 2 0 1 2 sen, bei dem der Kurs explodiert und der Plan zu teuer geworden wäre. Schickedanz aber war schon bis zur Halskrause verschuldet. Bei weiteren Krediten hätte Sal. Oppenheim Probleme mit der Bankaufsicht bekommen. Also musste eine Strohmann-Konstruktion her. 380 Millionen Euro verlieh die Bank an eine Firma namens ADG Allfinanz. Die tat nichts anderes, als das Geld an Schickedanz weiterzureichen. Hinter der ADG standen zwei Esch-Firmen und die Bankgesellschafter Krockow und Christopher von Oppenheim sowie Aufsichtsratschef Georg von Ullmann. Sie alle bürgten als Privatleute bei der Bank für den ADG-Kredit. Das heißt: Falls die Aktien verfielen und Schickedanz nichts mehr hätte, müssten sie einspringen, den Kredit bei der Bank zurückzahlen. Wieder argumentiert Schickedanz, die Herren aus dem Rheinland hätten ihr das Blaue vom Himmel versprochen. Dass sie nur ihren Namen hergeben, dass sie selbst im schlimmsten Fall nichts zahlen müsse. Als Beleg, wie durchtrieben Esch und die Banker sie ausgesaugt haben sollen, taugt der ADG-Kredit aber kaum. Weil Schickedanz bis heute nicht zurückzahlen will oder kann, sind ihre Hintermänner die Dummen. Sie mussten dafür nach der Arcandor-Pleite Millionen an die Bank überweisen. Jetzt wollen sie von Schickedanz das Geld zurück; sie bestreiten, ihr solche Zusagen gemacht zu haben. Für Schickedanz und Herl dürfte schon Mitte 2008 klar gewesen sein, dass sie sich verzockt hatten. Der Versuch, den Konzern von der Börse zu nehmen, war gescheitert, Middelhoffs Zauber verflogen. Die Börsianer schauten ernüchtert auf die Geschäftszahlen von Arcandor. Der Aktienkurs fiel auf sieben Euro. Damit rutschte Schickedanz ganz nah an die Todeszone – jene Zone, in der die Aktien zu wenig wert sind, um die Kredite zu decken, mit denen sie gekauft wurden. Glaubt man den Esch-Anwälten, dann meldete sich Herl deshalb im Juni 2008 75 JÖRG CARSTENSEN / PICTURE-ALLIANCE / DPA Immobilienmagnat Esch: Vollservice mit Privatjets und Bodyguards bei ihrem Mandanten. Herl habe gefragt, für habe er 70 Prozent der Kursgewinne ob jetzt, bei sieben Euro, die Bank den verlangt, nur 30 sollten bei ihr landen. Es blieb, so Esch, bei einem Entwurf, Kredit kündige und ihr Geld zurückwolle. Schickedanz-Anwalt Andreas Ringst- deshalb seine fehlende Unterschrift, desmeier will dazu und zu allen anderen Vor- halb das distanzierte „Zur Kenntnis gewürfen nicht Stellung nehmen. Seine nommen“, mit dem Schickedanz abzeichMandantin und er führten derzeit die nete. Für die Schickedanz-Anwälte be„Vergleichsgespräche“ mit dem mittler- weist das Papier dagegen heute, dass weile von der Deutschen Bank übernom- Esch und Konsorten die Milliardärin nur menen Bankhaus Sal. Oppenheim. Diese für eigene Geschäfte vorgespannt hätten. Verhandlungen „möchten wir nicht durch Es stamme nicht von 2006, sondern tatsächlich von 2004. Ob damit doch ein Pressekontakte belasten“. Aber so bleibt auch die Frage offen, Vertrag zustande gekommen ist, müssen warum nicht spätestens jetzt, im Juni wohl Juristen klären. Nur merkwürdig: 2008, ein Brief, ein Hinweis, was auch im- Bis 2011 war dieser angebliche Schuldmer von der Schickedanz-Seite kam, dass beitritt für Schickedanz offenbar kein sie das alles sowieso nichts angehe, da es Thema. Ein Kurs von sieben Euro – nach Bedoch den Schuldbeitritt von Esch gebe – seine angebliche Verpflichtung, alle Risi- rechnungen der Esch-Anwälte hätte das ken zu tragen. Möglicherweise, weil auch Schickedanz schon damals klar war, dass die Dinge bei dem Papier wohl kompliziert liegen, nicht nur wegen der fehlenden Esch-Unterschrift. Denn Esch erzählt zu dem ominösen Schuldbeitritt eine andere Geschichte, keine, die ihn in einem guten Licht dastehen lässt, vielleicht gerade deshalb eine wahre. Das Papier stamme gar nicht von im Juni 2008 aber noch ausgereicht, um 2004, wie das Datum vermuten lasse. Er beim Verkauf sämtlicher Aktien alle habe es erst 2006 aufgesetzt und dann ge- Schulden loszuwerden. Tatsächlich soll in jenem Sommer auch ein Hinweis von trickst, nämlich zurückdatiert. Der Grund: Mit dem Sonntag in Hers- Goldman Sachs gekommen sein, die Schibruck, als Schickedanz entschied, ihre ckedanz-Aktien ließen sich zu diesem Aktien zu behalten, hatte sie auch be- Preis komplett am Markt platzieren. Das schlossen, alle Karstadt-Immobilien an soll Middelhoff der Großaktionärin auch ein Konsortium von Deutscher Bank und gesagt haben. Aber in einer Besprechung Goldman Sachs loszuschlagen. Von da an am 27. Juni 2008, so behauptet die Eschwar für Esch die Chance dahin, aus den Seite, habe sich Schickedanz erneut dagegen entschieden. besten Häusern Fonds zu schnüren. Die Quelle-Erbin bestreitet das: Sie will Also will Esch für sich einen Weg gesucht haben, wie er stattdessen bei der Esch geradezu bekniet haben zu verkauAktienhausse dabei sein könnte, die Mid- fen, aber „er sprang im Dreieck“, sagte delhoff damals noch versprochen hatte. sie in einer WDR-Fernsehdokumentation, Er habe dazu Schickedanz angeboten, „da würde die Bank niemals mitgehen“, rückwirkend für den 170-Millionen-Euro- und er, Esch, „niemals zustimmen“. WieKredit zu haften, den sie bei der Kapital- der Aussage gegen Aussage, aber warum erhöhung 2004 aufgenommen hatte. Da- hätte sich die Bank – wegen der wackeln- Noch 2008 hätte Schickedanz mit dem Verkauf ihrer Aktien alle Schulden loswerden können. den Schickedanz-Kredite extrem gefährdet – gegen den Verkauf wehren sollen? Mit dem Geld hätte Schickedanz die Kredite zurückzahlen können. Und Esch musste hoffen, dass Schickedanz Geld bekam, um nicht selbst bei den ADG-Krediten für sie zahlen zu müssen. Dann kam das Ende. Nach der Lehman-Pleite sackte der Arcandor-Kurs Richtung zwei Euro. Die Hausbanken wollten dem Konzern die Kreditlinien nicht mehr verlängern, zumindest nicht ohne neue Kapitalerhöhung. Bei Schickedanz war nichts mehr zu holen. Auch beim Bankhaus Oppenheim brannte es wegen Schickedanz: Bei diesem Kurs reichten die Aktien längst nicht mehr, um die Kredite zu decken. Die Bank musste mehr Sicherheiten verlangen, sonst drohte Ärger mit der Aufsicht. Jetzt ging es also an die Villen, Schlösschen, Chalets, in St. Moritz, am Tegernsee, auf dem Michelsberg in Hersbruck. Schickedanz erzählte mit der Stimme einer gebrochenen Frau im WDR, wie ihr das alles genommen worden sein soll. Ihre Geschichte geht so: Am 17. Oktober 2008 ließ Esch sie in Köln antreten. Er hatte sie mit einem seiner Privatjets hinfliegen lassen. Doch Esch war nicht da. Und auch sonst keiner. Zwei Stunden musste sie mit ihrem Mann im Flugzeug sitzen und warten. Dann stürzte Esch mit einem Notar herein, hielt ihr Papiere vor, Urkunden zur Belastung ihrer Häuser, die sie sofort unterschreiben musste. „Sonst bist du pleite“, sagte Esch. Sie fügte sich, angeblich weil sie in diesem Moment fast körperliche Angst vor Esch hatte. War es wirklich so? Eschs Anwälte schildern die Flugplatz-Episode anders, nicht als Endzeit-Melodram, eher als normalen Geschäftstermin für Business-Jetsetter. Der Flieger sei um 7.50 Uhr gelandet, früher als erwartet, für 8.30 Uhr sei der Notar bestellt gewesen. Der habe die Urkunden verlesen, ohnehin habe die Schickedanz-Seite das aber alles schon bis ins Detail gekannt. Ein Schickedanz-Mitarbeiter war demnach tagelang in der Troisdorfer EschZentrale gewesen, um dort „die Unterlagen zusammenzustellen“ und die Urkunden aufzusetzen. Auf dem Flughafen soll es also nur noch um die Unterschriften gegangen sein, den formalen Akt. Und was ist mit den quälend langen Stunden, eingesperrt im Flugzeug, ausgeliefert diesem Esch und ihren bitteren Gedanken an das verlorene Erbe der Eltern? „Es war von vornherein vereinbart und diente der Bequemlichkeit von Madeleine Schickedanz und Leo Herl, dass sie das Flugzeug nicht verlassen mussten“, schreiben die Esch-Anwälte. Es gehört zum Elend dieser Frau, dass man auch das nicht ausschließen kann. JÜRGEN DAHLKAMP, GUNTHER LATSCH, JÖRG SCHMITT 78 D E R S P I E G E L 1 9 / 2 0 1 2 MANFRED WITT Wirtschaft ERNÄH RUNG Vom Acker Jeder Landwirt soll künftig auch Wein anbauen dürfen – so will es die EU-Kommission. Winzerverbände wehren sich erbittert gegen die Konkurrenz. n dürren Jahren pressten sie 50 Liter Wein aus ihren Trauben, in den fetten Jahren 80 Liter. Mehr holten die Weinfreunde aus Groitzsch, einem Städtchen bei Leipzig, aus ihrem Mini-Weinberg an der alten Burgruine nie heraus. Den sächsischen Hobbywinzern ging es auch nicht um Ertrag, sondern um Tradition. Schon vor fast tausend Jahren sollen Mönche hier Trauben zu Messwein gekeltert haben. Nachdem die Reben im Arbeiter-und-Bauern-Staat DDR einfachem Gemüse hatten Platz machen müssen, knüpften die Weinfreunde in den neunziger Jahren ans Mittelalter an – und pflanzten rund 200 Weinstöcke der Sor- Steillage an der Mosel: „Das Geschäft mit günstigen Weinen machen andere“ ten Müller-Thurgau, Kerner und Regent. Das Auslaufen des Anbaustopps hätte ben, doch die Altwinzer ließen sich die Doch den Bürokraten schmeckte nicht, was die Freizeitwinzer da trieben. Der „ausschließlich negative Auswirkungen Rechte meistens teuer bezahlen. Bis zu Freistaat Sachsen forderte die Groitzscher für die deutsche Weinwirtschaft“, zürnte 30 000 Euro pro Hektar würden verlangt. Auch wenn der Steillagen-Weinbau auf, den größten Teil der Reben aus der der Deutsche Weinbauverband vorab in Erde zu reißen. Seit 1976 gelte schließlich einem Schreiben an die Ausschussmitglie- gern als Pflege einer Kulturlandschaft verin der Europäischen Union (EU) ein stren- der. Der Verband Deutscher Prädikats- klärt werde, dürften die Gesetze des weingüter sekundierte: Ein unkontrollier- Marktes nicht so weitgehend ausgehebelt ger Anbaustopp für Wein. Wer Rebstöcke setzen will, muss ter Rebflächenausbau werde zu „weiterem werden, findet Hoffmann. Schlechte LaPflanzrechte erwerben, die von einer zu- Preisverfall im unteren Segment“ führen. gen an Mosel oder Rhein, die auch bei vor stillgelegten Weinanbaufläche stam- Kleinere Betriebe drohten durch Billig- hohem Aufwand nur mäßige Qualität liemen müssen. Die Regelung schützt vor konkurrenten vom Markt geschwemmt ferten, seien trotz des Winzer-SchutzÜberproduktion – und die professionellen zu werden, in schwierig zu bewirtschaften- schirms vielfach aufgegeben worden. Und Winzerbetriebe in traditionellen Wein- den Steillagen seien „Weinbergsbrachen“ den Siegeszug billiger Weine, die im Discountladen weniger als zwei Euro kosten, zu erwarten. baugebieten vor Konkurrenz. Verbündete aus der Politik haben die habe der Anbaustopp ebenso wenig verWeshalb 80 Liter eines säuerlichen Getränks aus sächsischer Freizeitproduktion Winzerverbände reichlich. Neben den hindert. „Nur machen jetzt andere das den europäischen Weinmarkt durcheinan- Landesregierungen der Weinbauländer – Geschäft mit den günstigen und einfaderbringen sollen, erscheint nicht nur den Bayern, Baden-Württemberg, Hessen, chen Fassweinen“, sagt Hoffmann: GroßBürgern von Groitzsch rätselhaft. Auch Rheinland-Pfalz – ist Landwirtschaftsmi- betriebe aus Südeuropa oder Übersee. Unterstützung erhält der Experte von die EU-Kommission will das Reglement nisterin Ilse Aigner (CSU) auf ihrer Seite. inzwischen nicht mehr. Sie beschloss, dass Deutschland werde sich in Brüssel für Vertretern des Weinhandels, die sich ein der derzeit noch gültige Anbaustopp ab eine Verlängerung der Regelung stark- größeres Angebot einfacher Weine aus 2015 auslaufen soll. Spätestens von 2018 machen, versprach ihr Parlamentarischer Deutschland wünschen. Und natürlich an dürfte dann auf jedem Acker auch Staatssekretär Peter Bleser im Januar vom Groitzscher Bürgermeister Maik ohne Pflanzrechte Wein angebaut wer- den Mitgliedern des Weinbauverbandes Kunze: „Bei uns versteht kein Mensch, den – in einem traditionsreichen Flusstal Rheinhessen. Eine „qualifizierte Mehr- warum jemand regeln muss, ob wir in unmit Hanglagen ebenso wie in jedem säch- heit“ unter den EU-Mitgliedstaaten sei serer Stadt Wein anpflanzen oder nicht.“ Immerhin fanden seine Weinfreunde „schon sehr nahe“, sagte Bleser. sischen Dorf und an der Nordseeküste. Das ist eine schlechte Nachricht für den zwei Schlupflöcher, um die Rebentradition Dass die Interessenvertreter der deutschen Profiwinzer von dieser Liberalisie- Winzernachwuchs: „Ich schaue jeden Tag ihres Städtchens fortzuführen. Für genau rung nichts halten, werden die Abgeord- in die traurigen Augen von Studenten, 99 Quadratmeter erhielten Vereinsmitglieneten des Deutschen Bundestags spätes- denen der Anbaustopp die berufliche Per- der als Privatpersonen eine Ausnahmegetens an diesem Mittwoch erfahren. Für spektive raubt“, sagt der Wein-Ökonom nehmigung, so dass sie zumindest ein paar diesen Tag hat der Ausschuss für Ernäh- Dieter Hoffmann von der renommierten Liter Wein pressen können. Und im Übrung und Landwirtschaft zu einer öffent- Weinbau-Forschungsanstalt im hessischen rigen werden in Groitzsch jetzt Reben für lichen Anhörung geladen. Die Lobby der Geisenheim. Wer einen Betrieb gründen Tafeltrauben angepflanzt: „Die sehen ganz Weinbauern will dort erreichen, dass sich wolle, habe keine andere Wahl, als zu war- ähnlich aus und sind zum Glück noch nicht die EU-Kommission mit ihren Plänen ten, bis ein bestehender schließt. Dessen reglementiert in der EU“, sagt Kunze. Pflanzrechte müsse der Gründer erwervom Acker macht. MATTHIAS BARTSCH HARALD TITTEL / DAPD I D E R S P I E G E L 1 9 / 2 0 1 2 79 Trends ZDF Medien ARD Regierung im Fernsehrat Die Bundesregierung entsendet zwei neue Vertreter in den ZDF-Fernsehrat. Neben Bundeswirtschaftsminister Philipp Rösler (FDP) soll ab Juli Eva Christiansen, Medienberaterin von Bundeskanzlerin Angela Merkel, dem Kontrollgremium angehören. Am vergangenen Mittwoch verabschiedete das Bundeskabinett eine entsprechende Beschlussvorlage. Unverändert bleibt die Personalie Maria Böhmer. Die Staatsministerin im Kanzleramt ist derzeit stellvertretende Vorsitzende des ZDF-Fernsehrats. Dieser überwacht das Programm und genehmigt den Haushalt des Senders. Dem Rat gehören 77 Vertreter aus Politik, Kirche, Gewerkschaften und Verbänden an. F. VON ERICHSEN / PICTURE ALLIANCE / DPA Kein Platz an der Sonne Die Suche nach einer neuen Aufgabe für Thomas Gottschalk in der ARD verläuft holprig. Die Idee aus den Reihen des Ersten, ihn ab Herbst eine Show für die ARD-Fernsehlotterie „Ein Platz an der Sonne“ moderieren zu lassen, wurde von den Verantwortlichen der gemeinnützigen Gesellschaft abgelehnt. Ein Grund soll Gottschalks früheres Engagement für das ZDF-Pendant „Aktion Mensch“ sein, was die eigene Organisation verwechselbar machen könnte. Zudem hat die Fernsehlotterie im vergangenen Jahr die Moderatorin Monica Lierhaus als Werbeträgerin verpflichtet. Eine derartige Show wäre für die ARD schon deshalb von Vorteil gewesen, weil die Lotterie sich wohl an den Kosten beteiligt hätte. Das erfolglose Vorabendexperiment „Gottschalk Live“, das am 7. Juni endet, war mit Werbegeldern bezahlt worden – ein Finanzierungsmodell, das bei einer Sendung am werbefreien Hauptabend ausscheiden würde. D.MODJESCH / BABIRADPICTURE Gottschalk Nachrichtenstudio in Mainz N I G G E M E I E RS M E D I E N L E X I KO N Ken|tern das: Untergang in der Flut nautischer Sprachbilder über die Piratenpartei Es hätte, wie immer, schlimmer kommen können. Wenn etwa eine Partei in unser Bewusstsein und die Parlamente drängte, die sich „Die Schlümpfe“ nennen würde. Dann würden wir jetzt auf Jahre hinaus mit Schlagzeilen aufwachen, in denen jemand ein beliebiges unschuldiges Verb durch das Wort „schlumpfen“ ersetzt hätte. Die Realität ist kaum besser. Man würde so gern formulieren, dass der Aufstieg der Piratenpartei auch die Phantasie der Journalisten angeregt habe. Tatsächlich scheinen sie sich eher zu einem Marathon herausgefordert zu fühlen, den derjenige gewinnt, der am längsten braucht, um von einer totgerittenen Metapher abzusteigen. Kaum ein Tag vergeht, ohne dass die Piraten jemandem in einer Meldung „davonsegeln“, auf einer „Erfolgswel- le“ oder „mit Rückenwind“, manchmal „trotz Sturmböen“. Gute Umfragewerte führen zur Überschrift: „Mehr als eine Handbreit Wasser unter dem Kiel“, und wenn einer über eine unbedachte Bemerkung stolpert, lassen die Piraten ihn „über die Planke gehen“. Man möchte die Piraten schon dafür verfluchen, dass sie durch ihren Namen, ihre Symbolik und einen Slogan wie „Klarmachen zum Ändern“ den politischen Journalisten einen Zugang zu dieser aufregenden Welt voller bunter Sprachbilder geschenkt haben. Nun glauben die, sie könnten mit einem schnellen Griff in diese Wörterkiste aus jeder tristen Politikmeldung einen Mini-Abenteuerroman machen, und provozieren Metaphernverdrossenheit. D E R S P I E G E L 1 9 / 2 0 1 2 Kommt es zur „Meuterei“ gegen den Piraten-Chef, lautet die Schlagzeile: „Segel gesetzt: Kapitänswechsel auf der Piratenbrücke“ oder auch: „BundesBernd auf Kaperfahrt“. Je nachdem, wie die Partei mit Extremisten umgeht, heißt es: „Piraten zeigen Flagge gegen Rechts“ oder: „Augenklappe rechts“. Eine Nachrichtenagentur meldet: „Auf dem Piratenschiff knarzt es ordentlich im Gebälk … Der Kahn der Freibeuter hat eine derart rasante Fahrt aufgenommen, dass manche Spitzenkräfte völlig überlastet die Segel streichen.“ Vermutlich ist es nur gescheiterten Honorarverhandlungen zu verdanken, dass bei Anne Will zum Thema „Piraten entern Berlin – Meuterei auf der ,Deutschland‘“ nicht auch Johnny Depp als Experte mitdiskutierte. Aber für den Sieg in der inoffiziellen Metaphernmischmeisterschaft hätte es eh nicht gereicht. Vorn müsste „Bild“-Mann Nikolaus Blome liegen, Erfinder der „Freibier-Freibeuter“. 81 Medienzar Murdoch IMPERIEN Murdochs Gen-Code Seine Boulevardblätter und TV-Sender haben Politiker korrumpiert und Menschen gequält. Doch die Methoden, denen Rupert Murdoch den Aufstieg zum mächtigsten Medientycoon der Welt verdankt, werden ihm nun zum Verhängnis. Die Opfer Bei über 1100 Menschen ließ die britische „News of the World“ Handys bespitzeln. Die Staatsanwaltschaft ermittelt zudem wegen des Verdachts auf Bestechung von Amtspersonen. Auch in den USA und Australien untersuchen staatliche Stellen die Methoden und Geschäfte von News Corp. und dessen Eigentümer: Rupert Murdoch. LEFTERIS PITARAKIS / AP (L.); ZUMA PRESS / ACTION PRESS (R.) Familie Dowler JULIAN MAKEY / REX FEATURES Sienna Miller Max Mosley 82 D E R S P I E G E L 1 9 / 2 0 1 2 OLIVIA HARRIS / REUTERS Medien a sitzt er nun, der mächtige Greis, in Saal 73 der königlichen Gerichtshöfe in London, und tut, was er schon immer am liebsten tat: Er kämpft. Es ist der Kampf seines Lebens. Eigentlich ist Rupert Murdoch bloß als Zeuge vor dem richterlichen Ausschuss geladen, der die Methoden der britischen Presse durchleuchten soll. Doch jeder hier weiß: Dieser 81-Jährige, der seine faltigen, von Altersflecken gezeichneten Hände so unschuldig auf den Tisch legt, ist der Angeklagte. Die Redakteure seiner Boulevardblätter waren es, die Hunderte von Handys anzapften und Amtspersonen bezahlten, die Menschen bedrohten und einschüchterten. Das ist schon schlimm genug, doch die Vorwürfe greifen tiefer: Murdoch missbrauche seine Medienmacht, um Politiker zu korrumpieren. Er unterwandere die Demokratie. Und der gebürtige Australier weiß, dass es um seinen Kopf geht. Aber große Gegner haben ihn schon immer zu Höchstleistungen getrieben. Einst schlug er seinen Konkurrenten Robert Maxwell im Wettstreit, wer das größere Medienimperium erschaffen würde. Seinen Erzfeind Ted Turner und dessen liberalen US-Sender CNN provoziert Murdoch mit dem noch erfolgreicheren Rechts-außen-Sender Fox News. Und mit dem 2007 einverleibten „Wall Street Journal“ greift er derzeit die „New York Times“ an, auch weil ihm der journalistische Ehrenkodex des Herausgebers Arthur Ochs Sulzberger so furchtbar auf die Nerven geht. Was sind dagegen schon ein paar britische Richter? Rupert Murdoch ist in Bestform. Fast elastisch schlängelt er sich vorbei an Aktenbergen und Anwälten zum Zeugenstand. Er hat sein Business-Gesicht aufgesetzt, die Furchen um Stirn und Nase zu einer undurchdringlichen Miene gezogen. Wenn er sitzt, hat seine Unbeweglichkeit etwas von einer Reptilstarre. Mit langen Pausen irritiert er seinen Befrager. Er wiegelt ab, bleibt vage, zieht Ernstes ins Lächerliche, dementiert, klagt D an. Ist die Faktenlage gegen ihn eindeutig, entschuldigt er sich. Er habe sich einfach zu sehr auf seine Untergebenen verlassen. So etwas passiert eben, wenn man nicht alles selbst macht. Sein Fehler. Seine Schlagfertigkeit bringt das Publikum zum Lachen. Warum er denn 10 Downing Street, die Residenz aller britischen Premierminister, immer durch den Hintereingang betrat? „Weil hinter dem Haus die Parkplätze sind“, sagt Murdoch. Mit Geheimtreffen habe das nichts zu tun. „Ich habe niemals einen Regierungschef um etwas gebeten. Ich habe von ihnen nie Hilfe erwartet, noch um Hilfe gebeten. Wir haben in unseren Zeitungen niemals die kommerziellen Interessen des Konzerns verfolgt.“ Es ist noch nicht lange her, da konnte Murdoch solche absurden Behauptungen unwidersprochen aufstellen. Seine Unterstützer schwiegen aus Berechnung, seine Feinde aus Angst vor Rache. Doch seit dem Abhörskandal hängt das feingesponnene Netz aus Freundschaften, Abhängigkeiten und Ängsten in Fetzen. Nur wenige Tage nach seinem Auftritt fällt ein anderer Untersuchungsausschuss, diesmal vom britischen Unterhaus, ein vernichtendes Urteil. Murdoch habe in seinem Konzern News Corp. ein Klima des „absichtlichen Wegsehens“ etabliert, in dem sich kriminelle Praktiken ungehindert ausbreiten konnten. Er sei „ungeeignet, ein großes internationales Unternehmen zu führen“. Es ist ein Satz wie eine Guillotine, eine politische Abrechnung mit dem Mann, der den mächtigsten Medienkonzern der Welt erbaut hat. Dessen Zeitungen dem britischen Premier Tony Blair diktierten, gegen den Euro und für den Irak-Krieg zu sein. Dessen Sender Fox die politische Kultur der USA nach rechts verrückt hat. Langsam wird es gefährlich für den großen Vorsitzenden. Murdochs Reich aus 170 Zeitungen, Dutzenden Fernsehsendern, dem Filmstudio 20th Century Fox, Internet- und Bildungsfirmen bröckelt an allen Enden. Allein in Großbritannien sind mehrere Kommissionen tätig, stän- UPI/LAIF Elle Macpherson Ehepaar McCann dig werden News-Corp.-Manager wegen des Verdachts krimineller Machenschaften festgenommen. In den USA, wohin Murdoch 2004 den Firmensitz verlegte, ermittelt das FBI. Eine australische Regierungskommission diskutiert über die Besitzverhältnisse auf dem Zeitungsmarkt, der zu 70 Prozent von Murdoch beherrscht wird. Ausgelöst hat das alles ein einziger Artikel im „Guardian“. Am 5. Juli 2011 berichtete das Blatt, dass Journalisten von Murdochs „News of the World“ das Handy der ermordeten 13-jährigen Milly Dowler gehackt hatten. Das Mädchen war 2002 entführt worden. Immer wieder sprachen die Eltern auf ihre Mailbox, ohne zu ahnen, dass diese von Murdochs Leuten abgehört wurde. Im Saal 73 der königlichen Gerichtshöfe in London ist es mucksmäuschenstill, als Milly Dowlers Eltern am 21. November 2011 in den Zeugenstand treten. Bob und Sally Dowler sind kleine Leute mit großem Anstand. Sie klagen nicht an. Sie richten nicht. Die kleine Frau und ihr bulliger Mann erzählen einfach. Wie die Reporter der „News of the World“ wochenlang ihr Haus belagerten und mit gezückter Kamera aus dem Gebüsch sprangen. Und von jenem Tag, als sie ihren Mann anrief. „Lass uns noch einmal den letzten Weg von Milly ablaufen.“ Kurz darauf schritt das Paar die Strecke ab, auf der ihr Kind verlorenging. Sie waren nicht allein. Die Reporter hatten ihr Telefon gehackt und einen Fotografen losgeschickt. Kurz danach war die Story vom Leidensweg der Eltern im Blatt, groß und mit Bild. „Sie waren in unseren ganz privaten Moment der Trauer eingedrungen“, sagt Sally Dowler. Das Leid verzweifelter Eltern als Verkaufsschlager, das ging selbst den klatschverliebten Briten zu weit. Untersuchungsausschüsse wurden eingesetzt, der Chef von Scotland Yard musste wegen enger Kontakte zur „News of the World“ gehen. Murdoch schloss die 168 Jahre alte Zeitung, besuchte die Dowlers und entschädigte sie mit zwei Millionen Pfund. Er sprach von ein paar irrlichternden Reportern. Doch es half nichts. Denn die Untersuchungen förderten eine Fülle weiterer Geschichten seiner Journalisten zutage, die an Rohheit kaum zu überbieten waren. Ein unbescholtener Vermieter wurde plötzlich als Mörder verdächtigt, weil seine Mieterin ermordet worden war. Einem Fußballstar führten die Journalisten eine Gespielin zu. Die Affären-Story zerstörte seine Ehe. Die PR-Frau des abgehörten Supermodels Elle Macpherson verlor den Job, weil das Model glaubte, sie habe Informationen an die Presse verkauft. Gerry und Kate McCann, die Eltern der 2007 in Portugal aus einer Ferienanlage verschwundenen Madeleine, muss83 D E R S P I E G E L 1 9 / 2 0 1 2 ALL ACTION / ACTION PRESS Medien ten erst ertragen, als Mörder verdächtigt zu werden. Als das Thema durch war, druckte die „News of the World“ seitenweise das Tagebuch der verzweifelten Mutter ab. Offensichtlich war das Booklet, als es bei der Polizei lag, heimlich kopiert worden. „Das war wie eine Vergewaltigung“, sagt Kate McCann. In Rupert Murdochs Reich wird gelogen und gestalkt, gedroht und gedemütigt, gekauft und abgehört. Je mehr ans Licht kommt, desto klarer wird: Das sind keine bedauerlichen Ausnahmen, es ist vielmehr der Gen-Code des Unternehmens, so wie Rupert Murdoch es erschuf. Wie kein zweiter Medientycoon legt er selbst Hand an seine Zeitungen, er prägt das Klima in seinen Blättern. Mit einer Mischung aus Bewunderung und Abscheu beschrieb Piers Morgan, Mitte der neunziger Jahre Chefredakteur der „News of the World“, seinen Boss, der alles weiß und alles wissen will. Alle paar Tage ruft Murdoch an. Eine Geschichte über einen Soap-Star? Fliegt aus dem Blatt, weil Murdoch weder die Soap noch den Star kennt. „Und das soll die wichtigste Geschichte in Großbritannien diese Woche sein?“, fragt er. „Ich hoffe, Ihre hochbezahlten Reporter sorgen nächste Woche dafür, dass es etwas lauter wird.“ Murdoch liebt Klatsch und saftige Geschichten, der Druck ist riesig, es ihm recht zu machen. „Die meisten Murdoch-Chefredakteure wachen morgens auf, machen das Radio an, hören etwas und fragen sich: Was würde Rupert darüber denken? Man sieht die Welt mit seinen Augen“, sagt der frühere „Sun“-Chefredakteur David Yelland. „Das Unternehmen spiegelt mein Denken, meinen Charakter, meine Werte wider“, sagte Murdoch einmal. Genau das ist jetzt sein Problem. Vielleicht wäre aus ihm ein anderer Mensch geworden, wenn er einen weniger strengen Vater gehabt hätte. Doch Sir Keith Murdoch, Verleger und angesehener Journalist, war ein mitleidsloser Mann. Er fragte sich, ob der Sohn das Zeug haben würde, sein Lebenswerk fortzuführen, als Rupert noch ein Kind war. Um den Jungen abzuhärten, steckten ihn die Eltern in die gestrenge Geelong Grammar School nahe Melbourne. Doch schlimmer als die Zucht im Elite-Internat waren die Ferien zu Hause. Nachts wurde das Kind in ein unbeheiztes Baumhaus im Park des Familiensitzes Cruden Farm verbannt. Allein, über einen Zeitraum von acht Jahren. Vielleicht war es in einer dieser einsamen Nächte, in der der Zögling aus feinem Hause diese Wut gegen das Establishment entwickelte, die zur Triebfeder seines Erfolgs wurde; den Willen, es allen zu zeigen, vor allem seinem Vater. Auch die Mutter glaubte, ihren Sohn stählen zu müssen. Auf einer Schiffsreise warf sie den Fünfjährigen in den Bord84 Vater Keith Murdoch 1951 Zweifel, ob der Sohn würdig sei Britische Karikatur mit Premier Cameron und Ex-Chefredakteurin Brooks Ehemaliger Premier Blair 2010 Die Labour-Partei ausgeliefert D E R S P I E G E L 1 9 / 2 0 1 2 Pool, damit er schwimmen lerne. Mit jeder Bewegung des Schiffs wogte das Wasser im Becken. „Ich schrie und versuchte, an den Rand zu paddeln wie ein Hund“, erinnerte sich Murdoch. Der Sohn arbeitete sich am Vater ab. In der Schule gebärdete er sich als Kommunist. Während des Studiums an der Elite-Universität Oxford stellte er eine Lenin-Büste auf den Kaminsims. In Briefen nach Hause schwärmte er zum Groll seines Vaters von „dem großen Denker“. Gerald Kaufman kennt Murdoch noch aus Studententagen. Sir Gerald ist 81 Jahre alt, ein hutzeliger, glatzköpfiger Mann und ein Urgestein der Labour Party. In seinem winzigen Büro im alten Trakt des Parlaments in Westminster riecht es nach altem Teppich und britischer Seife. Kaufman lernt Murdoch im Oxford University Labour Club kennen, der Studentenorganisation der Arbeiterpartei. Der Mann, der später die Macht der Gewerkschaften in seinen Zeitungen brutal zerschmettern wird, will damals Generalsekretär werden. „Rupert war engagiert und sehr beliebt. Er kann sehr charmant sein“, sagt Kaufman, damals Präsident des Clubs. Doch die Regeln in Oxford sind streng: Wahlkampf für das Amt ist verboten. Murdoch aber sind schon damals die Regeln egal, wenn es darum geht, die Massen hinter sich zu bringen. „Er kann bei denen, die ihn unterstützen, eine Menge Enthusiasmus freisetzen, und hat eine beachtliche Entschlossenheit, zu bekommen, was er will“, sagt Kaufman. Zwei seiner Anhänger versehen die Briefumschläge der Studentenpost mit dem Slogan „Rooting for Rupert“, „Unterstützt Rupert“. Der gewinnt die Wahl, doch es hagelt Beschwerden. Kaufman leitet ein Untersuchungsverfahren ein. Ob Murdoch seine Anhänger zu dem illegalen Treiben angestachelt hat, kann nicht bewiesen werden. Der Jury reicht, dass er seine Subalternen gewähren lässt. Der Wahlsieg wird ihm aberkannt. Als sein Vater 1952 starb, kehrte Rupert nach Australien zurück und übernahm dessen zwei Zeitungen. Schnell kaufte er weitere Regionalblätter, Magazine und Fernsehsender dazu, hob 1964 den „Australian“ aus der Taufe. 1969 wagte Murdoch den Sprung nach Großbritannien. Erst erwarb er das Sonntags-Boulevardblatt „News of the World“. Kurz darauf folgte die „Sun“. Murdoch machte das langweilige Arbeiterblatt zu einem Unterhaltungsmedium für die Massen. Dank Sex, Sport und Sensationen kletterte die Auflage schnell auf zwei Millionen. Der „dirty digger from down under“, den die Verleger der Fleet Street am liebsten draußen gehalten hätten, wurde ein ernstzunehmender Konkurrent. Die wuchtigen Titelzeilen der „Sun“ sind seither Murdochs gefürchtete Waffe. Als sich der ehemalige Premierminister John CARL COURT / AFP HOWARD MCWILLIAM / THE DAILY TELEGRAPH SUN NEWS PICTURE BY STAFF Major einmal beim Chefredakteur erkundigte, was man am nächsten Tag über ihn schreibe, antwortete der: „Ich werde einen Eimer Scheiße über Ihnen auskübeln.“ Gegen Murdoch anzugehen hieß, die Karriere zu gefährden. Lieber ebneten ihm Politiker den Weg in die Allmacht. Margaret Thatcher, wie Murdoch eine glühende Verfechterin des freien Markts, erlaubte ihm 1981 den Kauf der ehrwürdigen „Times“ und der „Sunday Times“, an der Monopolkommission vorbei. Nun gehörten dem Australier 40 Prozent der britischen Zeitungen. Mit Thatchers Hilfe durfte sich Murdoch auch seine Vormacht im Satellitenfernsehen zurechtzimmern, den Abo-Kanal BSkyB. Die Eiserne Lady ging nicht leer aus. Für ihre Memoiren erhielt sie von Murdochs Buchverlag HarperCollins fünf Millionen Pfund. Tony Blair lieferte später die LabourPartei an Murdoch aus. Nach einem Jahrzehnt verlorener Wahlen für Labour war ihm klar, dass ohne die Schützenhilfe der „Sun“ nichts zu gewinnen ist. Murdoch mochte den ehrgeizigen, undogmatischen Blair. Im Juli 1995 lud er ihn auf die australische Insel Hayman ein, in ein Nobel-Resort am Great Barrier Reef. Es war ein Test, und Blair spurte: In seiner Ansprache an rund 300 NewsCorp.-Führungskräfte versprach Blair, wenn er die Wahl gewänne, würde seine Partei Medienkonzerne vor strenger Regulierung bewahren. Für Labour steht Hayman Island seither für die Kapitulation der Partei vor Murdochs Medienmacht. In seinen Memoiren schreibt Blair: „Nicht hinzufahren, hätte geheißen: Gebt euer Schlimmstes. Und wir wussten, wie das aussieht.“ Im März 1997 schlug sich die „Sun“ auf Blairs Seite, am 1. Mai gewann er die Wahl. „Wir dachten, wir hätten Murdoch kaltgestellt“, erinnert sich der frühere Labour-Abgeordnete Chris Mullin, „dabei hat er uns kaltgestellt.“ Als Murdoch 1998 etwa mit einem Preiskrieg den Rivalen „Independent“ an den Rand des Ruins brachte, weigerte sich Blair, ein Gesetz anzunehmen, das Dumping-Preise für Zeitungen untersagt hätte. Die Argumente, mit denen Murdoch die Politik bearbeitet, sind stets die gleichen: Die Bürger hätten die Nase voll von ihrem elitären, muffigen Mediensystem, das ihnen vorschreibe, was sie zu lesen und zu sehen haben. Das Publikum lechze nach neuer, anderer Ware. Murdoch verkauft sich als Außenseiter, der Vielfalt bringt, und nichts fordert, außer einem freien Markt. In die Falle tappen sie alle, Konservative wie Sozialdemokraten, in Australien, Großbritannien – und den USA. Dort ist Murdoch mit Fox News sein Meisterstück gelungen. Der Sender ist das Pendant zur „Sun“: rechtspopulistisch, mit Hang zur Kampagne und lukrativ. Wie Murdochs Zeitungen gebärdet D E R S P I E G E L 1 9 / 2 0 1 2 85 Medien sich Fox als antielitäres Sprachrohr kleiner Leute. Genüsslich hetzt der Sender gegen die angeblich linken MainstreamMedien. Fox News hat Sarah Palin zur Ikone der Tea Party gemacht und den hysterischen Widerstand gegen Obamas Gesundheitsreform orchestriert. Fast alle republikanischen Präsidentschaftskandidaten standen zeitweise auf der Fox-Payroll. Mit Geld, weiß Murdoch, kriegt er sie alle. Sogar die vornehmen Bancrofts, einst Besitzer des „Wall Street Journal“. Die Zeitung gehört seit 2007 zu News Corp. Weniger, weil Murdoch seine Liebe zur Wirtschaftsberichterstattung entdeckt hätte. Ihn freut vielmehr, dass es die New Yorker High Society kränkt, wenn einer wie er das Nobelblatt kontrolliert. Um die Leute vom „WSJ“ zu ärgern, brachte er beim Antrittsbesuch prompt den Chefredakteur seines Revolverblatts „New York Post“ mit. Wiederholt ereiferte sich Murdoch, wie oft die „WSJ“-Texte redigiert werden: Zum Überprüfen würden die Artikel womöglich noch an die Elite-Universität Princeton geschickt, ätzte Murdoch. Journalismus ist für ihn ein roher Akt, in dem es auf Instinkte und Reflexe ankommt, nichts für sensible Gemüter. Murdoch hat gezielt Leute aus der zweiten Reihe rekrutiert. Sie verdanken ihm alles. Dafür gehen sie für ihn an die Grenzen der Legalität – und darüber hinaus. Rebekah Brooks etwa, Murdochs erklärter Liebling, fing mit Anfang zwanzig als Sekretärin bei „News of the World“ an. Mit 32 wurde die Frau mit den feuerroten Locken Chefredakteurin. 2009 beförderte er sie zur Chefin seiner Presseholding. Sie war nun eine der mächtigsten Frauen des Landes. Heute ermittelt die Polizei gegen sie wegen des Abhörskandals. Als Redakteurin schlich Brooks, im Putzfrauenkittel, in die Druckerei der Schwesterzeitung „Sunday Times“ und klaute eine druckfrische Ausgabe mit dem exklusiven Vorabdruck eines Buchs über Prinz Charles. Zeile für Zeile wanderte in die „News of the World“. Für ein Gespräch mit dem Liebhaber von Lady Di, James Hewitt, ließ sie die gemietete Hotelsuite verwanzen. Murdoch Journalisten sind eine Armee im Zustand permanenter Mobilmachung: In Mülltonnen und Mailboxen sammeln sie Material gegen alle und jeden, um jederzeit losschlagen zu können. Leute zu schikanieren sei eben „Teil des Spiels“, gab Murdoch im Ausschuss zu Protokoll. Max Mosley, der frühere Präsident des Formel-1-Verbands, hat am eigenen Leib erfahren, nach welchen Regeln Murdochs Mitarbeiter dieses Spiel betreiben. Es ist ein Sonntag, der 30. März 2008, als Mosley einen Anruf seines Pressesprechers bekommt: Auf dem Titel der „News of the World“ sei eine Geschichte, die ihn mit fünf Frauen bei einer SadomasoParty zeige. Von „Nazi-Sex-Orgie“ ist die Rede, die Frauen hätten Uniformen und Häftlingskleidung angehabt. Mosley ist geschockt. Kein Journalist der Zeitung hat versucht, ihn zu kontaktieren. Das Blatt stellt ein heimlich gedrehtes Video von der Sex-Party auf seine Website – binnen Stunden sind die Bilder überall im Netz, Redaktionen in aller Welt berichten. Mosley zieht vor Gericht. Der Prozess bietet seltene Einblicke in die Methoden der Zeitung. Eine der Frauen hatte sich bereit erklärt, die Sadomaso-Party für 12 000 Pfund zu filmen. Der Chefreporter der Zeitung persönlich stattet sie mit der Mini-Kamera aus, zeigt ihr, wie das Gerät unter dem Revers ihrer Jacke angebracht werden muss. Er instruiert die Dame, wie sie Mosley mit Hitler-Gruß ins Bild setzen soll: „Wenn du ihn ,Sieg Heil‘ machen lässt, musst du zweieinhalb bis drei Meter von ihm entfernt sein, dann bekommst du ihn rein – kein Problem“, sagt er auf einem unbearbeiteten Video, das die Redaktion dem Gericht übergeben musste. Zum Hitler-Gruß kommt es nicht. Auch die Anzüge waren keine Nazi-Uniformen. Das ist, wie aus einer internen E-Mail hervorgeht, den Redakteuren sogar bewusst. Egal. Die Zeitung macht aus der Sex-Par- Verleger Murdoch, Ehefrau Wendi Vom Hof jagen kann ihn niemand ty eine „Nazi-Orgie“. Mosley erhält vor Gericht 60 000 Pfund Entschädigung – und bleibt doch Verlierer: „Man arbeitet sein ganzes Leben, um etwas Sinnvolles zu erreichen. Ich war 68, als das herauskam. Egal, wie lange ich noch lebe, nur daran werden sich die Leute einmal erinnern.“ Selbst den Aktionären von News Corp. wird es angesichts solcher Methoden mulmig. Murdoch müsse Macht abgeben, for- dern einige. Doch der Patriarch will nicht einsehen, dass sich etwas geändert hat. Warum soll er abtreten, solange die Gewinne stimmen? Vom Hof jagen kann ihn niemand. Obwohl den Murdochs nur etwa 13 Prozent von News Corp. gehören, kontrollieren sie 40 Prozent der Stimmen und werden durch einen Großaktionär gestützt. Der Clan ist praktisch nicht zu entmachten. Der Alte spricht gern davon, das Geschäft mal seinen Kindern zu überlassen. Drei seiner sechs Nachfahren kämen in Frage: Lachlan, Elisabeth und James aus seiner zweiten Ehe. Die beiden Töchter mit seiner dritten Frau Wendi Deng, 43, sind von der Nachfolge ausgeschlossen. Lachlan, der Älteste, scheiterte im Machtkampf gegen Fox-Chef Roger Ailes. Elisabeth kam nie wirklich in Betracht. Und James fiel über den Abhörskandal. Als Chef der britischen Zeitungsholding trat er zurück, auch den Posten als Verwaltungsratschef von BSkyB räumte er. Ohnehin ist Murdoch wohl überzeugt, dass nur einer fähig ist, sein Lebenswerk zu erhalten: er selbst. Als Murdoch gerade das „Wall Street Journal“ gekauft hat, er ist 76 Jahre alt, sprechen seine Manager im kleinen Kreis die Nachfolgefrage an. Wie lange er noch machen wolle? Noch 10 Jahre? Murdoch schüttelt unwirsch den Kopf. 20 Jahre? Er hebt die Augenbrauen. Schließlich wird der Zeithorizont auf 30 Jahre ausgedehnt. Murdoch wäre dann 106. Doch schon die nächsten Monate werden ihm zusetzen. Selbst wenn er bleibt, sein Reich wird kaum mehr dasselbe sein. Demnächst beurteilt die britische Regulierungsbehörde Ofcom, ob News Corp. als wichtigster Eigner von BSkyB „fähig und geeignet“ ist, einen Sender zu betreiben. Fällt Murdochs Firma moralisch durch, muss er die Kontrolle abgeben oder Aktien verkaufen. Auch sein großer Gewinnbringer, der Sender Fox News, ist unter Beschuss. Vergangene Woche gingen bei der US-Regulierungsbehörde FCC Anfragen von Organisationen ein, die fordern, Murdochs Eignung als Fernseh-Besitzer auch in den USA zu überprüfen. Auch das FBI prüft, ob der Wahlamerikaner wegen korrupter Machenschaften seiner Firma im Ausland angeklagt werden kann. Doch Murdoch wäre wohl nicht Murdoch, wenn er nicht schon ein neues Geschäft ausgemacht hätte: die Bildung. Um die sei es in den USA und Großbritannien derart miserabel bestellt, dass man sie besser privaten Unternehmen überlasse. Am besten ihm. „Wir werde auf keinen, keinen, keinen Fall lockerlassen“, ruft er in Saal 73 der Gerichtshöfe von London. ISABELL HÜLSEN, MICHAELA SCHIESSL ANDREW GOMBERT / PICTURE ALLIANCE / DPA Panorama ISRAEL „Die Welt muss helfen“ Der palästinensische Gefangenen-Minister Issa Karake, 50, über den Hungerstreik arabischer Häftlinge in Israels Strafvollzugsanstalten SPIEGEL: Was wollen die Gefangenen mit ihrem Hungerstreik erreichen? Karake: Israel soll die Haftverschärfungen rückgängig machen, die nach der Entführung von Gilad Schalit eingeführt wurden. Schalit ist wieder frei, aber 330 Palästinenser sitzen seit Jahren im Gefängnis, ohne je angeklagt oder verurteilt worden zu sein. SPIEGEL: Wie geht es den Streikenden? Karake: Zwei Gefangene befinden sich seit fast 70 Tagen im Hungerstreik. Ihre Lage ist lebensbedrohlich. Fast 2000 Gefangene haben sich ihnen angeschlossen. SPIEGEL: Verhandeln Sie mit der israelischen Regierung? Karake: Es gab Gespräche, aber Israel verzögert die Antwort. Sollte nichts passieren, könnten sich bald die restlichen 3000 Gefangenen anschließen. SPIEGEL: Warum braucht die Autonomiebehörde einen eigenen Minister für Gefangene? Karake: Seit 1967 saßen 750 000 Palästinenser in israelischen Haftanstalten, jeder von uns hat einen Freund oder einen Angehörigen dort. SPIEGEL: Präsident Mahmud Abbas will die Lage der Gefangenen vor die Vereinten Nationen bringen. Warum? Karake: Die Welt muss sich dafür einsetzen, die Lage der Gefangenen zu verbessern. Ihre Behandlung verstößt gegen internationales Recht. SALVATORE DI NOLFI / DAPD Polizisten mit Lamborghini-Streifenwagen I TA L I E N Sparen mit Mario Weil er die Verwaltung verschlanken und das Land wettbewerbsfähiger machen will, hat Premierminister Mario Monti sein Volk um Spartipps gebeten. Jetzt werden Italiens Bürger auf der Regierungs-Homepage aufgefordert, den Staat auf „Verschwendung“ hinzuweisen, „um die Regierung bei ihrer Arbeit zu unterstützen und überflüssige Staatsausgaben zu reduzieren“. Das Echo ist gewaltig: Im Sekundentakt gehen seit vorigem Mittwoch die E-Mails im römischen Regierungssitz ein, knapp 100 000 waren es in den ersten drei Tagen. Die Bürger fordern Monti auf, die Provinzregierungen abzuschaffen, die Politikergehälter zu kürzen und das Dienstwagenprivileg zu streichen. Ein Arzt aus Apulien schlägt vor, die Zahl der Spitzenämter im Innenministerium zu reduzieren: „Vor 15 Jahren waren es deutlich weniger, und alles funktionierte besser. Kürzen!“ Ein Kalabrese ärgert sich über faule Beamte, die bei Polizei und Feuerwehr auf „Gespensterposten“ säßen, ein Norditaliener über eine 200 000 Euro teure Marmorstatue im Justizpalast von Treviso, die vor 20 Jahren in Auftrag gegeben, aber nie fertiggestellt wurde. Die sinnvollen Hinweise sollen von Montis Leuten nun einzeln geprüft und beantwortet werden. Etablierte Politiker, von Montis Technokratenkabinett ersetzt, kritisieren sie trotzdem. Sie beklagen, dass seine Regierung mit ihren Ideen am Ende sei. Auch er erhalte täglich E-Mails, schimpft der ehemalige Textilunternehmer und Schriftsteller Edoardo Nesi – von Kleinunternehmern nämlich, die sich vom Staat im Stich gelassen fühlten und keinen anderen Ausweg wüssten als Selbstmord. Monti agiere „kalt und deutsch“, sein Appell sei ein Desaster: „Ich hätte mehr erwartet. Technokraten sollten selbst wissen, wo gespart werden soll, nicht wir.“ DANIEL MAURER / DAPD GEORGIEN König Saakaschwili Fast vier Jahre nach seiner Niederlage im Krieg um die abtrünnigen Republiken Südossetien und Abchasien legt sich Georgiens Präsident Micheil Saakaschwili erneut mit Russland an. „Wir müssen Abchasien zurückholen. Das ist unsere Geopolitik“, sagte er vorige Woche in der 200 Kilometer von Tiflis entfernten Stadt Kutaissi, wo er gerade ein futuristisches Parlamentsgebäude errichten lässt. „Kutaissi zur zweiten Hauptstadt zu machen ist der erste 88 Saakaschwili (r.) mit Soldaten Schritt, um wieder die volle Kontrolle über Westgeorgien zu gewinnen.“ Abchasien hatte sich 1990, schon vor dem Zerfall der Sowjetunion, von Tiflis losgesagt. Nach dem Krieg mit Georgien erkannte Russland im August 2008 sowohl Südossetien als auch die Unabhängigkeit der kleinen Schwarzmeer-Republik an und stationierte dort 4000 Soldaten. Mit seinem Bauprojekt stellt sich Saakaschwili nun in die Tradition von König David dem Erbauer, unter dessen Regentschaft im 12. Jahrhundert Georgien die größte Ausdehnung seiner Geschichte erreichte. Am 26. Mai soll das Parlament zum ersten Mal in Kutaissi tagen. D E R S P I E G E L 1 9 / 2 0 1 2 IRAKLI GEDENIDZE / AP Ausland 640 junge Polen haben sich 2011 zu Priestern ausbilden lassen. Im Jahr 2000 lag die Zahl bei 997. Noch dramatischer ist der Rückgang bei den Ordensschwestern: Vor zwölf Jahren traten 723 Frauen in ein Kloster ein, 2011 waren es nur noch 209. Nun will Polens Kirche das Fußballfieber vor der am 8. Juni beginnenden Europameisterschaft für sich nutzen: „Schließ dich der Mannschaft Gottes an“, steht auf dem Werbeplakat des Danziger Priesterseminars. VENEZUELA Wahlkampf ohne Chávez Die regierende Sozialistische Einheitspartei bereitet sich auf einen Präsidentschaftswahlkampf ohne ihren krebskranken Kandidaten, Präsident Hugo Chávez, vor. Vergangene Woche setzte der Caudillo einen Staatsrat ein, der ihm im Falle seiner Wiederwahl im Oktober beim Regieren helfen soll. Führende Politiker seiner Partei diskutieren unterdessen aber bereits Szenarien für den Fall, dass Chávez an den wichtigsten Wahlkampfterminen nicht teilnehmen kann, selbst ein Totalausfall des Präsidenten ist kein Tabu mehr. Außenminister Nicolás Maduro, Vizepräsident Elías Jaua, der Präsident der Nationalversammlung Diosdado Cabello und Chávez’ Bruder Adán werden als mögliche Ersatzkandidaten gehandelt. Vorigen Montag flog Chávez zum vierten Mal in diesem Jahr für unbestimmte Zeit nach Kuba, wo er sich einer Strahlentherapie unterzieht. Nach eigener Auskunft leidet er an einer Krebserkrankung im Unterleib. Im Juni 2011 ließ Chávez sich auf Kuba einen Tumor von der Größe eines Tennisballs herausoperieren, Ende Februar musste er ein weiteres Geschwür entfernen lassen, das an derselben Stelle nachgewachsen war. In Meinungsumfragen zur Präsidentenwahl führt Chávez mit einem Vorsprung von bis zu 20 Prozentpunkten vor dem Oppositionskandidaten Henrique Capriles Radonski. Indigene Chávez-Anhänger D E R S P I E G E L 1 9 / 2 0 1 2 89 ARIANA CUBILLOS / AP Staatschef Janukowitsch in Kiew: Ein Hüne, der einen Keiler auf hundert Meter punktgenau trifft ITAR-TASS UKRAINE Der Boxer aus Donezk Blinde Rache stachelt Präsident Wiktor Janukowitsch in der Causa Timoschenko an. Er fürchtet um seine Macht und regiert jetzt allein mit seiner Familie. Den Kampf mit seiner Rivalin aber wird er kaum gewinnen – sie hat ihn in die Enge getrieben. chlimmer hätte eine Demütigung nicht sein können als jene, die Wiktor Fjodorowitsch Janukowitsch am 27. März widerfuhr. Der Präsident war zum internationalen Gipfel über nukleare Sicherheit nach Seoul gereist, er hatte am Tag zuvor das letzte hochangereicherte Uran, das sich im Besitz der Ukraine befand, wie abgemacht der Atommacht Russland überge90 S ben. Nun wollte er von Barack Obama, dem wichtigsten Gast des Seouler Gipfels, angemessen dafür belobigt werden. Nichts hatte das Kiewer Außenministerium unversucht gelassen, um ein separates Treffen mit dem amerikanischen Präsidenten zu arrangieren. Aber Obama dachte gar nicht daran, den Ukrainer mit solch einer Geste aufzuwerten. Stehend fertigte er ihn in nur vier Minuten in der D E R S P I E G E L 1 9 / 2 0 1 2 Veranstaltungshalle ab – eine deutliche Strafe für ein politisches Schmuddelkind. Ein Fotograf allerdings drückte auf den Auslöser, als sich die beiden die Hände schüttelten, und so fand sich tags darauf im Kiewer Massenblatt „Sewodnja“ („Heute“) ein fast titelseitengroßes Bild der beiden Politiker. Und darüber prangte die Schlagzeile: „Janukowitsch hat die Isolation durchbrochen – Rückkehr in die Ausland große Politik. Unser Präsident sprach in Seoul länger als vorgesehen mit Obama.“ Und mitten im Text stand tatsächlich, Janukowitsch habe zu den „Haupthelden dieses Seouler Gipfels“ gehört. Es mag eine Petitesse der Weltpolitik sein, aber sie erzählt viel über den Ukrainer Wiktor Janukowitsch, über seine Minderwertigkeitsgefühle und seinen Traum, ganz oben in der Liga der Staatenlenker mitzuspielen. Und darüber, wie er zu Hause sein Volk belügt. Heute – gut fünf Wochen später – könnte sich selbst die Regierungspostille „Sewodnja“ eine solche Posse nicht mehr erlauben. Inzwischen wissen auch die letzten Schäfer in den Bergen der ukrainischen Karpaten: Ihr Präsident ist im Westen isoliert. Das ist der Erfolg einer kleinen, blonden Frau, die Janukowitsch vor vier Monaten im Charkower Straflager Nummer 54 einkerkern ließ, der Erfolg von Julija Wladimirowna Timoschenko, seiner ärgsten politischen Gegnerin. Es spricht einiges dafür, dass ihm die unstillbare Sucht nach Rache an der früheren Premierministerin politisch das Genick brechen wird. „Die Causa Timoschenko ist der ungeheuerlichste Fehler, den der Präsident in seiner Amtszeit beging, ich weiß nicht, wovon er sich leiten ließ, als er diesen Prozess in Gang setzte“, sagt der Direktor des ukrainischen Zentrums für politische Analyse, Jurij Romanenko. „Seit diese Affäre zu einer internationalen geworden ist, kann er sie nicht mehr lenken, sie wird ihn unter sich begraben. Die Fußball-Europameisterschaft wird sich aus dem ersehnten Triumph in eine Tragödie verwandeln.“ Wie konnte Janukowitsch in gerade mal zwei Jahren seine Präsidentschaft ruinieren? Die Stimmen von 12 der 36 Millionen wahlberechtigten Ukrainer hatte er zur Wahl im Februar 2010 auf sich vereint, der Vorsprung gegenüber Julija Timoschenko war deutlich, auch der Westen zweifelte den Sieg nicht an. Amerikaner, Deutsche wie Franzosen waren die Ersten, die dem neuen Staatschef gratulierten. Janukowitsch kündigte die „völlige Modernisierung“ des Landes an und den kompromisslosen Kampf gegen Korruption, Investoren versprach er das Paradies. Nichts von dem hat er verwirklicht. Ihr Land sei „wie ,Die Insel des Doktor Moreau‘ und Orwells ,1984‘ in ein und demselben Fläschchen“ – eine Art Horrorrepublik also, „eine Nation von Verlierern, ohne historisches Gedächtnis, ohne nationale Würde, ohne wirtschaftliche Perspektive“, sagt Julija Timoschenko aus dem Gefängnis heraus über den heutigen Zustand der Ukraine. Europas größtes Flächenland werde jetzt „von einer einzigen Familie beherrscht, einer Familie mit riesigem Appetit, armseligem Intelligenzquotienten und dem Anspruch auf lebenslängliche Macht“. Es ist eine Anspielung auf die Herkunft des Staatschefs und darauf, wie er mit seinen Freunden das ihm anvertraute Land gekapert hat. Selbst wenn man die Erregung der von Janukowitsch so tief erniedrigten Frau in Rechnung stellt: Ihr Befund trifft zu, und das ist eine Erklärung dafür, warum nach zwei Jahren kaum mehr als zehn Prozent der Ukrainer noch zu diesem Präsidenten halten. Dabei war klar, dass 2010 ein Mann auf den Sessel des Staatschefs geraten war, dem fast alles fehlte, was für die Führung der steuerlos dahintreibenden Ukraine nötig war: politische Intelligenz, Fingerlicher Körperverletzung. Man habe ihn rehabilitiert, so sagt er heute. Inzwischen hat sich herausgestellt, dass er die Gerichtsakten später verschwinden ließ. Sein Aufstieg begann nach dem Zerfall der Sowjetunion, als Banditen und Oligarchen mit Kalaschnikow und Sprengstoff die Kohlegruben und Stahlwerke des Donbass unter sich aufteilten. Pate der Region wurde der Unternehmer Achat Bragin, der vom Zentralmarkt bis zum örtlichen Fußballclub Schachtjor nahezu alles in Donezk kontrollierte. Nicht wirklich lange, denn im Oktober 1995 wurde Bragin während eines Fußballspiels seiner Häftling Timoschenko in Charkow: „Eine Nation von Verlierern“ spitzengefühl, Kompromissfähigkeit. Was auch war von einem zu erwarten, der elternlos zwischen den schwarzen Abraumhalden des ostukrainischen Stahl- und Kohlereviers Donbass aufgewachsen und schon als Jugendlicher zweimal mit dem Gesetz in Konflikt geraten war? Janukowitsch kam als Sohn eines Lokomotivführers in Jenakijewo im damaligen Gebiet Stalinsk zur Welt. Die Mutter starb, als er zwei Jahre alt war, sein Vater, der im Krieg mit den Deutschen kollaboriert haben soll, bekam dafür zehn Jahre Lagerhaft. Mit 19 wurde Janukowitsch Arbeiter im örtlichen Stahlwerk, später Ingenieur und natürlich Mitglied der Kommunistischen Partei, die ihn an die Spitze eines Reparaturbetriebs stellte. Ein angeblicher Hochschulabschluss an der ukrainischen Außenhandelsakademie ließ sich nie belegen. Das Revier rund um die Bergbaustadt Donezk hat Janukowitsch geprägt. Als 17-Jähriger wurde er dort wegen Raubes verurteilt, als 20-Jähriger wegen vorsätzD E R S P I E G E L 1 9 / 2 0 1 2 Mannschaft mit einer mächtigen Bombe in die Luft gesprengt – und nur mit Hilfe eines abgerissenen Armes identifiziert, an dem noch seine Rolex-Uhr hing. Janukowitsch, ein bodenständiger Hüne, der gern Karaoke singt und einen Keiler auf hundert Meter punktgenau trifft, hatte früher zusammen mit Bragin geboxt. Auch mit dessen Nachfolger Rinat Achmetow, der heute Chef der wohl größten ukrainischen Industriegruppe und wichtigster Geldgeber des Präsidenten ist. Der Lokomotivführersohn schien den Oligarchen der ideale Mann zur Absicherung ihrer Geschäfte. 1997 wurde Janukowitsch Gebietschef in Donezk, fünf Jahre später holte ihn der damalige Präsident als Regierungschef nach Kiew. Er wollte ihn 2004 auch als seinen Nachfolger installieren, doch allzu offensichtliche Wahlfälschungen lösten damals die Revolution in Orange aus, Julija Timoschenko und ihr Verbündeter Wiktor Juschtschenko kamen an die Macht. Fünf Jahre später war es mit dem demokratischen Frühling wieder vorbei: Die Oran91 REUTERS Ausland jeden der Oligarchen genügenen hatten sich heillos zergend Belastungsmaterial im stritten; Janukowitsch an die Tresor. Spitze des Staates zu stellen erWie Politik in Zeiten des Jaschien den Ukrainern nun als nukowitsch-Regimes funktioder einzige Ausweg. niert, war bei der Installierung Sie trieben den Teufel mit des neuen Wirtschaftsminisdem Beelzebub aus. Der Neue ters Ende März zu besichtigen. kümmerte sich mehr um das Diesen Posten bekam ein Wohl der Oligarchen, die ihren Mann, der unter den OrangeReichtum bei der Versteigenen Chef des Sicherheitsrates rung des Volkseigentums in und Außenminister war: Pjotr den neunziger Jahren zusamPoroschenko, der „Schokolamengerafft hatten. Ob Kohle, denkönig“ der Ukraine. Stahl, Gas oder Titan – JanuPoroschenko, 46, begann seikowitsch sicherte ihnen sprune Karriere mit dem Verkauf delnde Gewinnquellen. Er entvon Kakaobohnen, heute belastete die Großunternehmer sitzt er den größten Süßbei der Gewinnbesteuerung, warenkonzern der Ukraine, während er Kleinunternehmehrere Autowerke und den mern die niedrige PauschalFernsehsender 5. Kanal. besteuerung strich und sie daSein Übertritt ins Gegenmit zu wochenlangen Proteslager hat die Anhänger der ten auf die Straße trieb. Orangenen überrascht, Kenner Irgendwann muss er die Abdes Kiewer Machtklüngels hängigkeit von den Neureieher nicht. Er habe auf diese chen als bedrohlich empfunWeise „wohl seine Besitzständen haben, Janukowitsch bede retten wollen“, sagt ein Abgann, sein eigenes Imperium geordneter der Vaterlandsparaufzubauen: die Familie, eine tei von Julija Timoschenko. Gruppe Gleichgesinnter, in der Poroschenko legte Janukodie hierarchischen Beziehunwitsch einen Zwölf-Punkte-Kagen durch Blutsbande und private Abhängigkeiten geregelt Janukowitsch-Geburtsort Jenakijewo: Den Paten in die Luft gesprengt talog vor, dessen Erfüllung er als Voraussetzung für den Resind. Sohn Alexander kam plötzlich ins Spiel, 38 Jahre alt, gelernter aus Donezker Zeiten – zu Marionetten gierungseintritt bezeichnete. Zu den mudegradiert. Sie müssen nun Stillhaltegel- tigen Forderungen gehörten die „BeseitiZahnarzt, im Zweitberuf Unternehmer. Dass Wiktor, der jüngere Präsidenten- der zahlen, die sich Spenden für „soziale gung der Schattenwirtschaft“ und die sohn, für die Partei seines Vaters im Par- Initiativen“ nennen; mit umgerechnet „Verteidigung des Unternehmertums gelament sitzt, war den Ukrainern bekannt, knapp einer Milliarde Euro hat Januko- genüber gewaltsamem Druck“. Der bauernschlaue Janukowitsch nicküber den ältesten Präsidentenspross aber witsch auf diese Weise mitten in der anhatte kaum jemand etwas gewusst. Ver- dauernden Finanzkrise die Staatskasse te alle Punkte ab – schickte aber ausgewundert rieben sich viele die Augen, als gefüllt. Für den Fall des Ungehorsams ste- rechnet am Tag von Poroschenkos Amtsder voriges Jahr in der Liste der 100 hen die Chefs von Geheimdienst und antritt die Steuerpolizei in die Werke des reichsten Ukrainer auftauchte. Jetzt stell- Steuerbehörde bereit – sie haben gegen Schokoladenkönigs. Es war eine deutliche Warnung an Poroschenko, sich als Ministe sich heraus, dass Janukowitsch junior ter ja an die Spielregeln der PräsidentenPräsident des Unternehmens Managefamilie zu halten. ment Assets Company ist, das in Donezk Dass Janukowitsch sein Wahlvolk geBürozentren und Hotelanlagen baut, nauso düpiert wie die Oligarchen, die ihn dass er auf dem Benzinmarkt mitmischt, an die Macht gebracht haben – so etwas 100 Prozent der Aktien der Allukrainigeht in postsowjetischen Staaten selten schen Entwicklungsbank, den Fernsehlange gut. In der Umgebung des Präsikanal Tonis und vier teure Yachten bedenten „denken sie schon über die Zeit sitzt. nach Janukowitsch nach“, sagt der PoliRuchbar wurde nun auch, dass ausgetologe Romanenko, „daher der fast irrrechnet er, der Banker, Weichen für die sinnige Sicherheitsaufwand, den Janukowichtigsten Personalentscheidungen des witsch betreibt: Er fürchtet ein Attentat“. Landes stellt. In den vergangenen MonaWer die zwei Jahre der Präsidentschaft ten wurden die Chefposten der Nationaldes Wiktor Janukowitsch Revue passiebank, der Steuerbehörde, des Innen- und ren lässt, begreift schnell, warum dieser des Finanzministeriums neu besetzt, Mann mit Julija Timoschenko keinen Friedurchweg mit Freunden Alexander Januden schließen kann. Jede Art von Begnakowitschs oder Vertrauten der Familie; digung bringt sie ins Spiel um die politidem bisherigen Chef des Staatsschutzes, sche Macht in der Ukraine zurück. einem früheren KGB-Mann, wurde der Ihre Anhänger sind gerade dabei, zur Geheimdienst anvertraut. Damit sind alle Parlamentswahl im Herbst gemeinsam Schlüsselposten unter Kontrolle der Jamit anderen Oppositionsparteien eine nukowitsch-Familie. Einheitsfront zu bilden. Sollten sie die Die bislang einflussreichen Oligarchen Janukowitsch-Sohn Alexander wurden – bis auf Achmetow, den Freund Weichensteller bei Personalentscheidungen Mehrheit in der Volksvertretung zurück92 D E R S P I E G E L 1 9 / 2 0 1 2 ALEXANDER NEMENOV / AFP Ausland erobern, würden sie sofort ein Amtsenthebungsverfahren gegen den Präsidenten in Gang setzen. Dieses Szenario fürchtet Janukowitsch mehr als die Erregung der Westeuropäer vor der Fußball-Europameisterschaft, zumal er ahnt, dass er bei einem Machtwechsel selbst im Gefängnis landen könnte. Der Präsident sei in Sachen Timoschenko „inzwischen beratungsresistent“, sagt ein deutscher Diplomat, der Botschafter in der Ukraine war und später der Premierministerin als Berater diente: „Er weiß, dass es für ihn in Europa nicht mehr viel zu holen gibt.“ Sein Dilemma ist nur: Die Gefangene im Charkower Frauengefängnis ist stärker als er. Julija Timoschenko mag als Regierungschefin eine schlechte Managerin gewesen sein, als PR-Strategin in eigener Sache ist sie fabelhaft. Sie ist es, die zusammen mit Tochter Jewgenija und Anwalt Sergej Wlassenko die öffentliche Meinung steuert, nicht Janukowitsch. „Retten Sie meine Mutter, bevor es zu spät ist“, fordert Jewgenija Timoschenko auf ihren Pressekonferenzen. Nur weiß leider niemand, was hinter den Gefängnismauern wirklich geschieht und ob Timoschenko bei ihrer gewaltsamen Verlegung in ein Krankenhaus wirklich mit Fäusten traktiert worden ist. Allein ihr Anwalt hat es behauptet, ein Parlamentsabgeordneter der Timoschenko-Partei. Vergangenen Freitag, als sich Professor Karl Max Einhäupl, der Chef der Berliner Charité, erneut auf den Weg zu seiner Patientin machte, stand die frühere Premierministerin den 15. Tag im Hungerstreik. Wer Timoschenko kennt, der weiß, dass sie bis zum Äußersten gehen kann. Appelle wie der des Weltkongresses der Ukrainer, die Aktion abzubrechen, geben ihr aber die Möglichkeit, den Streik zu beenden. Freitag auch willigte sie ein, sich vorerst in Charkow behandeln zu lassen. In Deutschland sehen sollte man Frau Timoschenko also noch nicht. Vielleicht führt ihr Weg über Russland. Kremlchef Wladimir Putin hat verkündet, er würde Julija Timoschenko „mit Vergnügen zur Behandlung aufnehmen“. Ihm könnte Janukowitsch solch einen Wunsch nicht verweigern: Er braucht dringend einen Preisnachlass bei russischen Gaslieferungen – und hofft, ihn während Putins Staatsbesuch Ende Mai zu bekommen. Irgendwann aber, nach Behandlung ihres Bandscheibenvorfalls, käme Timoschenko in die Ukraine zurück. „Und was passiert dann?“, fragt der Chefredakteur einer unabhängigen Kiewer Tageszeitung. „Dann geht alles wieder von vorn los, nur mit anderem Vorzeichen. Kaum einer will ein Comeback der früheren Regierungschefin. Timoschenko ist wie Janukowitsch: Sie blockiert unser Land.“ CHRISTIAN NEEF „Noch ist die Ukraine nicht verloren“ Janusz Reiter, 59, Direktor des Warschauer Zentrums für internationale Beziehungen, warnt davor, Kiew nach Osten zu treiben. SPIEGEL: Herr Reiter, verstehen Sie, Reiter: Das hätte ich mir gewünscht. dass deutsche Politiker nicht neben Ich muss aber zugeben, die Ukraine Präsident Wiktor Janukowitsch auf hat es der EU auch nicht gerade leichtder Fußballtribüne in Charkow Platz gemacht. nehmen wollen, während wenige Ki- SPIEGEL: Gerade den Deutschen wurde lometer entfernt Julija Timoschenko aus Polen oft vorgeworfen, zu sehr im Gefängnis sitzt? nach Russland zu blicken und die ostReiter: Das verstehe ich sehr gut. Nur europäischen Länder dazwischen zu geht es gar nicht um die Nähe der Poli- übersehen. Gilt das immer noch? tiker zu Janukowitsch. Es geht um die Reiter: Deutschland hat mehr getan als Nähe der Ukraine zu Europa. Die die meisten. War das genug? Ich meiEuropameisterschaft sollte signalisie- ne: nein. ren: Ihr gehört dazu. SPIEGEL: Polen möchte Die Ukraine ist in der die EM nutzen, um der Wahrnehmung vieler Welt zu zeigen: Wir Europäer weit weg. sind wieder da, wir SPIEGEL: Janukowitsch sind mitten in Europa wird die EM propaganangekommen. Stört Sie distisch ausschlachten. die Boykottdebatte? Reiter: In der Ukraine Reiter: Ich glaube nicht, wird derzeit heftig dardass Polen in Mitleiüber gestritten, wohin denschaft gezogen wird. Aber es liegt in sich das Land wenden unserem Interesse, sollte. Es gibt kritische dass die Ukraine einen Medien, es gibt eine ZiAnteil am Erfolg hat. vilgesellschaft. Man ist Die Ukraine ist nicht nicht auf das Gespräch die Sowjetunion. Das mit den Machthabern ist heute eine andere angewiesen, die UkraiSituation als nach dem ne ist keine Diktatur.  Einmarsch der Sowjets SPIEGEL: Was wären die in Afghanistan 1979. Folgen eines Boykotts? Deshalb ist die große Reiter: Ich glaube, dass Mehrheit hier gegen eidie große Mehrheit der nen Boykott.  Ukrainer sehr ent- Außenpolitik-Experte Reiter täuscht von Europa „Mehrheit gegen Boykott“ SPIEGEL: Deutschland wäre, und zwar zu hat mit der Debatte anRecht. Die Ukraine driftet im Moment dere europäische Länder in Zugzwang eher nach Osten. Aber sie ist noch gebracht. War das klug? nicht verloren. Wir müssen die Euro- Reiter: Jetzt soll Druck ausgeübt werpameisterschaft nutzen, sie an uns zu den, um die Regierung Janukowitsch binden. Wenn wir die Ukraine verlie- doch noch umzustimmen. Doch was ren, wäre das ein politischer Schaden, tun wir, wenn das nicht passiert? Es der sich nicht so leicht beheben ließe. wäre schlimm, wenn Europa sich in SPIEGEL: Hat die EU in der Vergangen- dieser Frage entzweien würde. heit genug getan, um der Ukraine eine SPIEGEL: Soll die Eishockey-WeltmeisAlternative aufzuzeigen? terschaft 2014 im benachbarten WeißReiter: In Brüssel herrscht große Rat- russland abgesagt werden? losigkeit. Die Ukraine ist ein schwie- Reiter: Weißrussland ist eine Diktatur. riges Land. Aber wir dürfen sie nicht Aber auch dort gibt es eine Opposiabschreiben. Unser langfristiges Inter- tion, die dafür kämpft, das Land nach esse muss es sein, dort Demokratie Westen zu führen. Diese Leute muss und Marktwirtschaft zum Durchbruch man unterstützen, man muss ihnen zu verhelfen. zeigen, dass sie zu Europa gehören. SPIEGEL: Die EU hätte der Ukraine Ich würde sehr zögern, zu einem Boyschneller und klarer eine engere Part- kott der Eishockey-Weltmeisterschaft nerschaft anbieten müssen, möglicher- aufzurufen. weise sogar einen Beitritt? INTERVIEW: JAN PUHL PIOTR MALECKI / DER SPIEGEL 94 D E R S P I E G E L 1 9 / 2 0 1 2 Ausland „Bewegung für die Einheit und den Dschihad in Westafrika“ (Mujao), die sich auf Entführungen spezialisiert hat und zurzeit mindestens zehn Geiseln in Gefangenschaft hält? Das Chaos im Norden, der Vormarsch der Rebellen, der Sturz von Präsident Touré, all das kam für westliche Diplomaten und Geheimdienste nicht überraschend. Von der Enthüllungsplattform WikiLeaks veröffentlichte Schreiben der US-Botschaft in Bamako offenbarten im Herbst 2010, welch hoffnungslosen Kampf die malische Armee im eigenen Land führte. So schilderten die US-Diplomaten einen Überfall von Qaida-Kämpfern auf malische Soldaten am 4. Juli 2009. Er endete in einem Debakel für die Armee. „Sechs Tage nach dem tödlichen Überfall ist die genaue Zahl der betroffenen Soldaten unklar“, berichteten die Amerikaner: „Nachdem sie die schlimmsten Verluste seit 1991 erlitt, hat die malische Armee Patrouillenfahrten in der Region eingestellt und ihre Truppen vorübergehend ins vergleichsweise sichere Timbuktu zurückgezogen.“ Der Feind sei sehr viel besser ausgerüstet und beweglicher, konstatierten die US-Diplomaten. Kurz darauf besuchten amerikanische Soldaten einen Militärposten im Nordosten und stellten „jammervolle Engpässe bei der Grundversorgung und der logistischen Ausrüstung“ fest. Etwa die Hälfte der Soldaten des Postens sei im Einsatz gegen Qaida-Leute gewesen, die anderen hätten nur „drei einsatzbereite Fahrzeuge, darunter zwei Pick-ups und einen Kleinbus“ gehabt. Die Waffen der Militärs stammten „aus den sechziger Jahren“. Die Amerikaner schickten Geld, Material und Ausbilder. Fünf Wochen lang trainierten Elitesoldaten der U. S. Army aus Colorado Männer einer malischen Spezialeinheit. Und erfuhren Erstaunliches: „Als die Überlebenden des Anschlags ge- MALI Desaster im Sand Weite Teile der Sahelzone geraten außer Kontrolle: In Mali bekämpfen Putschisten Loyalisten, Tuareg-Rebellen haben ihren eigenen Staat ausgerufen – und kooperieren mit Islamisten. anzerwagen dröhnten durch die verödeten Straßen von Bamako. Im Westen der Hauptstadt Malis ratterten vergangene Woche die Sturmgewehre, vor allem rund um die Kaserne der Präsidentengarde und in den Elendsvierteln. Es war der bislang letzte Kampf von loyalen Truppen der alten Regierung gegen jene Putschisten, die Ende März die Macht übernommen hatten. Der neue Premier, Scheich Modibo Diarra, klagte über den „Versuch, unser Land zu destabilisieren“, und wetterte gegen „ausländische Elemente“ und „finstere Mächte“ als Drahtzieher des Aufstands.  Regierungschefs der westafrikanischen Staatengemeinschaft Ecowas trafen sich zu einem Notfall-Gipfel, weil ausgerechnet Mali, das lange als demokratisches Vorzeigeland galt, ins Chaos abgleitet: Zwei Drittel des Wüstenstaats sind außer Kontrolle geraten, selbst in der Hauptstadt halten sich die Putschisten nur mühsam. Und nicht nur Mali ist zu einem Hexenkessel geworden, in weiten Teilen der Region ist es kaum anders: Tuareg-Rebellen haben ihren eigenen Staat namens Azawad ausgerufen, mit ihnen sind Islamisten der „Ansar al-Din“ einmarschiert, die eng zusammenarbeiten mit den Terroristen von „al-Qaida im Islamischen Maghreb“ (AQMI). In ganzen Landstrichen herrschen Banden, die mit Geiselnahmen, Drogen- und Waffenschmuggel Millionen machen. Und oft ist nicht zu unterscheiden, wer Tuareg, Terrorist oder Gangster ist. „Sehr, sehr besorgniserregend“ nannte der algerische Premier Ahmed Ouyahia die Situation. Der Chef des Zentrums für strategische Studien in Algier, Mhand Berkouk, befürchtet eine „Afghanisierung der gesamten Sahel-Region“. Der neue Staat Azawad im Norden Malis könne, so Berkouk, eine Heimat für Terroristen aus aller Welt werden. Genau deshalb putschten auch die malischen Soldaten um Hauptmann Amadou Sanogo, der am 21. März den langjährigen Präsidenten Amadou Touré stürzte. Sie rebellierten, um ihre verzweifelte Lage im Kampf gegen die Tuareg zu verbessern. Präsident Touré warfen sie „Unfähigkeit im Kampf gegen den islamischen Terror“ vor. 96 P Doch bislang haben die Putschisten das Gegenteil von dem erreicht, was sie wollten. Wenige Tage nach dem Sturz Tourés rollten Tuareg und Ansar-al-Din-Kämpfer mit der schwarzen Islamistenfahne auf Geländewagen durch Gao und Timbuktu, Städte, die sie nun kontrollieren. Mit dem Rückzug der malischen Staatsmacht ist in der Sahara und der Sahelzone über Nacht eine Fläche von der vierfachen Größe Frankreichs unregierbar geworden. Denn die Islamisten bewegen sich seither nahezu unbehelligt in einem Raum, der sich von Tindouf im Westen Algeriens bis an die libysch-tschadische Grenze erstreckt und im Süden bis in den Norden Nigerias hineinreicht. Dort verschieben sie Waffen und Drogen, nehmen Geiseln und planen Anschläge: Im Februar 2011 versuchten sie, den mauretanischen Präsidenten Mohamed Ould Abdel Aziz mit gut einer Tonne Sprengstoff aus dem Weg zu bomben. Sie kidnappten Kanadier in Niger und wollten auch einen deutschen Diplomaten in Nouakchott entführen. Noch ist unabsehbar, wie sich der neue Staat Azawad behaupten will, wer genau dort herrschen wird. Sind es die Anhänger der Qaida, die umgehend die Scharia zur Rechtsgrundlage Azawads erklärten? Oder die säkularen Tuareg, die sich in der MNLA („Mouvement national pour la libération de L’Azawad“) versammelt haben? Und was ist mit der Splittergruppe Algier MAROKKO Tindouf TUNESIEN Bengasi AFRIKA ALGERIEN Taoudenni Tamanrasset LIBYEN MAURETANIEN Nouakchott Bamako MALI Timbuktu Gao NIGER TSCHAD Kano neu ausgerufener Tuareg-Staat „Azawad“ Tuareg-Gebiete Operationsgebiet von „al-Qaida im Islamischen Maghreb“ (AQMI) NIGERIA 750 km D E R S P I E G E L 1 9 / 2 0 1 2 Putschist Sanogo: Verzweifelter Kampf gegen die Tuareg Islamisten bei Timbuktu: „Afghanisierung der gesamten Sahel-Region“ fragt wurden, warum sie so viele Fahrzeuge zurückgelassen hätten, die dann AQMI in die Hände fielen, sagten sie, die Fahrer seien umgebracht worden, und niemand sonst in der Einheit habe fahren können. Als sie gefragt wurden, warum sie nicht ein schweres Maschinengewehr eingesetzt hätten, antworteten sie, der Schütze sei ebenfalls getötet worden – und er sei der Einzige gewesen, der die Waffe habe bedienen können.“ Der Einsatz der Amerikaner konnte das Desaster im Sand der Wüste nicht aufhalten. Die Moral der malischen Soldaten ist erbärmlich, zudem konnten sich die Tuareg im vergangenen Jahr im Getümmel des libyschen Bürgerkriegs schwere Waffen besorgen – Raketenwerfer, Panzerfahrzeuge und angeblich auch Flugabwehrraketen. Dabei geht es nicht nur um eine militärische Niederlage in Mali. Das Scheitern ist umfassender. Was Ende 2010 in Nordafrika als Arabischer Frühling begann und im Westen so viel Unterstützung fand, hat an vielen Orten der islamischen Welt längst neue Extreme befördert. Vor allem in der Sahara stoßen der Ruf nach Demokratie und Freiheit und die Forderung nach Mitbestimmung auf Widerstand. Die Fundamentalisten haben sich neu organisiert: Im Süden Libyens ringen sie um Einfluss, im lange friedlichen Tamanrasset im Süden Algeriens sprengte sich Anfang März ein Selbstmordattentäter vor einer Polizeistation in die Luft. In Nouakchott gingen wenig später erstmals in der Geschichte Mauretaniens fundamentalistische Frauen auf die Straße. Sie forderten nicht etwa Gleichberechtigung: „Nieder D E R S P I E G E L 1 9 / 2 0 1 2 mit der Demokratie!“, skandierten sie, und: „Führt die Scharia ein!“ Die Nato habe Libyens Bengasi gerettet und dafür Timbuktu in Mali verloren, sagt Gregory Mann, Professor in New York und ausgewiesener Sahel-Experte. Die Schwäche des Staates ist ein Grund für die Instabilität der Region, neue profitable Geschäftsfelder sind ein anderer: Wo einst Zigarettenschmuggler durch die Wüste zogen, werden heute pro Jahr 50 bis 60 Tonnen Kokain im Wert von bis zu zehn Milliarden Dollar durch die Sahara gen Europa geschleust, so Uno-Experten. Minuten nachdem im November 2009 eine Boeing 727 nördlich von Gao auf einer provisorischen Piste mitten in der Wüste aufgesetzt hatte, luden Helfer mehrere Tonnen Kokain in wartende Allradfahrzeuge um. Danach steckten sie die Maschine, die in Venezuela gestartet und dann auf einmal von den Radarschirmen verschwunden war, in Brand. Kidnapping ist der zweite sehr einträgliche Geschäftszweig der Qaida-Terroristen und Extremisten in der Region. Derzeit befinden sich ein gutes Dutzend westliche und sieben algerische Geiseln in ihrer Gewalt. Mehr als 100 Millionen Euro Lösegeld sollen die Banden bislang kassiert haben. Allein 30 Millionen Euro fordern jetzt Mujao-Kidnapper für eine spanische und eine italienische Geisel. Die Entführer sind ortskundig und mobil, sie legen mit ihren Opfern – wenn nötig auch nachts – 1000 bis 2000 Kilometer zurück. Sie orientieren sich an Felsen und Dünen, Satellitentelefone bleiben ausgeschaltet, niemand kann solche Konvois orten. Auch ein deutscher Bauingenieur wird zurzeit vermutlich von der Qaida festgehalten. Ende Januar war er im nigerianischen Kano verschleppt worden, erst Ende März erhielt seine Familie ein Lebenszeichen: In einem Video bat der erschöpfte Gefangene die Bundesregierung, sein Leben zu retten. Die meisten der Geiseln werden wohl im Großraum Taoudenni im Länderdreieck von Mali, Mauretanien und Algerien festgehalten. In der steinigen Gegend gibt es kaum Wasserstellen, die Temperaturen können auf bis zu 50 Grad im Schatten ansteigen. Ecowas-Politiker wollen nun Truppen in das Tuareg-Revier entsenden. Aber das wäre ein Himmelfahrtskommando: Zu groß ist der Heimvorteil der Gegner, sie kennen die Wüste wie sonst kaum jemand, und wahrscheinlich haben sie auch die besseren Waffen. Sahel-Kenner Gregory Mann ist skeptisch, ob sich die Region retten lässt: „Es wird ein weiter Weg zurück werden“, sagt er, „für den Norden, für ganz Mali, aber auch für die Idee von einer repräsentativen und integrativen Regierung.“ HORAND KNAUP ROMARIC OLLO HIEN / AFP JOE PENNEY 97 Ausland Leichtfertiges Vertrauen Die Bitte um Amerikas Hilfe und Schutz klang auf Chinesisch durch Raum 2172 während einer Anhörung des Kongresses in Washington. Saallautsprecher übertrugen vorigen Donnerstag das Telefongespräch des chinesischen Dissidenten Chen Guangcheng, 40, in dem er um Unterstützung für seinen Wunsch warb, China verlassen zu dürfen. Damit sahen sich gleich zwei Weltmächte bloßgestellt: China, weil wieder einmal deutlich wurde, wie miserabel es um die angestrebte Rechtsstaatlichkeit des Landes steht; und die USA, weil sie den Versicherungen der Pekinger Herrscher vertrauten und Chen dem Wohlwollen chinesischer Behörden überantwortet hatten. Der Konflikt, der eigentlich geräuschlos beseitigt werden sollte, droht nun auch US-Präsident Barack Obama zu beschädigen und das ohnehin gespannte Verhältnis zu China weiter zu belasten. Nach 18 Monaten Hausarrest war der blinde Dissident seinen Bewachern in der Provinz Shandong entkommen. Mit Hilfe von Freunden hatte er sich ins mehrere hundert Kilometer entfernte Peking und dort in die USBotschaft geflüchtet. Auf eigenen Wunsch, wie die Amerikaner behaupten, verließ er sechs Tage später sein Versteck und wurde in ein Pekinger Krankenhaus gebracht. US-Diplomaten erklärten, sie hätten von den Chinesen die Zusicherung erhalten, dass Chen in China studieren könne – ohne Angst vor staatlicher Verfolgung. Sich leichtfertig auf ein so vages Versprechen eingelassen zu haben, werfen jetzt die Republikaner der Obama-Regierung vor – Herausforderer Mitt Romney sprach von einem „Tag der Schande“. Am Freitag schien sich dann doch noch ein Ausweg aus der diplomatischen Krise zu ergeben, der Pekings und Washingtons Diplomaten helfen könnte, das Gesicht zu wahren: Wenn Chen im Ausland studieren wolle, könne er dies „wie jeder andere chinesische Bürger“ tun, teilte ein Sprecher des Außenministeriums in Peking mit. Allerdings verhieß diese Mitteilung keineswegs die von Chen ersehnte schnelle Ausreise. Zunächst müsste Chen wohl in seine Heimat zurückkehren, wo seine Peiniger auf ihn warten. Denn nur am registrierten Wohnsitz dürfen Chinesen sich normalerweise einen Reisepass ausstellen lassen. Das folgende Interview wurde telefonisch, während Chens Aufenthalt im Krankenhaus, geführt. Die Verbindung brach während des Gesprächs am vergangenen Donnerstag mehrmals zusammen. CH INA „Ich bin nicht frei“ Der blinde Dissident Chen Guangcheng über seinen Hausarrest und sein ungewisses Schicksal nach dem Verlassen der amerikanischen Botschaft in Peking SPIEGEL: Herr Chen, wie geht es Ihnen? Chen: Ich liege im Bett, ich fühle mich Chen: Ja. SPIEGEL: Wollen Sie China verlassen? Chen: Ja, ich möchte nun so schnell wie überhaupt nicht gut. Ich fürchte übrigens, dass diese Telefonverbindung jederzeit unterbrochen werden kann. SPIEGEL: Werden Sie gut behandelt? Chen: Ja, das ist okay. SPIEGEL: Wie geht es Ihrem Fuß? Welcher ist verletzt, und wie ist das passiert? Chen: Der rechte Fuß. Er ist eingegipst. Ich habe ihn mir gebrochen, als ich während meiner Flucht über eine Mauer kletterte. In sechs bis acht Wochen werden sie den Verband abnehmen. SPIEGEL: Haben Sie die US-Botschaft in Peking freiwillig wieder verlassen? Chen: (schweigt lange und seufzt): Ja, ich habe die Botschaft freiwillig verlassen, aber zu der Zeit wurde ich bedroht. SPIEGEL: Wurden Sie bedroht oder Ihre Familie? Chen: Nein, nicht ich wurde bedroht, aber meine Familie. SPIEGEL: Die chinesische Führung soll angekündigt haben, Ihre Ehefrau und die beiden Kinder zurück in Ihre Heimatprovinz Shandong zu schicken, wenn Sie die US-Botschaft nicht verlassen würden. Stimmt das? Chen: Ja. SPIEGEL: Und in Shandong hätten dann ebenjene Beamte und angeheuerte Schläger Ihre Familie erwartet, die sie dort so übel misshandelt haben. 98 möglich raus aus China. Mit meiner ganzen Familie. SPIEGEL: Auf dem Weg zum Krankenhaus haben Sie mit US-Außenministerin Hil- lary Clinton telefoniert. Hat sie Ihnen irgendwelche Garantien gegeben? Chen: Sie sagte nur, die chinesische Regierung werde meine bürgerlichen Rechte garantieren. Aber in China gibt es keine Garantien für Bürgerrechte. SPIEGEL: Die chinesische Regierung hat lange untätig zugesehen, wie lokale Behörden Sie unter Hausarrest hielten und misshandelten. Glauben Sie, dass diese Regierung künftig für Ihre Sicherheit einstehen wird? Chen: Für mich ist das keine Frage von glauben oder nicht glauben. Ich ziehe es vor, mich an die Tatsachen zu halten. Seit ich hier im Krankenhaus bin, konnte ich mit meinem Handy kaum noch telefonieren und kaum noch Anrufe empfangen. Meine Freunde können mich nicht besu- Aktivist Chen im Krankenhaus am vorigen Mittwoch: „Sie folgten uns auf Schritt und Tritt“ D E R S P I E G E L 1 9 / 2 0 1 2 JORDAN POUILLE / AFP Menschenrechtler Chen mit Ehefrau Yuan Weijing und Sohn Kerui: „In China gibt es keine Garantien für Bürgerrechte“ chen. Ich konnte auch nicht herausfinden, wie es meiner Mutter geht. Es gibt so viele Unsicherheiten für mich. Und dann berichtete mir meine Frau, was ihr zu Hause alles widerfuhr. SPIEGEL: Fürchten Sie, dass die lokalen Behörden sich an Ihnen rächen werden? Chen: Ja, ich mache mir Sorgen, große Sorgen. SPIEGEL: Sie sind der erste prominente chinesische Menschenrechtsaktivist, der aus der Gefangenschaft entkam und nun – angeblich – als freier Mann in China leben darf. Sehen Sie darin das Zeichen für einen Wandel, für mögliche Reformen? Chen: Das Problem ist doch: Ich bin nicht frei. SPIEGEL: Ihre Freunde dürfen Sie bislang nicht besuchen, nur Ihre Frau und Ihre beiden Kinder sind bei Ihnen im Krankenhaus? Chen: Ja, sie sind bei mir. SPIEGEL: Dürfen Ihre Frau und die Kinder nach draußen gehen? Chen: Nein. SPIEGEL: Wissen Sie, wie es Ihrer übrigen Verwandtschaft geht, Ihrem Neffen, Ihrem Bruder? Chen: Nein, ich weiß nichts über deren Lage. SPIEGEL: Können Sie ein wenig beschreiben, wie Sie während des Hausarrests behandelt wurden? Chen: Die Wächter hinderten uns gewaltsam daran, nach draußen zu gehen, sie folgten uns auf Schritt und Tritt. Die Leute von der Staatssicherheit des Kreises brachen in unser Haus ein, sie schlugen mich und meine Frau. Sie schleppten alles aus dem Haus, sogar Fieberthermometer und Taschenlampen. Eigentlich unwichtige Sachen – aber sie nahmen alles mit. Alle Bücher, die Bilder an den Wänden – alles raubten sie uns. Den Fernseher ließen sie zwar stehen, aber sie zerstörten mit einer Kneifzange den Stecker. Also konnten wir kein Fernsehen empfangen. Sie versuchten, uns das Leben so schwer wie möglich zu machen. SPIEGEL: Da mutet Ihre Flucht aus der Gefangenschaft fast wie ein Wunder an. D E R S P I E G E L 1 9 / 2 0 1 2 Chen: Ja, der Himmel hat mir geholfen. SPIEGEL: Wie gelang es Ihnen, unbemerkt zu entwischen? Chen: Das ist eine lange Geschichte. Ich krabbelte aus dem Haus. Ein Wächter hat mir geholfen. SPIEGEL: Auf Ihrer abenteuerlichen Flucht wurden Sie von Helfern aufgelesen und nach Peking gefahren, einige wurden später verhört oder festgenommen. Chen: Ich mache mir große Sorgen um sie. Genau das zeigt doch, dass das Gerede über Freiheit nur leeres Geschwätz ist. SPIEGEL: Haben Sie mit den Amerikanern über die Situation Ihrer Helfer gesprochen? Chen: Ja. Sie haben mir versichert, sie würden dieses Thema gegenüber der chinesischen Seite ansprechen. SPIEGEL: Was wissen Sie über die Abmachungen, die die Amerikaner zu Ihrem Schutz mit der chinesischen Regierung getroffen haben? Chen: Die chinesische Seite hat demnach meine Bürgerrechte garantiert, und ich durfte die Botschaft unbehelligt verlassen. 99 REUTERS SPIEGEL: Dieser Abmachung zufolge können die Amerikaner also nicht überprüfen, was mit Ihren Unterstützern passiert? Chen: Nein, offenbar nicht. Andere von ihnen werden ja immer noch gefoltert. SPIEGEL: Hat man Ihnen erklärt, warum Sie in den vergangenen Jahren illegal festgehalten und misshandelt wurden? Chen: Jetzt heißt es, meine Bürgerrechte seien verletzt worden, die Lokalregierung habe Gesetze und Verordnungen gebrochen. Das zumindest hat die Regierung gegenüber dem US-Unterstaatssekretär Kurt Campbell gesagt. SPIEGEL: Haben Sie von den USA oder von Ihrer eigenen Regierung irgendeine schriftliche Zusicherung erhalten? Chen: Nein. SPIEGEL: Ihnen wurde versprochen, dass Sie an einer chinesischen Hochschule studieren dürften. Handelt es sich dabei auch nur um eine mündliche Zusage? Chen: Ja. SPIEGEL: In welcher Stadt wurde Ihnen ein Studium angeboten? Chen: Sie nannten mir sieben mögliche Universitäten. Ich hatte mich noch nicht entschieden. Ich darf wählen zwischen Tianjin und … Aber vergessen wir das doch! Es ist sinnlos. SPIEGEL: An einem Studium in China haben Sie also kein Interesse mehr? Chen: So ist es. SPIEGEL: Als Sie mit US-Außenministerin Hillary Clinton telefonierten, sollen Sie ihr voller Freude gesagt haben: „Ich möchte Sie küssen.“ So berichteten es westliche Medien unter Bezug auf amerikanische Diplomaten. Chen: Die müssen sich verhört haben. Ich habe nicht gesagt, ich wolle Clinton küssen. Ich sagte nur auf Englisch: „I want to see you.“ Und das ist es ja, was ich möchte, ich möchte sie treffen. SPIEGEL: Hatten Sie daran geglaubt, dass Frau Clinton Sie besuchen wird? Chen: Sie war ja bereits in Peking, als ich noch in der Botschaft war. Aber sie kam nicht, um mich zu treffen. Das hat mich sehr überrascht. SPIEGEL: Hoffen Sie noch darauf, dass Ihnen die Amerikaner zusätzliche Zusagen über Ihren Schutz machen? Chen: Natürlich hoffe ich das. SPIEGEL: Bis jetzt hat es die aber nicht gegeben? Chen: Ich habe gerade einen Anruf von ihnen bekommen. Sie sagten, später würde mich jemand besuchen. SPIEGEL: Wie lange werden Sie im Krankenhaus bleiben müssen? Chen: Das weiß ich nicht. SPIEGEL: Glauben Sie, dass Ihr Land sich jemals zu einem Rechtsstaat wandeln wird? Chen: Ich glaube, ja. Aber dieses Ziel wird noch gewaltige Anstrengungen erfordern. Von sehr vielen Leuten. INTERVIEW: WIELAND WAGNER Agitator Said (M.), Anhänger, Nato-Protest in Lahore: Hasspredigten gegen die Weltmacht, die PA K I S TA N Unvergessen, unverziehen Zwischen Washington und Islamabad herrscht seit dem Tod Osama Bin Ladens weitgehend Funkstille. Die USA könnten sich aus dem Land zurückziehen, wären da nicht die Nuklearwaffen. heikh Rashid Ahmed hängt lässig in seinem Schreibtischstuhl und telefoniert ausgiebig. Sein Büro ist abgedunkelt, der Fernsehapparat läuft stumm. Vor ihm liegt ein Revolver im Holster, er langt danach, grinst und lässt ihn ruhen. Vor zwei Jahren haben gedungene Mörder vom Motorrad aus auf ihn geschossen. Seitdem trägt er eine Waffe. Ahmed ist 61 Jahre alt und ein Veteran der pakistanischen Politik. Unter Pervez Musharraf, dem Präsidenten zwischen 2001 und 2008, war er Minister, zuletzt verantwortlich für den Eisenbahnbau. Vor vier Jahren musste Musharraf zurücktreten, und Ahmed ging mit ihm unter. Daraufhin wurde er fromm, gründete seine eigene Partei, die „Awami Muslim League Pakistan“, und erklärte Amerika in aller Förmlichkeit den Dschihad. Seit Wochen zieht Ahmed mit einem Wanderzirkus aus militanten, frommen Männern durchs Land und peitscht die Massen gegen die USA auf. Im Pulk stehen sie um das Mikrofon herum, und dann sagt einer nach dem anderen mit D E R S P I E G E L 1 9 / 2 0 1 2 S erhobenem Zeigefinger, Allah habe es gefügt, dass die Weltmacht den Krieg in Afghanistan verliere, und deshalb müsse nun auch Pakistan sein Joch abwerfen. Sie predigen Hass. Der Wanderzirkus besteht aus Führern von 44 religiösen Gruppen, die sich vor knapp einem halben Jahr zum „Pakistan Defence Council“ vereinigt haben. Darunter sind orthodoxe Mullahs und Dschihadisten, muslimische Sektenführer und Anhänger islamischer Erweckungsbewegungen. Ahmed gehört zu den moderaten Kräften, anders als zum Beispiel Hafis Said. Der gilt als Drahtzieher beim mörderischen Anschlag auf zwei Hotels und einen Bahnhof in Mumbai im November 2008, bei dem 166 Menschen starben. Die US-Regierung hält Said für einen der gefährlichsten Terroristen der Welt und setzte vor kurzem eine Belohnung von zehn Millionen Dollar auf ihn aus. Das schien Said aber eher zu amüsieren, denn er berief eine Pressekonferenz in Rawalpindi ein, ließ einige Bemerkungen über seine vorzüglichen Verbindungen 100 drüben in Afghanistan den Krieg verliert zum pakistanischen Sicherheitsapparat fallen und machte Späße über die Kopfprämie: „Ich bin hier, ich bin sichtbar. Amerika sollte mir die Belohnung geben. Morgen werde ich in Lahore sein. Amerika kann jederzeit Kontakt zu mir aufnehmen.“ Kein pakistanischer Staatsanwalt denkt daran, Said festnehmen zu lassen. In seiner Heimat ist er kein Schurke, sondern ein Held. Pakistan ist ein wildes Land, aufgeputscht und umgepflügt durch den Krieg drüben in Afghanistan. Die militanten Frommen haben die kulturelle Hegemonie übernommen. Sie ereifern sich über die Arroganz der Weltmacht, über ihre Drohnenangriffe oben im Grenzgebiet oder die Tötung Osama Bin Ladens vor einem Jahr, und ihre Anhängerschaft reicht bis in die städtische Mittelschicht. Unverziehen ist die Invasion der amerikanischen Navy Seals am 2. Mai. Unvergessen sind die Bilder aus dem Weißen Haus, als Barack Obama die Operation per Videoübertragung verfolgte. Die Weltmacht hatte weder die Regierung Pakistans noch die Armee informiert, um die kleine Invasion nicht zu gefährden. Sie demütigte den Verbündeten, weil sie ihm zutiefst misstraute. Die Operation „Neptune’s Spear“ bedeutete einen Bruch in den Beziehungen zwischen den USA und Pakistan, der nicht heilen will. Normalerweise tun die US-Streitkräfte und die pakistanische Armee wenigstens so, als arbeiteten sie zusammen, normalerweise fliegen die Außenpolitiker und Militärs beider Länder regelmäßig hin und her. Nun aber herrschte monatelang Funkstille zwischen General James Mattis, im Central Command der US-Streitkräfte verantwortlich für den Krieg in Afghanistan, und Armeechef Ashfaq Parvez Kayani. Das pakistanische Parlament wiederum hat einen Ausschuss eingerichtet, der seit geraumer Zeit über neue Grundlagen für das Verhältnis zur Weltmacht berät und sich viel Zeit dabei lässt. Die Entfremdung hat Auswirkungen auf den Krieg drüben in Afghanistan. Denn seit vorigem November hat Pakistan den Nachschub für die Nato-Truppen auf dem Landweg ausgesetzt. Damals beschossen Nato-Hubschrauber versehentlich zwei pakistanische Grenzposten und töteten 24 Soldaten. Seither ist die Nato gezwungen, die Route über Zentralasien zu nehmen, ein enorm teurer Umweg. Der Konflikt lässt die eingeübte Doppelstrategie erkennen. Pakistan hat zwar den Transitverkehr mit großem Gehabe eingestellt, möchte ihn aber eigentlich wieder eröffnen, weil er lukrativ ist. Für jeden Container mit Lebensmitteln, Kraftstoff oder militärischen Ausrüstungsgütern, der in der Hafenstadt Karatschi ankommt und dann auf Lastwagen nach Kabul oder Kandahar transportiert wird, möchte Pakistan künftig rund 1500 Dollar haben. Die USA akzeptieren die massive Preissteigerung sogar, sie verlangen aber Freiheit von Wegezoll. Bisher kostete jeder Container zusätzlich 1500 Dollar an Schmiergeld auf der Route durch die Berge. Das Geld ging an die Taliban und korD E R S P I E G E L 1 9 / 2 0 1 2 rupte pakistanische Zöllner. So ist der Brauch, und niemand glaubt, dass er sich ändern wird. Folglich bleibt der Nato nur die Alternative, entweder den Preis bis zum Abzug 2014 zu akzeptieren oder Nachschub über Zentralasien heranzuschaffen. Das Verhältnis zwischen Pakistan und den USA war von Anfang an mit tückischen Eigeninteressen durchsetzt. Es gab immer Gründe für Argwohn, und sie haben über die Jahre zugenommen. Hillary Clinton ermahnte gerade zum wiederholten Mal die pakistanische Armee, sie solle endlich ernsthaft gegen das HaqqaniNetzwerk vorgehen. Der Paschtunen-Clan der Haqqanis siedelt im nordwestlichen Pakistan, von ihm geht nach Einschätzung der Nato große Gefahr für die Truppen in Afghanistan aus. Mitte April ereigneten sich simultan sieben Anschläge im Kabuler Diplomatenviertel, mehr als 40 Menschen kamen ums Leben. Vorige Woche, Barack Obama hatte seinen Blitzbesuch kaum beendet, da starben bei einem Selbstmordanschlag elf Menschen. Kurz darauf krachte es gleich dreimal im Nordwesten Pakistans. 25 Menschen fanden den Tod, darunter mehrere Stammesälteste, die sich gegen die Taliban ausgesprochen hatten. Aus Sicht der pakistanischen Armee und ihres Geheimdienstes ISI gibt es heute noch weniger Gründe als vorher, gegen Terrorgruppen vorzugehen. Denn spätestens Ende 2014 wird der Westen aus Afghanistan abziehen, und dann möchte Pakistan drüben in Afghanistan Einfluss auf die Entwicklung nehmen. Dafür hält es sich Verbündete auf allen Ebenen, wozu auch der Haqqani-Clan und die Taliban gehören. Amerika wiederum möchte auch über 2014 hinaus Einfluss in dieser Region behalten, und da bleibt Pakistan ein geeigneter Stützpunkt. Außerdem ist das instabile Pakistan Atommacht, und nach wie vor ist es der Alptraum des Westens, dass Terroristen an die Nuklearwaffen kommen. Im Dezember sorgte ein Artikel im renommierten US-Magazin „The Atlantic“ für Furore in Amerika wie Pakistan. Er hieß „The Ally From Hell“ – „Der Verbündete aus der Hölle“ – und wurde so intoniert: „Pakistan lügt. Es beheimatet radikale Dschihadisten und besitzt ein großes und wachsendes Nukleararsenal. Wer braucht Feinde, wenn er solche Freunde hat?“ Detailliert beschrieben zwei „Atlantic“Autoren, wie groß die Angst der Militärs sei, dass ihnen die Nuklearwaffen abspenstig gemacht würden. Im Zentrum der Überlegungen stünde allerdings nicht al-Qaida, wie man annnehmen könnte, sondern Amerika. Den Angriff auf Bin Laden habe Pakistans Sicherheitsapparat als Hinweis darauf verstanden, schreibt der „Atlantic“, „dass die USA über tech101 MOHSIN RAZA / REUTERS MOHAMMAD SAJJAD / AP Ausland Der digitale SPIEGEL Jetzt exklusiv in der neuen Ausgabe: Nackter Protest – Video über die Femen-Bewegung in der Ukraine So optimieren Sie Ihr Facebook-Profil – Eine Video-Anleitung Yihaa, Cowboy – Video über die Antilopenjagd in der texanischen Savanne Die neue Art zu lesen Der digitale SPIEGEL lässt Sie so tief in ein Thema einsteigen, wie Sie es möchten. Mit zusätzlichen Hintergrundseiten, exklusiv produzierten Videos, interaktiven Grafiken, 360°-Panoramafotos und 3-D-Modellen. Einmal anmelden und auf jedem Gerät lesen – egal, wo Sie gerade sind. Das komplette Heft immer schon ab Sonntag 8 Uhr. Einfach QR-Code scannen, z. B. mit der App „Sminna“ nische Mittel verfügen, um simultane Angriffe auf pakistanische Nuklearanlagen zu starten“. Interessant ist auch, welche Sicherheitsmaßnahmen sich Pakistan für sein Arsenal einfallen lässt. Sprengköpfe oder Komponenten der Kernwaffen müssen ja gelegentlich überholt und an dafür vorgesehene Orte gebracht werden. Manchmal findet der Transport per Hubschrauber statt, manchmal aber auch auf der Straße, und zwar „in zivil anmutenden Fahrzeugen ohne erkennbaren Geleitschutz mitten im regulären Verkehr“, schreiben die „Atlantic“-Autoren. Atomare Sprengköpfe, in Lieferwagen unterwegs mitten im Gewusel pakistanischer Großstädte: ein singulärer Einfall, geboren aus Paranoia gegenüber Amerika. Pakistan ist Atommacht, aber Pakistan ist auch ein armes Land, das wenig unternimmt gegen Armut und Analphabetentum – rund die Hälfte der 190 Millionen Einwohner können weder lesen noch schreiben. Deshalb bedeutet es auch nicht viel, dass Pakistan nach seiner Verfassung eine Demokratie ist. In Wirklichkeit bildet der Feudalismus vor allem auf dem Land die Grundlage der Gesellschaft, und alte Familien wie der Bhutto-Clan beherrschen das Land wie eh und je. Vor ein paar Monaten gingen wieder Putschgerüchte um, wie immer, wenn eine Regierung es sich mit dem Militär verdirbt. Zum Putsch kam es diesmal aber nicht, die Armee zögerte, da sie einigen Nimbus eingebüßt hat – weil sie sich, wie ihre Kritiker sagen, zum Büttel der USA gemacht hat. Der herrschende Antiamerikanismus schwächt auch die Armee, die bis vor kurzem noch als einzig verlässliche Institution im Land galt. So kann Asif Ali Zardari in Islamabad weitermachen. Er ist ein Zufallspräsident, denn er ist der Witwer Benazir Bhuttos, die zweimal Ministerpräsidentin war, zweimal wegen Korruption abgesetzt wurde und im Dezember 2007 einem Anschlag zum Opfer fiel, als sie zum dritten Mal antreten wollte. Der Witwer Zardari gehört zu den besonders verhassten Politikern im Land. Sein Spitzname aus früheren Tagen lautet „Mr. Zehn Prozent“, weil er regelmäßig zehn Prozent bei der Vergabe staatlicher Aufträge eingestrichen haben soll, als er Investitionsminister im Kabinett seiner Frau war. Er wurde 1999 verurteilt und saß fünf Jahre lang im Gefängnis. Danach folgte er seiner Frau ins Exil und kam 2007 mit ihr zurück, als Präsident Musharraf für eine Amnestie sorgte. So sind die Verhältnisse, und deshalb sagen Pakistaner manchmal in zynischer Verzweiflung, Pakistan sei ein „wasted land“, ein verschleudertes Land. Im politischen System steht hier jede Instanz gegen jede andere. Etwas Respekt flößen momentan nur die höchsten Rich102 D E R ter ein. Über Jahrzehnte waren sie die Erfüllungsgehilfen des Militärs; sie erteilten jedem Putsch die konstitutionelle Weihe. Aus der Abhängigkeit scheinen sie sich aber zu lösen. So gehen sie neuerdings auch schon mal gegen „Mr. Zehn Prozent“ vor, gegen Präsident Zardari, und seine alten Sünden. Zuerst erklärten die Obersten Richter die Amnestie von 2007 für null und nichtig, da sie auf einem Präsidenten-Erlass beruhte und nicht auf einem Gesetz. Dann versuchten sie, die amnestierten Fälle wieder aufzurollen. Dabei geht es vor allem um etliche Millionen Dollar, die Zardari gewaschen und auf Schweizer Konten versteckt haben soll. Der Fall war vertrackt und einfach zugleich. Er war vertrackt, weil die Richter die pakistanische Regierung dazu zwingen wollten, den Schweizer Behörden einen Brief zu schreiben und um Wiederaufnahme des eingestellten Verfahrens zu bitten. Dafür kam Zardari paradoxerweise nicht in Frage, denn als Präsident genießt er Immunität und war daher außer Reichweite. Ersatzweise hielten sich die Richter an den Ministerpräsidenten, Die Angst der Militärs ist groß, dass ihnen die Nuklearwaffen abspenstig gemacht werden. an Yousuf Raza Gilani. Die Richter forderten ihn auf, die Schweiz um Wiederaufnahme des Verfahrens zu ersuchen. Gilani weigerte sich aber, und so wurde aus einem Rechtsstreit eine Machtprobe. Der Fall war einfach, weil Missachtung des Gerichts unter Strafe steht. Wäre Gilani verurteilt worden, hätte er sein Amt verloren, und die Folge wären Neuwahlen gewesen. Das Oberste Gericht drohte auch mehrmals mit Strafe, scheute am Ende aber die Entscheidung und kam zu einem absurden Urteil: Symbolisch verurteilten die Richter den Angeklagten Gilani zu einer Sekundenstrafe, denn sie sollte verbüßt sein „in dem Moment, in dem sich die Richter erheben“. So ging ein demokratischer Symbolkonflikt aus, bei dem nach pakistanischem Verständnis alle Parteien gewonnen haben: die Richter, die den Premier unter Anklage gestellt hatten, und Gilani, der weiterregieren darf. Alles bleibt beim Alten, und so kann dieses seltsame Gespann Zardari/Gilani vielleicht sogar bis 2013 durchhalten und damit eine volle Amtsperiode hinter sich bringen. Und das wäre ein Novum in der Geschichte Pakistans, in der zivile Regierungen entweder weggeputscht werden oder wegen Korruption abtreten müssen. HASNAIN KAZIM, GERHARD SPÖRL 1 9 / 2 0 1 2 S P I E G E L www.spiegel.de/digital Ausland WASHINGTON Hundstage GLOBAL VILLAGE: Wie indonesische Essgewohnheiten ins Zentrum des amerikanischen Wahlkampfs rückten ein Name war Seamus. Er war nur schauerfragen annahm, mobilisierte er ein Hund, Mitt Romneys Hund. seine 52 000 Facebook-Freunde. Sie brachAber Scott Crider, ein Marketing- ten Sawyer schließlich dazu, Romney auf Experte aus Alabama, ahnte sofort, wie die Geschichte mit dem Hund anzusprewertvoll die Geschichte von Seamus ein- chen. „Würden Sie es wieder tun?“, fragte mal werden könnte. Und dass sein Schick- Sawyer. Romney antwortete genervt: „Sisal mehr über Mitt Romney erzählt, als cherlich nicht, so wie diese Sache breitRomney selbst je über sich sagen würde. getreten wurde.“ Nun aber bekam die Geschichte Fahrt. Es ist die Geschichte eines Irish Setter, den Romney als junger Vater im Sommer Auf der konservativen Website „Daily 1983 in einer Box auf sein Autodach lud, Caller“ taucht ein Zitat aus Obamas Autoum dann, so bepackt, mit seiner Familie biografie „Ein amerikanischer Traum“ tausend Kilometer weit von Boston nach auf. Millionen Amerikaner haben sie geKanada in den Urlaub zu fahren. Eine Mitarbeiterin Romneys hatte das 2007 erzählt, mitten in Romneys erstem Präsidentschaftswahlkampf. Sie dachte, die Geschichte werde ihrem Chef den Weg nach Washington ebnen, weil sie ihn als einen Mann zeige, der zu „emotionsfreiem Krisenmanagement“ fähig sei. Aber für Crider war es schon damals eine Metapher für Herzlosigkeit und dafür, dass Romney nicht weiß, was das Wahlvolk denkt und fühlt. Und so gründete Crider einen Blog, „Dogs against Romney“, und wartete ab. Er war überzeugt, es sei für ihn nur eine Frage der Zeit, bis er Romney zu packen bekomme. Hunde sind ein sensibles Thema in Washington. In fast 4o Prozent der Haushalte gibt es einen Logo der Hundelobby gegen Romney oder mehrere Hunde, 70 Prozent „Würden Sie es wieder tun?“ bezeichnen sich als Hundeliebhaber. Seit sich Präsident Franklin D. Roosevelt, der anfangs als abgehoben galt, einen Scottish Terrier na- lesen, sie wurde von Wahlkampfstrategen mens Fala anschaffte, sind Hunde die Ge- auf alle Schwächen hin durchkämmt, eiheimwaffe aller Präsidenten. Sie machen gentlich sollte nichts unbemerkt geblieben sein. Aber der „Daily Caller“ hat aus Politikern Menschen. John F. Kennedy, der eine Hundealler- eine Passage über Obamas Kindheit in gie hatte, erlaubte seinen Kindern trotz- Indonesien neu entdeckt: „Ich machte Bedem Hunde. George W. Bush scherzte, kanntschaft mit Hundefleisch (zäh)“, sein Terrier Barney sei der Sohn, den er schreibt Obama. Er war damals sechs Jahre alt, ein Kind. niemals hatte. Und Barack Obama beschäftigte das Land wochenlang mit der Seine amerikanische Mutter hatte erneut Frage, für welche Hunderasse sich die geheiratet, einen Indonesier, der seine Familie mit nach Jakarta nahm. Obamas First Family entscheiden werde. Im vergangenen Sommer verkündete Stiefvater zeigte dem Jungen die so anRomney erneut seine Kandidatur, und dere Kultur, er zeigte ihm, wie Hühner Crider rüstete auf. Er ging auf Facebook. geschlachtet werden, und gab ihm zu esAls dann ABC-Moderatorin Diane Saw- sen, was dort alle aßen: Schlangen, Heuyer die Romneys interviewte und Zu- schrecken und eben auch Hund. 104 D E R S P I E G E L 1 9 / 2 0 1 2 S Ausländische Sitten kommen bei amerikanischen Wählern nicht so gut an, vor allem nicht bei Republikanern. Der Demokrat John Kerry geriet im Präsidentschaftswahlkampf 2004 in ernste Schwierigkeiten, als er ein Philly-CheesesteakSandwich, einen Fast-Food-Klassiker, mit Schweizer Käse bestellte. Und Obama wurde verhöhnt, als er 2008 nach dem Preis von Rucola fragte. Obama-Gegner also witterten nach Kenntnisnahme der Indonesien-Passage ihre Chance. Sie gründeten „Mutts for Mitt“, Köter für Romney. Das ist eine Gegenbewegung, die verspricht: „Wenigstens isst er mich nicht!“ Im Internet kursieren nun Obamas angebliche Lieblingsrezepte für Hundefleisch. Selbst sein alter Widersacher John McCain war sich nicht zu schade, ein Bild vom Hund seines Sohnes zu twittern: „Sorry, Mr. President, er steht nicht auf der Speisekarte.“ Aber etwas passte da nicht. Ausgerechnet jene Partei, die sonst nicht so zimperlich ist und sich gern auf die Seite von Jägern stellt, empört sich nun darüber, dass ein Kind in Indonesien Hundefleisch gegessen hat? Es dauerte nicht lange, da erfuhr Amerika von Fred Malek, einem republikanischen Geldgeber. Malek hatte gerade noch den Geburtstag von Romneys Frau Ann ausgerichtet, da stand in der Zeitung, dass Malek einmal verhaftet worden war: Er war 1959 dabei, als ein Bekannter einen Hund totgeschlagen, gehäutet, ausgeweidet und dann auf den Grill gelegt hatte. Das war der letzte Freund, den Romney jetzt gebrauchen konnte. Und so steht am Ende Obama beim White-House-Korrespondentendinner gut gelaunt auf der Bühne und macht Witze, auch über jene Frage, die einst Vizepräsidentschaftskandidatin Sarah Palin berühmt gemacht hatte: „Was ist der Unterschied zwischen einer Hockey-Mom und einem Pitbull?“ „Lippenstift!“, hatte Palin damals als Antwort gegeben. Obama ruft nun: „Pitbull schmeckt lecker!“ Crider lachte herzlich – und hat jetzt wieder ein paar Facebook-Freunde mehr. COURTESY DOGS AGAINST ROMNEY MARC HUJER Szene „Blue Valentine“-Darsteller Ryan Gosling, Michelle Williams FILM SM aus Hollywood Beim Sex verstehen Hollywoods Zensoren keinen Spaß. Schon der Anblick einer weiblichen Brustwarze kann Anstoß erregen und bewirken, dass ein Film erst ab 17 freigegeben wird. Doch nun werden mehrere Mainstream-Filme über Sex und Sadomasochismus geplant. Für fünf Millionen Dollar wurden die Filmrechte an E. L. James’ Romantrilogie „Fifty Shades of Grey“ verkauft, in dem sich eine Studentin von einem Milliardär fesseln und demütigen lässt und dabei Spaß hat. In seinem Drehbuch „Lust“ erkundet Joe Eszterhas („Basic Instinct“) das Sexleben einer Karrierefrau, in „Lovelace“ spielt Amanda Seyfried die Pornodarstellerin Linda Lovelace. Die Filme fordern nicht nur das prüde Amerika heraus, sondern auch Hollywoods System der Altersfreigabe. Dies steht in der Kritik, weil Liebesfilme wie „Blue Valentine“ wegen freizügiger Sexszenen fast wie Pornos eingestuft wurden. Das Branchenblatt „Entertainment Weekly“ fordert: Ein System, das Nacktheit verbiete, aber die Darstellung extremer Gewalt erlaube, müsse von Grund auf reformiert werden. T H E AT E R „Auf dem Karussell“ Die Schauspielerin Maren Eggert, 38, über ihre Rolle als Antoinette in einer Neuinszenierung von Max Frischs Stück „Biographie: Ein Spiel“ am Deutschen Theater in Berlin SPIEGEL: Frau Eggert, hätten Sie – wie Ihre Figur im Stück – auch gern die Möglichkeit, das Leben noch einmal zu durchleben und dabei andere Entscheidungen fällen zu können? Eggert: Das ist ein schönes Gedankenspiel. In der Realität wäre ich wohl JAN ZAPPNER / IMAGETRUST überfordert. Aber in der Theorie fasziniert die Frage, ob man etwas in seiner Biografie ändern kann und was das bewirken würde. SPIEGEL: Es gehören Phantasie und Mut dazu. Eggert: Der Regisseur Bastian Kraft hat es geschafft, dass wir uns mit dieser Idee ganz zu Hause fühlen. Dazu gibt es das wunderbare Bühnenbild, das aussieht wie eine Wohnstube, in die Gäste eingeladen wurden, die zugucken dürfen. SPIEGEL: Die Stube dreht sich immer dann, wenn eine Lebenssituation noch einmal nachgespielt wird. Wie fühlt sich das an? Eggert: Großartig, aber die Szenerie ist schwer zu bespielen. Man fühlt sich wie auf einem Karussell, man muss zur rechten Zeit abspringen. Und für D E R S P I E G E L 1 9 / 2 0 1 2 den Zuschauer soll es dabei leicht aussehen. Überhaupt mag ich an dem Stück die Leichtigkeit. Es passt dort jedenfalls gut auf die kleine Bühne, so zart und ironisch, wie es ist. SPIEGEL: Antoinette, Ihre Figur, ergreift die Chance zur Revision ihres Lebens, während Kürmann, ihr Ehegatte, zu einer gravierenden Änderung nicht in der Lage ist. Sind Frauen im Leben konsequenter? Oder ist das ein Klischee von Max Frisch? Eggert: Männer denken offenbar, dass Frauen entschiedener sind. Vielleicht hat Frisch da etwas projiziert? SPIEGEL: „Sie halten sich für einen Frauenkenner, weil Sie jeder Frau gegenüber jedes Mal denselben Fehler machen“, wird über Kürmann gesagt. Eggert: Dieser Satz gefällt mir besonders gut. 106 SENATOR FILM / DDP IMAGES Kultur L I T E R AT U R Ein Gott ist kein Gentleman Da steht ein altes Herrenhaus in irischer Landschaft, mit Fauna, Flora und delikatesten Himmelsfarben satt ausgemalt, und oben im verdunkelten Turmzimmer liegt, schon im Koma, der sterbende Patriarch Adam Godley. Seine Frau betrinkt sich aus Hilflosigkeit; Tochter und Sohn samt Schwiegertochter sind zum Abschied angereist; auch der angeblich engste Freund (ein recht mephistophelischer Komplize des faustischen Adam) macht seine Aufwartung. Adam Godley war der bedeutendste Physiker seiner Zeit: Er hat mit dem Geniestreich eines neuen Raum-ZeitKonzepts Einstein ausgehebelt und die Vorstellung durchgesetzt, dass dieses Universum nur eines von zahllosen sei, die einander in einer „Unendlichkeit von Unendlichkeiten“ durchdrängen. Bei genauem Hinsehen verraJohn Banville ten Details, dass der Unendlichalte Adam und die Seikeiten nen in John Banvilles Aus dem EngRoman „Unendlichkeilischen von Christa ten“ in einem dem unSchuenke. Verlag seren sehr ähnlichen Kiepenheuer & Paralleluniversum leWitsch, Köln; ben. Den entscheiden320 Seiten; den Unterschied aber 19,99 Euro. können sie selbst nicht wahrnehmen: Die antiken Götter Griechenlands spielen hier insgeheim noch immer ihre hinterhältigen Spielchen mit den Sterblichen. Da schlüpft also der notorische Weiberheld Zeus ins Bett von Adams Schwiegertochter, in Gestalt ihres Ehemannes – ein Trick, der schon vor Jahrtausenden bei Amphitryons Frau Alkmene wirkte. Auch der ewige Schlingel Hermes und der Lustgott Pan mischen die trauertrübe Gesellschaft einen Sommertag lang kräftig auf. Ein Gott ist eben kein Gentleman. Der große irische Fabulierer John Banville, 66, begeisterter Kleist-Bearbeiter und Träger des Prager Franz-Kafka-Literaturpreises 2011, hat mit seinem Roman „Unendlichkeiten“ (brillant übersetzt von Christa Schuenke) ein ordentlich wildes und wüstes Stück Literatur geschaffen, das doch anmutig auf den daunenleichten Wölkchen der Ironie schwebt. Cage-Performance „Water Walk“, 1960 AU S ST E L LU N GE N Klang der Badewanne Damals durften die Leute noch über Kunst lachen. 1960 trat John Cage in einer beliebten amerikanischen TVShow auf. Der experimentierfreudige Komponist aus New York sah passenderweise aus wie ein Filmstar. Als er konzentriert und gut gelaunt seinen „Water Walk“ vorspielte, ein Stück für Instrumente wie Dampfkochtopf, Gummiente, Gießkanne und Badewanne, war das Publikum erheitert. Musik und künstlerische Performance, Anspruch und in diesem Fall sogar Slapstick-Humor – das eine schloss bei Cage das andere nicht aus. Längst wird er, die große Legende, ernsthaft verehrt. Im kommenden September wäre Cage, der 1992 starb, 100 Jahre alt geworden, mehrere Ausstellungen werden ihm deshalb gewidmet. Dazu zählt eine aktuelle Schau in der Berliner Akademie der Künste. In der kommenden Woche eröffnet das Museum Mathildenhöhe in Darmstadt eine seiner großen Themenausstellungen. In „A House Full of Music“ werden Vorläufer, Zeitgenossen und Erben von John Cage präsentiert, lauter Geistesverwandte, denen es um die Ästhetik des Klanges oder den Klang der Ästhetik ging und geht, die neue Akustik- oder Bilderwelten oder eben beides auf einmal erschlossen. Vertreten sind etwa der amerikanische Videokunst-Veteran Bruce Nauman und der Brite Brian Eno, ein Pionier der Ambient-Musik (bis 9. September). COURTESY JOHN CAGE TRUST Hill, Tatum in „21 Jump Street“ KINO IN KÜRZE „21 Jump Street“ war eine amerikanische Fernsehserie über junge Polizisten, die, als Schüler verkleidet, verdeckt an Highschools ermitteln, eine Mischung aus „Die Feuerzangenbowle“ und „Police Academy“. Die Serie, von 1987 bis 1991 produziert, bedeutete den Durchbruch für einen unbekannten Schauspieler namens Johnny Depp. Das Kino-Remake führt jetzt die Nachwuchs-Stars Jonah Hill, 28, und Channing Tatum, 32, als Nachwuchs-Cops zurück in die Schule, wo sie einen Drogendealer-Ring ausheben sollen. Herausgekommen ist dabei eine erfreulich selbstironisch-rotzige ActionKomödie über den Horror des Erwachsenwerdens, ergänzt um ein paar schöne Besetzungsgags: Der frühere Gangsta-Rapper Ice Cube spielt einen Polizeichef, Johnny Depp hat einen Gastauftritt als Ganove. D E R S P I E G E L 1 9 / 2 0 1 2 107 2012 SONY PICTURES RELEASING Renaissance-Gemälde „Primavera“ von Sandro Botticelli, um 1482: Die Naivität selbst hat etwas Politisches AKG IDEENGESCHICHTE Die Methode Lukrez Der Geisteswissenschaftler Stephen Greenblatt hat ein faszinierendes Buch über die Renaissance geschrieben – und über die Wirkungsmacht eines antiken Philosophen, dessen Werk zur Inspiration für Aufklärung und Moderne wurde. Von Georg Diez ann erkennt man sich in einem Buch? Woher weiß man, dass es von der Welt erzählt, aber mich meint? Und muss man wissen, wer das ist: ich – um sich zu erkennen? Oder andersherum: Wie kann man nach etwas suchen, von dem man gar nicht weiß, dass es existiert? Wie kommt also das Neue in die Welt? Und wie kann man dieses Neue beurteilen? Doch nicht nur, weil es sich vom Alten unterscheidet? Doch nicht nur, weil so viele dagegen sind? Der amerikanische Literaturwissenschaftler Stephen Greenblatt, 68, jedenfalls hat ein Buch geschrieben über das Neue. Er erzählt die Geschichte eines Außenseiters, 108 W der einst im Zentrum der Macht stand als apostolischer Sekretär, Poggio Bracciolini, der um das Jahr 1417 durch kalte deutsche Klöster streifte, weil er auf der Suche war nach verschollenen Texten der Griechen und Römer – und der Lukrez fand und dessen Riesengedicht „De rerum natura“. Und diese Verse sind ein Schlüssel zum Neuen, immer noch, sie helfen einem, das Neue zu erkennen oder erst einmal neu zu sehen: wie die Welt ist und wie wir uns in der Welt bewegen. Am Ende also auch: wer wir sind. So wird dieses Buch, „Die Wende. Wie die Renaissance begann“ (Siedler Verlag), zur existentiellen Exkursion. Und das liegt an Lukrez. D E R S P I E G E L 1 9 / 2 0 1 2 Wenn man will, kann man Lukrez als Prisma nehmen, um Fragen der Gegenwart zu betrachten: Die Hellheit und die Klarheit der Sprache und des Denkens sind im Grunde schon politische, demokratische Attribute, die sich übersetzen lassen mit dem Wort Transparenz – und schon führt die Lektüre, die im Jahr 55 vor Christus beginnt, in die Jetztzeit, zur Occupy-Bewegung und zu „Liquid Democracy“. Gerade die Naivität, die man etwa der Occupy-Bewegung oft vorwirft, ist etwas, das sich auch in „De rerum natura“ finden lässt – und diese Naivität selbst hat etwas Politisches, weil sie grundsätzlich die Frage danach stellt, ob die Dinge so sein müssen, wie sie sind, ob wir die Din- Kultur Auszug aus Lukrez-Werk „De rerum natura“, Lukrez-Darstellung: Die Welt begreifen, bevor man sie verändert ge überhaupt richtig beschreiben. Ob wir die Welt also erst einmal richtig begreifen müssen, bevor wir sie verändern können. Was natürlich ein linker Gedanke ist. Einerseits. Andererseits fehlt Lukrez jedes Vokabular für Veränderung, er denkt nicht in diesen Kategorien, für ihn ist die Ordnung des Kosmos das Faszinierende, und wenn wir diese Ordnung erkennen, sagt er, dann erkennen wir auch uns. War Lukrez also ein Hippie? Auch um zu klären, was ein Hippie ist, ist ein kurzer Schlenker in die Antike hilfreich. Denn vor dem Hintergrund der vagabundierenden Spiritualität und Selbstsuche heute, die meistens nur das Selbst mit dem eigenen Kleiderschrank, also mit der Oberfläche verwechselt, ist die Antike von angenehmer Fremdheit: kein Begriff vom Ich, keine Psychologie und schon gar keine Tiefe. Was Lukrez also vorschlug, war weniger Inhalt und mehr Methode. Gerade das machte ihn so interessant für die frühe Renaissance, für Poggio Bracciolini und andere Zweifler und Skeptiker. Die Spuren, die sein Denken hinterließ, verfolgt Greenblatt am Ende seines Buchs, das im Original den deutlich entschiedeneren Untertitel trägt: „How the World Became Modern“. Und genau das ist auch heute die entscheidende Frage: was uns der Beginn der Moderne im Abendlicht der Moderne zu sagen hat. Greenblatts Antwort lautet: Die Renaissance entwickelte einen Individualismus, der den Menschen nicht mit dem Universum verwechselt. Eine Politik, die sich nicht an Ideologie knüpft. Eine Lebenspraxis, die auf das Glück zielt. Eine Offenheit für das Neue, weil das Neue im kosmischen Kontext weniger Veränderung ist und mehr Offenbarung. So ist es spannend, wie Greenblatt von der Besessenheit der Bücherjäger wie Poggio Bracciolini erzählt, die nach verlorenen oder von der Kirche verfemten Texten suchten, und wie er nebenbei die These relativiert, dass die Klöster die Orte gewesen seien, an denen das antike Erbe durch das Mittelalter bewahrt wurde: Nur der Zufall, so beschreibt er das, rettete diese Texte vor der Vernichtung. So ist es unterhaltsam, wie Greenblatt den Alltag der klösterlichen Kopisten schildert, die sich aus Tierhäuten ihr Schreibmaterial schaffen mussten und die manchmal so sauer waren über ihren schönschreiberischen Stumpfsinn, dass sie an den Rand kritzelten: „Das Pergament ist voller Haare“ oder „Jetzt habe ich das ganze Stück abgeschrieben, gebt mir, um Christi willen, einen Trunk“. So ist es faszinierend, wie Greenblatt die Machtstrategien des frühen Christentums erklärt, das sich gegen ideologisch D E R S P I E G E L 1 9 / 2 0 1 2 gefährliche, individualistische, hedonistische Gedanken durchsetzen musste: und wie sich der Mensch dann vor 600 Jahren von Angst und Aberglaube frei machte, wie er sich selbst fand, wie er sein Ich erfand in der Renaissance. Aber das wahrhaft Berauschende ist die Begegnung mit Lukrez, diesem gefeierten, geschmähten, vergessenen Dichter, der im Jahr 55 vor Christus gestorben sein soll – er habe Selbstmord begangen, hieß es später, er sei wahnsinnig gewesen und liebeskrank, als er seine Bücher schrieb, hieß es, das war die frühchristliche Polemik gegen einen Denker, der vieles von dem in Frage gestellt hatte, worauf die Kirche ihre Macht baute: dass der Mensch frei sein könnte, frei von Angst und frei von den Göttern. Ein klarer, frischer, fast frühlingshafter Zug durchweht die Zeilen von Lukrez: Diesem Dichter ging es um alles, aber er behielt sich seine Leichtigkeit, weil er von den Dingen ausging, die ihn umgaben. Keine Metaphysik, kein Geraune, da ist nur der staunende Blick auf die Natur, wie sie uns umgibt – und aus dieser Naturbetrachtung folgt sein Menschenbild. „Es beginnt“, so beschreibt Lukrez selbst sein Vorhaben, „von dem Himmelssystem und dem Wesen der Götter völlig den Schleier zu ziehn und der Welt Elemente zu lehren. Denn aus ihnen er109 ULLSTEIN BILD (M.); SPENCER ARNOLD / HULTON ARCHIVE / GETTY IMAGES (R.) Kultur schafft die Natur und ernähret und meh- nung von Max Ernst, „unter einer Mond- „dringt stets durch bestimmte Risse im ret alles; auf diese zuletzt führt alles sie sichel hoch über der Erde waren zwei Seelenleben eines Menschen in diesen Beinpaare“, so erinnert sich Greenblatt, ein“. Neben dieser privaten Lesart von wieder zurücke, wenn es vergeht.“ Aber wie soll man die Worte finden „mit etwas beschäftigt, das wohl ein Lukrez gibt es noch eine politische, und auch davon erzählt Greenblatt. Es ist die für diese neue, götterlose Welt, für dieses himmlischer Beischlaf sein sollte“. Und tatsächlich beschreibt Lukrez Figur des Bücherjägers Poggio Bracciolini neue, götterlose Leben, für diesen neuen, götterlosen Menschen – denn, schreibt er nicht nur schön und präzise, wie sich das selbst, die die Widersprüche spiegelt, die gleich am Anfang, „unsere Sprache ver- Meer bewegt, wie der Wind einen Körper die Entdeckung der Freiheitsphilosophie sagt gar oft bei der Neuheit des Inhalts“. hat, wie die Welt sich aus Atomen zusam- von Lukrez brachte: Bracciolinis Neugier Die Natur, das ist seine Antwort, liefert mensetzt – er beschreibt auch anschau- führte ihn zu einem Text, der all dem entuns Bilder und Begriffe. So beschreibt Lu- lich, offen und stellenweise lustig Liebe, gegenstand, wofür er als Mann der Kirche krez Wind und Wolken, Blitz und Vulka- Lust und Sex, er erklärt, wie die sexuelle arbeitete. Der auch all dem entgegenne, Eisen und das Wesen der Planeten, Energie den Kosmos auflädt und wie sie stand, was er als Bürger von Florenz denken sollte. er feiert die Größe und die Wunder der sich in den Menschen wieder entlädt. Denn die Macht des Fürsten beruht auf „Kaum nämlich ist die Pforte des Früh„Mutter Erde“ – und endet beim Nichts, bei der Kleinheit und der Vergänglichkeit lings aufgesprungen und es wirkt, plötz- dem Pakt mit Gott. Gibt es Gott aber des Menschen, die uns, und das ist der lich befreit, die Brise des Zephyr, da, Göt- nicht, dann ist auch der Grund für seine tin, künden die Vögel dich an, ins Herz Macht verloren. So gesehen schrieb LuClou seines Denkens, frei machen. „Nichts kann je aus dem Nichts entste- getroffen von deinen mächtigen Pfeilen. krez ein Traktat für die Demokratie. Thomas Jefferson sah das wenigstens hen durch göttliche Schöpfung“, schreibt Dann toben das Wild und das Vieh über er. „Denn nur darum beherrscht die üppige Weiden, schwimmen durch wilde so, der mindestens fünf Ausgaben von „De rerum natura“ besaß: der Vater der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung, die die sehr lukrezsche Formulierung vom „Streben nach Glück“ enthält. „Ich fühle Körper, die nicht ich selbst bin“, schrieb er über sein „Lebenselixier“, wie er es nannte, eine private Weltdeutung, die politische Konsequenzen für das Denken hat. „Es muss also andere Existenzen geben. Ich nenne sie Materie. Ich fühle, wie sie den Ort wechseln. Das gibt mir Bewegung. Wo Abwesenheit von Materie ist, nenne ich das Leere oder Nichts oder immateriellen Raum. Auf der Basis von Sinneseindrücken, von Materie und Bewegung können wir den Bau aller Gewissheiten aufrichten, die wir haben können oder benötigen.“ Jefferson ging den Schritt von der Erkenntnis zur Ethik, von der privaten Deutung der Welt zur politischen Dimension dieser zutiefst aufklärerischen Idee: Alles, was wir sind und sehen, sind wir durch die Vernunft, durch die Wahrnehmung der Dinge und der Natur. Historiker Greenblatt, Holzschnitt „Die vier Elemente“, 1472: „Von diesem Zauber gefangen“ Das hat weniger mit einem Begriff von Furcht die Sterblichen alle, weil sie am Ströme: Von deinem Zauber gefangen, Natur zu tun, wie er im Umweltdenken Himmel und hier auf Erden gar vieles ge- begierig folgen sie alle dir, willig, wohin deutlich wird, weil die Natur erst einmal schehen sehen, von dem sie den Grund du sie führst. Dann senkst du verführeri- größer und umfassender gesehen wird durchaus nicht zu fassen vermögen. Dar- sche Liebe ins Herz aller Kreaturen, die und nicht als etwas, das vom Menschen um schreiben sie solches Geschehen wohl leben in den Meeren und Bergen und flie- geschützt werden kann – und dennoch ßenden Strömen und in der Vögel beleb- steckt in dieser fast naiven Art, sich der der göttlichen Macht zu.“ Wenn wir aber erkennen, dass die Na- tem Dickicht, auf grünenden Fluren; den Welt zu nähern, als sei sie aus Bausteitur vor uns Menschen existierte und nicht leidenschaftlichen Trieb senkst du in sie, nen, etwas Verlockendes auch für uns heute. für uns. Wenn wir akzeptieren, dass wir ihre Art zu vermehren.“ „Also von dem, was man sieht, geht Das sind Ton und Tempo von Lukrez: fort sind, wenn wir sterben, und nicht im Jenseits. Wenn wir das Wesen und Funk- Die Mischung aus Verblasenheit, Fremd- nichts vollständig zugrunde“, schreibt Lutionieren des großen, vielleicht grausa- heit und Vertrautheit treibt die Lektüre krez. „Denn die Natur schafft eins aus men, vielleicht gütigen Kosmos begreifen: heute noch voran. Es ist der Wille, sich dem andern und duldet kein Werden, Dann bleibt doch, und da ist Lukrez ganz mit den alltäglichen Dingen zu beschäfti- wenn nicht des einen Geburt mit dem bei seinem Vorbild Epikur, dass wir hier gen wie mit den grundlegenden Bedin- Tode des andern verknüpft wird.“ Eine gewisse Demut spricht aus all auf Erden, hier und jetzt, so sehr leben gungen unseres Lebens, der dem Text dem, eine Weltzugewandtheit, ein freundeine überraschende Relevanz gibt. und glücklich sein können, wie es geht. „De rerum natura“ ist nicht nur eine licher Pragmatismus. Die Dinge sind, wie Greenblatt selbst, so beschreibt er das, war sofort gefangen von dieser Emphase – „tiefe, therapeutische Meditation über die sie sind, sagt Lukrez, und das ist keine für zehn Cent kaufte er sich als Student Todesfurcht“, wie Greenblatt schreibt, fatalistische Haltung, sondern der Schlüs„De rerum natura“, weil ihm der Um- dessen ganze Kindheit von dieser Angst sel, um zu verstehen, wie wir wurden, schlag so gut gefiel: eine surreale Zeich- überwölbt war: Kunst, so Greenblatt, was wir sind. RICK FRIEDMAN / CORBIS 110 D E R S P I E G E L 1 9 / 2 0 1 2 ULLSTEIN BILD Kultur E S S AY Verzaubert von der guten Fee Der Fall Timoschenko und die Probleme moralischer Politik Von Dirk Kurbjuweit Die Deutschen sind nun einmal eine verspätete und damit s ist keine Frage, dass Julija Timoschenko schlimmes Unrecht geschieht. Es ist keine Frage, dass sie fürchterlich besonders ehrgeizige Nation, sie wollen immer besser sein als leiden muss. Die Ukraine sollte sie ausreisen lassen, damit andere. Im Kaiserreich zeigte sich das als politischer, technologischer und wirtschaftlicher Eifer. Auf dieser Grundlage ihr die besten Ärzte helfen können. Es ist daher unbedingt richtig, dass deutsche Politiker darüber richteten die Nazis die größte Katastrophe aller Zeiten an. Die diskutieren, wie man Timoschenko helfen kann. Aber das Mit- Bundesrepublik übernahm den technologischen und wirtschaftgefühl für diese geschundene Frau sollte nicht vergessen ma- lichen Ehrgeiz der Vorgänger, war aber politisch gehemmt, weil das Erbe der Nazis schwer wog. chen, dass es hier um ein besonders So wurden die Bundesdeutschen die schwieriges Feld der Politik geht, weltbesten Wiedergutmacher und um moralische Politik. wandelten sich zur moralischen Der Fall Timoschenko ist ein ideaNation. ler Fall für moralische Politik, weil Aber Moral und Politik sind sich diese Frau auf den ersten Blick schwierige Schwestern. Es drohen als Symbol eignet. Sie ist eine Frau, Doppelmoral, schwer aufzulösende die eine Revolution angeführt hat, Dilemmata, Missbrauch und mansie ist eine Frau, die mit ihrem blongelnde Effektivität. den Zopf ein märchenhaftes Wesen Moral strebt ins Totale. Eine halzu sein scheint, eine gute Fee der be Moral ist keine. Wer sich auf dieDemokratie. Diese Frau kämpft gesem Gebiet nicht konsistent und gen ein böses Regime, den autoritärkonsequent verhält, dem droht der brutalen Staat des Wiktor JanukoVorwurf der Doppelmoral. Das Pawitsch, und der Westen ist verzauradox des guten Handelns liegt bert. So sieht dieser Fall auf der darin, dass manchmal der, der gar Symbolebene aus. nichts Gutes macht, besser dasteht Symbole werden meistens simplials der, der einmal etwas Gutes fiziert, vereindeutigt. Aber selbst Häftling Timoschenko macht, bei einer anderen Gelegenwenn Julija Timoschenko keine gute nicht. Aha, Fee sein sollte, weil ihre VergangenEin Sport-Boykott ist kein smartes heit aberdann. Häme. Doppelmoral, heißt es Spott. heit als Oligarchin zwielichtig ist, Mittel der Politik, sondern Als 2008 die Olympischen Spiele hat sie das Gefängnis nicht verdient, in Peking anstanden, schlug das chiSchläge und unterlassene Behandein ziemlich grobes und lautes. nesische Regime hart in der Autolungen gegen ihre Schmerzen ohnenomen Region Tibet zu. Unruhen hin nicht. Aber das Symbolhafte ihres Falles kann dazu verleiten, eine falsche Politik zu machen. wurden blutig niedergeschlagen. In Deutschland gab es eine kurze Debatte über einen Boykott, aber diese Möglichkeit wurEin Boykott wäre falsch. Im Juni richten Polen und die Ukraine die Fußball-Europa- de verworfen. Angela Merkel fuhr nicht nach Peking, allerdings meisterschaft aus. Natürlich wirkt es obszön, wenn ein großes nicht aus Protest. Über ihren damaligen stellvertretenden ReSportfest gefeiert wird, obwohl eine Politikerin an einem der gierungssprecher Thomas Steg ließ sie ausrichten, „dass sie Spielorte, Charkow, unter schrecklichen Bedingungen festge- von Boykottdrohungen, Sanktionsmaßnahmen oder ähnlichen halten wird. Natürlich kann einem da ein Boykott einfallen, so Maßnahmen nichts hält“. Diesmal erwägt Merkel, dass weder wie er gerade in Deutschland diskutiert wird. In der einen Va- die Minister noch sie selbst in die Ukraine reisen sollen. Ist das chinesische Regime besser als das ukrainische? Nein, riante sollen Politiker nicht zu den Spielen in der Ukraine fahren, in der anderen soll dem Land die Europameisterschaft auch China wird autoritär regiert. Wer dort Freiheiten fordert, entzogen werden. Die Mitglieder der EU-Kommission haben muss mit Verfolgung, Haft und Folter rechnen. Auch für die bereits entschieden, dass sie der Ukraine fernbleiben werden. Spiele von Peking galt, dass der Sport ein Fest feierte, während Die Deutschen sind bei solchen Debatten meistens ganz in den Gefängnissen Dissidenten entsetzlich leiden mussten. vorn. Als die Sowjetunion 1979 in Afghanistan einmarschiert Jede Goldmedaille der Deutschen sorgte gleichwohl daheim war, hatte ein bundesdeutscher Diplomat als Erster die Idee, für fröhliche Schlagzeilen und gute Stimmung. Im Jahr 2014 richtet Russland die Olympischen Winterspiele deshalb die Olympischen Spiele 1980 in Moskau zu boykottieren. Die Bundesrepublik war dann das einzige größere Land aus, 2018 die Fußball-Weltmeisterschaft. Wer jetzt die Ukraine in Europa, das keine Athleten nach Moskau schickte. Nun de- für untauglich hält, ein internationales Sportfest auszurichten, battieren die Deutschen über einen Boykott der Ukraine, der wird reichlich Gründe finden, nicht nach Russland zu fahren, Eishockey-WM in Weißrussland 2014 und des Europäischen wo Regimegegner wie Michail Chodorkowski im Straflager hocken. Aber Russland wird garantiert nicht boykottiert werden. Schlagerwettbewerbs in Aserbaidschan im Mai dieses Jahres. 112 D E R S P I E G E L 1 9 / 2 0 1 2 SERGEI CHUZAVKOV / DAPD E Die Bundesrepublik wäre als moralische Autorität erledigt, den, Obama ist nun einer jener Politiker, die sich in einem kruwürde sie gegenüber dem ökonomischen Zwerg Ukraine einen den System zu bewegen verstehen, es aber nicht verändern. Aufstand machen, nicht aber gegenüber den Riesen China und Sein Versprechen war ein anderes. Viele seiner Wähler sind Russland, die als Großimporteur und Gaslieferant enorm wich- enttäuscht, er hat Glück, dass Mitt Romney ein schwacher Getig sind für den deutschen Wohlstand. Eine Politik, die sich genkandidat ist. daran ausrichtet, ob moralisches Handeln der Wirtschaft weh tut oder nicht, ist verzichtbar. Unangenehmer kann Doppeler mit Moral Politik macht, wird besonders genau moral kaum sein. daraufhin abgeklopft, ob seine Motive lauter sind. Politik ist zu komplex, als dass es eindeutig richtiges Handeln Moralische Außenpolitik hat oft das Ziel, innenpoligeben könnte. Im Richtigen liegt auch immer etwas Falsches, tische Interessen zu befördern. Es ist sicherlich kein Zufall, im Guten etwas Schlechtes oder gar Böses. Deshalb steckt im dass Bundesumweltminister Norbert Röttgen einer der Ersten moralischen Handeln meist auch etwas Unmoralisches, anders war, die forderten, dass Spitzenpolitiker nicht zur Europameisgesagt: Der einen Moral steht eine andere gegenüber. Die Po- terschaft reisen sollen. Bald wird in Nordrhein-Westfalen gelitik sieht sich einem Dilemma ausgesetzt. wählt, und Röttgen ist dort Spitzenkandidat der CDU. Als Das zeigt sich häufig bei Wirtschaftsboykotten. Sie sollen Fußballfan ist er bislang nicht hervorgetreten, er muss also ein missliebiges Regime aus den Angeln heben, sorgen aber auf nichts verzichten, wenn boykottiert wird. Eine moralische für Armut und Elend in der Bevölkerung. Die eine Moral sagt: Forderung, die einen selbst nichts kostet, wirkt zweifelhaft. Der Boykott wird dazu beitragen, Folter und Unterdrückung Moral wird zur Banalität, wenn sie als Machtmittel misszu beenden. Die andere Moral sagt: Wir dürfen schuldlose braucht wird. Deshalb sollte man eine moralische Politik nur Menschen nicht darben lassen. äußerst gewissenhaft betreiben. Ein typisches Dilemma moralischer Politik birgt auch die Gerade moralische Politik sollte nicht denen dienen, die sie Frage, ob die Bundeswehr aus Afghanistan abziehen soll oder machen, sondern denen, für die sie gemacht wird. Aber kann nicht. Die einen sehen vor allem, sie ihre Ziele erreichen? Wie hoch dass dort deutsche Soldaten sterben ist ihre Effektivität? und töten, und halten das für unerDer Boykott der Olympischen träglich. Die anderen befürchten, Spiele in Moskau hat nichts gedass nach einem Abzug das große bracht. Die sowjetischen Truppen Chaos ausbricht, und halten das für blieben noch knapp neun Jahre lang unerträglich. in Afghanistan, neun weitere Jahre Was hier falsch oder richtig ist, des Tötens und Sterbens. lässt sich nicht eindeutig beantworEs gibt aber auch gelungene ten. Der Pazifist kann sich genauso Beispiele. Eines davon ist Korb 3 schuldig machen wie der Bellizist. der Schlussakte von Helsinki. Im Eine moralische Überlegenheit sollKalten Krieg hatten sich Ost und te hier niemand für sich reklamieWest bei der Konferenz über Sicherren. Moralische Politik gibt manchheit und Zusammenarbeit in mal nur eine Antwort auf die Frage, Europa darauf geeinigt, die Menwelche Art von Schuld man am besschenrechte in diesem Dokument ten aushalten kann. zu verankern. Der Westen hatte Das Dilemma im Fall der Ukraine den Staaten des Warschauer Pakts ist nicht ganz so offenkundig. Der dieses Zugeständnis mit viel GeNationalspieler Mesut Özil, Bundeskanzlerin Merkel moralische Anspruch der Boykottduld abverhandelt. Anschließend Fraktion geht dahin, dass Julija beriefen sich Bürgerrechtler, zum Wer die Ukraine boykottiert, Timoschenko fair behandelt wird Beispiel der Charta 77, immer China und Russland aber und freikommt. Darüber hinaus soll wieder auf Korb 3, der ihre Exissich die Ukraine in ein demokratitenz absicherte und damit zum nicht, zeigt eine Doppelmoral. sches Land nach westlichen MaßUntergang des sowjetischen Impestäben verwandeln. Das sind gute riums beitrug. Moralische Politik Ziele, und trotzdem gibt es die Möglichkeit, dass ein Boykott kann erfolgreich sein, wenn sie beharrlich und diplomatisch etwas Schlechtes bewirkt. Die Ukraine könnte ihr Ziel, Mitglied daherkommt. der Europäischen Union zu werden, verloren geben und sich Ein Sport-Boykott ist kein smartes Mittel der Politik, sondern Russland zuwenden, weil dort eher Verständnis für autoritäres ein ziemlich grobes und lautes. Man kann ihn diskutieren, und Staatsgehabe herrscht. Das schadet allen Ukrainern, die auf wenn das schon ausreichen würde, das ukrainische Regime zum eine bessere Demokratie und einen neuen Wohlstand durch Einlenken zu bewegen – umso besser. Aber am Ende sollte die EU hoffen. Wer moralische Politik betreibt, muss damit man auf einen Boykott verzichten. Denn der Sport-Boykott derechnen, dass gutgemeintes Handeln Schlechtes bewirkt. mütigt mit maximaler Wirkung, weil die Aufmerksamkeit dafür so groß ist. Wer boykottiert wird, verliert sein Gesicht. Wer aneider neigen Politiker dazu, aus allem ein Instrument schließend einknickt, verliert es ein zweites Mal. Deshalb ist ihrer Interessen zu machen, auch die Moral. In diesem kaum mit einem Sinneswandel von Janukowitsch zu rechnen, Fall ist der Missbrauch besonders anrüchig, weil die Moral wenn man der Ukraine die Europameisterschaft entzieht. Da eine solche Strafe zudem ein krasser Fall von Doppelals Machtmittel unmoralisch wirkt. Wenn die Bürger eine solche moral wäre und in ein Dilemma führte, sollte darauf verzichtet Absicht erkennen, ist die Enttäuschung groß. Barack Obama ist 2008 angetreten, die Welt besserzumachen. werden. Ob die Politiker in die Ukraine fahren und unter Er führte einen hochmoralischen Wahlkampf um die amerika- welchen Bedingungen, sollte jeder nach seinem Gewissen entnische Präsidentschaft, aber er konnte das nicht in Regierungs- scheiden. Mag man an einem Sportfest teilnehmen, während politik verwandeln. Das einer Demokratie unwürdige Gefan- die Kollegin Timoschenko im Gefängnis hockt? Mag man nur genenlager in Guantanamo gibt es immer noch, und man hat fahren, wenn man sie treffen kann? Es gibt da keine falschen insgesamt nicht den Eindruck, die amerikanische Politik habe Antworten, es sei denn, sie werden für Wahlkämpfe aussich grundsätzlich gewandelt. Die Welt ist nicht besser gewor- geschlachtet. W L GUIDO BERGMANN / BUNDESREGIERUNG / REUTERS D E R S P I E G E L 1 9 / 2 0 1 2 113 Kultur Dramatiker Pollesch: „Ich habe Nahweltbedarf“ REGISSEURE Heiliger Fabian der Netzwerke René Pollesch hat vor Jahren das politische Theater revitalisiert. Beim Berliner Theatertreffen zeigt er nun wieder eine mitreißende Show: Sie erzählt, wie soziale Medien die Welt verändern. em schönsten Theaterabend der Saison ist leider das Allerschönste verlorengegangen. Man sieht 14 junge Frauen und Männer in Turnertrikots Handstände und Salti vollführen, Räder schlagen und anmutige Figurentänze aufführen, man schaut dem Schauspieler Fabian Hinrichs bei aberwitzigen Akrobatik-Kunststücken und beim Ziehen eines Planwagens zu, und man hört ihn schlaue Dinge vortragen über die Kapitalisierung der Liebe und die seelische Kälte der Internetnetzwerke. Aber irgendwann sagt dieser Hinrichs dann diese drei unverschämten Sätze. „Wir haben die besten Szenen gestrichen. Ihr würdet sie nicht aushalten. Und wir auch nicht.“ „Kill your Darlings!“ ist ein Theaterabend von René Pollesch. „Kill your Darlings!“, das ist der Rat aller Schreibkurs-Lehrbücher an angehende junge Schriftsteller: Sie sollen ihre Lieblingssätze streichen. So ähnlich haben der Regisseur und sein Hauptdarsteller Hinrichs also angeblich das Beste aus ihrem Theaterabend herausgekippt. Egal, ob man das nun glaubt: „Kill your Darlings!“ ist ein mitreißender Beitrag zum diesjährigen Berliner Theatertreffen, das Ende vergangener Woche begann und bis zum 21. Mai wie jedes Jahr zehn herausragende Aufführungen aus Deutschland, Österreich und der Schweiz präsentiert. Polleschs Show, entstanden an der 114 D Berliner Volksbühne, ist auch der einzige tischen Eigenleistung des Autors. Was auf Theatertreffen-Abend, der sich unmittel- der Bühne zu hören ist, ist das Resultat bar mit der gesellschaftlichen Realität un- einer Lesewut, mit der Pollesch politische serer Zeit beschäftigt. „Kill your Dar- und philosophische Analysen in sich hinlings!“, Untertitel „Streets of Berladel- einschaufelt, erst beim Schreiben und phia“, macht in direkter Weise Facebook Proben wird aus dem Angelesenen und und andere Netzwerke zum Thema: in- Dazugedachten ein eigener Text. Für dem der Regisseur etwa ein Tanztheater „Kill your Darlings!“ hat Pollesch, so sagt aus schönen Körpern veranstaltet und er, sich unter anderem bei Ève Chiapellos einen Chor der Netzwerkkumpane ver- und Luc Boltanskis „Der neue Geist des sammelt um seinen Helden – die 14 Tur- Kapitalismus“ bedient. Mit deren Schrift nerinnen und Turner symbolisieren die hätten er und sein Hauptdarsteller zum sogenannten Freunde, mit denen man Beispiel jenen Satz begreifen gelernt, den Hinrichs von einer ziemlich guten Besich auf Facebook umgibt. „Du Netzwerk behauptest, du könntest kannten auf seine Freundschaftsanfrage Beziehungen führen. Aber das kannst du auf Facebook als Antwort bekommen gar nicht. Du bist zu viele“, schreit der habe: „Du bist mir ganz wichtig, aber ich Darsteller Hinrichs, während er im muss dir leider absagen.“ René Pollesch hat, seit er nach einer Schwarm der Turner durch den Raum jagt. Mit tatsächlicher menschlicher Nähe Ausbildung in Gießen und ein paar Jahhabe das, was man auf Facebook erlebe, ren der Arbeitslosigkeit Ende der neunnichts zu tun. „Das ist nur noch die Re- ziger Jahre in Berlin und Luzern seinen präsentation des Kapitalismus. Man hat Durchbruch hatte, das politische Theater uns nicht gefragt, man hat das Netzwerk neu belebt. Er ist der Erfinder und Großüber uns verhängt“, verkündet Hinrichs meister eines zornigen Diskurstheaters, und: „Ich brauche was Größeres. Ich habe in dem gewöhnliche Schauspieler stets die großen Fragen der Welt und ihres EinNahweltbedarf.“ „Kill your Darlings!“ ist nach grober, zellebens verhandeln, ohne sich umständaber realistischer Schätzung so ungefähr lich in Rollen einzufühlen. Begleitet von das 140. Theaterstück, das der Regisseur sorgfältig ausgesuchter Musik, umgeben und Dramatiker René Pollesch seit 1999 von Kulissen, die an die Western, Raumgeschrieben und aufgeführt hat. Es be- schiffserien und andere Trash-Mythen der ruht, wie fast alle Pollesch-Stücke, nur fünfziger bis achtziger Jahre erinnern, trabedingt auf der Gedankenarbeit und poe- gen sie mit Witz und Verve lauter FundD E R S P I E G E L 1 9 / 2 0 1 2 WINFRIED ROTHERMEL / DAPD „Kill your Darlings!“-Star Hinrichs Tanztheater aus schönen Körpern stücke vor: all das, was sie gemeinsam jüngster Zeit häuften sich Aufführungen, mit Pollesch herausgesiebt haben aus den in denen sich die Methode des Meisters Schriften von Philosophen wie Slavoj erschöpft zu haben schien. Denn die StärŽižek, Giorgio Agamben oder Jean-Luc ke von Polleschs großem Denktheater ist Nancy. Nancys Formel, man könne heute auch eine Schwäche: Es will nie zu Er„singulär Plural sein“, ist offenbar so gebnissen kommen, sondern es stellt imetwas wie ein Leitslogan für „Kill your mer nur zur Diskussion, es ist auch das Theater eines schamlosen Hochstaplers. Darlings!“. Pollesch, 49, hat es mit diesem Verfah- Ständig präsentiert es Fragen, schleudert ren ziemlich weit gebracht. Regelmäßig Zitate, Leitformeln, Kampfbegriffe in den inszeniert er im Wiener Burgtheater und Zuschauerraum, nie aber mündet die in den Münchner Kammerspielen, auch Merksatzschleuderei in eine Diagnose. in Hamburg und Frankfurt, aber sein Das Denken wird bei Pollesch zuverlässig Arbeitsmittelpunkt ist die Berliner Volks- dem Publikum überlassen. Die Ernüchterung folgte deshalb der Losung: außer bühne. Polleschs Stücke handeln von der Aus- Thesen nichts gewesen. Pollesch scheint sich der Krise bewusst beutung im Zeitalter der Globalisierung und von den Irrtümern der Zweierbezie- zu sein. „Eure ganz großen Themen sind hungswirtschaft, vom angeblichen oder weg!“ nannte er jüngst einen Abend in tatsächlichen Verlust der Individualität München. „Ich kann nur Themen bearund von der Frage, ob sich junge Schau- beiten, die mich selbst wirklich erreispielerinnen wirklich nackt auf der Bühne chen“, sagt Pollesch auf die Frage, warum zeigen sollten. Diese Stücke tragen Titel er sich erst jetzt mit Facebook beschäftige wie „Heidi Hoh arbeitet hier nicht mehr“ und wie er sich seine Stoffe suche. Anders oder „Schändet eure neoliberalen Biogra- als Journalisten kümmere es ihn nicht, phien“, „Liebe ist kälter als das Kapital“ „was gerade so in der Luft oder auf der oder „Ich schau dir in die Augen, ge- Straße liegt“. Wodurch aber unterscheidet sich „Kill sellschaftlicher Verblendungszusammenhang!“. Zweimal hat Pollesch bislang den your Darlings!“ nun von den vielen Mülheimer Dramatikerpreis gewonnen, mittelprächtigen Pollesch-Unternehmunmit dem das beste neue Stück eines Jah- gen der letzten Zeit? Unter anderem dadurch, dass der Abend einen klaren Aufres ausgezeichnet wird. Polleschs Theater jedoch hat diesen Er- trag hat: Er ist eine Auseinandersetzung folg nicht unbeschadet überstanden. In mit dem klassischen Theater Bertolt D E R S P I E G E L 1 9 / 2 0 1 2 Brechts. Pollesch und Hinrichs haben die Show einstudiert für ein Brecht-Festival an der Volksbühne. So steht auch ein Planwagen auf der Bühne von genau jener Art, wie ihn die Mutter Courage in Brechts Stück durch den Dreißigjährigen Krieg bugsiert, um ohne Rücksicht auf Verluste ihrem kriegerischen Geschäft nachzugehen. „Das Theater ist nicht der Ort, an dem Sender und Empfänger herumlaufen“, sagt Pollesch, dem Brechts pädagogische Absichten fremd sind. „Der Kapitalismus tritt heute als Netzwerk auf“ und „Es fehlt etwas, es reicht uns nicht“ lauten die immer wieder von der Rampe skandierten Kernsätze in „Kill your Darlings!“. Dazu spannt sich der Schauspieler Hinrichs irgendwann selber vor den Courage-Planwagen. Er zieht nicht durch die von Leichen übersäten Schlachtfelder des Dreißigjährigen Kriegs, sondern durch eine Landschaft aus lebendigen Menschenkörpern. So wie sich die Mutter Courage ihr Geschäft durch alles Leid partout nicht madig machen lassen will, stürzt sich Polleschs Einzelkämpfer Hinrichs nach jeder Abstoßungsreaktion des Schwarms in immer neue Netzwerkerformationen. Der heilige Fabian der Netzwerke wird von den Bühnenturnern, die auch mal „Chor der Kapitalisten“ genannt werden, wie ein Stück Ware von links nach rechts durchgereicht, er fläzt sich in die Menschenmenge, die sich mal zu einem Königsthron aus Menschenleibern formiert und mal zu einer Pyramide. „Kill your Darlings!“ ist tatsächlich ein unironisches Bekenntnis der Einsamkeit und der Erlösungssucht. Der Hauptdarsteller Hinrichs stellt sich immer wieder die Frage, warum er in so einer windelweichen Welt vegetieren muss, in der alles „Beziehungsskripten“ und Kinovorbildern folgt und die große Leidenschaft nicht vorgesehen ist. „Wir können nicht leben, wir können nicht lieben, wir können nicht sterben“, zetert er, „warum bringt sich eigentlich niemand mehr aus Liebe um?“ Hinrichs ist ein panischer Wandersmann auf der Suche nach dem großen Rausch, in dem die Glücksversprechungen des Kapitalismus endlich eingelöst werden. Genau diese Rauschvision beschwört Pollesch, der sonst stets alles in Zweifel zieht, in den großartigen Tanzszenen und den kitschigen Halluzinationen von „Kill your Darlings!“. Am Ende heißt es: „Glaubt ja nicht, das hätten wir für euch gemacht. Das haben wir nur für uns gemacht. Nur für uns. Macht es einfach selbst, für euch.“ Dann glühen rote Herzen auf. WOLFGANG HÖBEL BRESADOLA / DRAMA-BERLIN.DE 115 Kultur Geisteswissenschaftler Spaemann Ein Privatissimum in Dialogform PHILOSOPHIE Der Denker im Bürgerkrieg Ökophilosoph und Abtreibungsgegner, Freigeist und Papstfreund: Robert Spaemann ist auch im Alter von 85 Jahren der abenteuerlustigste Gelehrte des Landes. Von Matthias Matussek m gleich mit einem Missverständnis aufzuräumen: Natürlich ist der Philosoph Robert Spaemann nicht konservativ, sondern reaktionär. Und das im besten Sinne: Dieser feinsinnige Feuerkopf, der gerade seinen 85. Geburtstag feierte, versucht nicht, zu bewahren, was ist, sondern er geht zurück, immer wieder. Zurück zu Fragen, die, wie er sagt, in dem „überwältigenden Nihilismus dieser Tage“ als erledigt gelten, die aber nach wie vor ungelöst sind: Wie ist das mit der Achtung vor der Natur, was ist Wahrheit, was ist überhaupt wichtig im Leben? In Zeiten, in denen jeder mal eine Idee hat, hat Robert Spaemann Gedanken. Wo alle lärmend nach dem nächsten Motto suchen, sucht Spaemann unbeirrt nach dem, „was immer ist“. Und er tut es unter Missachtung aller Nützlichkeitserwägungen. 116 U Beispiel Umweltschutz. In der gerade erschienenen Gesprächs-Autobiografie „Über Gott und die Welt“ wundert er sich selber darüber, dass er eine Zeitlang regelrecht im Trend lag als „Ökophilosoph“. Damit honorierte der Zeitgeist Spaemanns besondere Hinwendung zur Natur, etwa als er auch dem Tier Schmerzfähigkeit zuerkannte. Doch der Flirt des grün-alternativen Trends mit dem Philosophen kühlte sich bald ab, als man erkannte, dass Spaemanns Sorge um die Natur und um Lebensschutz auch dem ungeborenen Leben galt. Der Naturrechtler Spaemann ist Abtreibungsgegner, und das ist nicht mehr links, sondern in manchen Kreisen schon rechtsextrem. Beispiel Atomkraft. Spaemann votierte als einer der Ersten dagegen, mit diesem Argument: „Es grenzt schon an Frivolität, zu behaupten, Gott habe gewollt, dass D E R S P I E G E L 1 9 / 2 0 1 2 wir die Bewohnbarkeit des Planeten für Jahrtausende verwetten, um jetzt unseren Lebensstandard zu erhalten.“ Das klingt so progressiv, als wäre es von der „Kirche von unten“ in einem Manifest formuliert worden. Da Spaemann aber gleichzeitig Berater und Freund des Papstes ist und gegen das Frauenpriestertum argumentiert, gilt er auch unter deutschen Katholiken als mittelalterlich. Im Ausland dagegen – er ist in 14 Sprachen übersetzt – gilt er neben Habermas und Sloterdijk als wichtigster deutscher Philosoph. Mal fortschrittlich, mal fortschrittskritisch, ein Platoniker in erster Linie, das heißt Philosoph in der ursprünglichsten Form: Er sucht jene Wahrheit, die sich hinter der sichtbaren Welt verbirgt, oder besser, die ihr vorausliegt. Doch daneben ist er überzeugt davon, dass Philosophen auch gegenwartsfähige Bürger sein sollten. „In Athen“, sagt er, „wurde jemand zum Tode verurteilt, wenn er in einem Bürgerkrieg nicht Partei ergriffen hatte.“ Auch das also ist Spaemann: freundlich im Ton, aber plötzlich blitzt die Klinge auf, ohne Vorwarnung, radikal und unbekümmert um politisch korrekte Etikette. Dann geht es in den philosophischen Straßenkampf wie 2006 beim Protest gegen das Ausstellungsverbot der „Jungen Freiheit“ auf der Buchmesse in Leipzig. Spaemann protestierte aus prinzipiellen Gründen. Der Staat, schrieb er, dürfe sich nicht an der Ächtung „verfassungskonformer politischer Positionen“ beteiligen, und warnte vor „liberalem Totalitarismus“. Dass dieser Freigeist nun die Summe seines Lebens ausgerechnet in Gesprächsform zieht, könnte nicht passender sein. Die „Zeit“ schrieb einst: „Wenn Sokrates’ Muttersprache Deutsch gewesen wäre, er hätte gesprochen, wie Spaemann schreibt.“ Das ist ein wenig ungenau, denn auch Spaemann spricht, wie Spaemann schreibt. So jedenfalls hat es der Journalist Stephan Sattler erfahren, der eine Art mündliche Autobiografie des Philosophen verfasst hat*. In zehn Kapiteln wird hier die Lust am Denken vorgeführt, werden die geistigen Schlachtordnungen abgeschritten – die Nazi-Zeit und die Auseinandersetzung mit Heidegger, die Studentenrevolte und die Kritische Theorie, die Flugblattkriege in München, die Professorentätigkeit in Stuttgart, die Besuche beim Papst, die Thesen der Hauptwerke „Glück und Wohlwollen“ und „Personen“. Ein Privatissimum in Dialogform, über Thomas von Aquins Ethik und die Naturlehre von * Robert Spaemann: „Über Gott und die Welt. Eine Autobiographie in Gesprächen“. Verlag Klett-Cotta, Stuttgart; 352 Seiten; 24,95 Euro. THEODOR BARTH / LAIF Kultur Aristoteles und die Frage: Was passiert mit dem Wahrheitsbegriff, nachdem Nietzsche den Tod Gottes erklärt hat? Immer wieder eingeschoben sind bisher unveröffentlichte autobiografische Skizzen, die die Entwicklung Spaemanns erhellen, besonders aus der frühen Zeit. Spaemann ist Jahrgang 27, gehört wie Grass und Walser und Ratzinger, wie Enzensberger und Habermas zur FlakhelferGeneration, zu jenen Uralten, die die geistige Biografie der Republik mitbestimmten und die Jungen heute damit nervös machen, dass sie sie mit Fragen konfrontieren, die eben noch längst nicht abgehakt sind. „Nächst Gott verdanke ich, wie mein Vater erzählte, meine Existenz der Malerin Käthe Kollwitz“, so beginnt Spaemann. In jenem Milieu der sozialistischen Berliner Boheme lernten sich die Eltern kennen, die dann dem mondänen Trubel und den politischen Parolen den Rücken kehrten und nach Münster zogen, um sich – auf der Suche nach dem, „was immer ist“ – der katholischen Kirche zuzuwenden. Die Mutter starb, als er neun war, einige Jahre später ließ sich der Vater zum katholischen Priester weihen, 1942, von Bischof Galen, dem NS-Gegner und Löwen von Münster. Seine erste große philosophische Frage fand Robert Spaemann in seinem Katechismus: „Wozu sind wir auf Erden?“ Spaemann ist nie in Gefahr, mit der neuen, der heillosen Zeit zu rennen. Der Glaube ist seine Gegenwelt, ist sein Anker. „Wenn die Gottesbeziehung das Wichtigste im Leben ist“, so sieht er es, „erzeugt das eine gewisse Standfestigkeit, eine Haltung, die einem ein weltlich liberales Elternhaus kaum vermitteln kann.“ Der junge Spaemann mogelte sich um den Fahneneid herum, litt aber, wie er berichtet, noch lange unter einem Moment der Feigheit – er protestierte nicht, als ein jüdischer, älterer Herr in der Straßenbahn von einem NS-Mann angepöbelt wurde. Da lässt sich nur ein Entschluss fassen: sich nie wieder der Mehrheit zu fügen, wenn diese gegen Wahrheit und Menschlichkeit verstößt. 1944 lernt er Cordelia kennen, ein jüdisches Mädchen, das bei den Ursulinen untergekommen ist. Sie wird später seine Frau, er wird mit ihr bis zu ihrem Tode 2003 verheiratet sein und drei Kinder in die Welt setzen – die Enkelin ist heute eine international erfolgreiche Cellistin. Nach dem Krieg ist er Marxist, was seinen Glauben nicht im mindesten beeinträchtigt. Im Gegenteil. Er ist vom historischen Materialismus tief beeindruckt und wird als Redaktionsmitglied der linkskatholischen Zeitschrift „Ende und Anfang“ zu einem „Deutschen Volkskongress“ nach Ost-Berlin geschickt. In den Abstimmungsritualen des Kongresses weicht er ab, Pieck poltert über 118 D E R S P I E G E L Bestseller Belletristik 1 (1) Jonas Jonasson Der Hundertjährige, der aus dem Fenster stieg und verschwand Carl’s Books; 14,99 Euro 2 (2) 3 (3) 4 (4) 5 (5) Suzanne Collins Die Tribute von Panem – Gefährliche Liebe Oetinger; 17,95 Euro Suzanne Collins Die Tribute von Panem – Tödliche Spiele Oetinger; 17,90 Euro Suzanne Collins Die Tribute von Panem – Flammender Zorn Oetinger; 18,95 Euro Jussi Adler-Olsen Das Alphabethaus dtv; 15,90 Euro 6 (9) Nicholas Sparks Mein Weg zu dir Heyne; 19,99 Euro 7 (6) Sarah Lark Die Tränen der Maori-Göttin Bastei Lübbe; 15,99 Euro 8 (–) Martin Walker Delikatessen Diogenes; 22,90 Euro Krimi-Schauplatz Périgord: Polizeichef Bruno muss sich mit militanten Tierschützern und Terroristen herumschlagen 9 (8) Jean-Luc Bannalec Bretonische Verhältnisse Kiepenheuer & Witsch; 14,99 Euro 10 Dora Heldt Bei Hitze ist es wenigstens nicht kalt dtv; 14,90 Euro 11 (17) Ursula Poznanski Fünf (7) Wunderlich; 14,95 Euro 12 (13) Jussi Adler-Olsen Erlösung dtv; 14,90 Euro 13 (10) Arne Dahl Gier Piper; 16,99 Euro 14 (–) Josephine Angelini Göttlich verloren Dressler; 19,95 Euro 15 (12) Moritz Netenjakob Der Boss Kiepenheuer & Witsch; 14,99 Euro 16 (11) Jussi Adler-Olsen Schändung dtv; 14,90 Euro 17 (15) Michael Robotham Der Insider Goldmann; 14,99 Euro 18 (14) Susanne Fröhlich Lackschaden Krüger; 16,99 Euro 19 (16) Marc Elsberg Blackout – Morgen ist es zu spät Blanvalet; 19,99 Euro 20 (18) Fred Vargas Die Nacht des Zorns Aufbau; 22,99 Euro 1 9 / 2 0 1 2 Im Auftrag des SPIEGEL wöchentlich ermittelt vom Fachmagazin „buchreport“; nähere Informationen und Auswahlkriterien finden Sie online unter: www.spiegel.de/bestseller Sachbücher 1 (–) Samuel Koch / Christoph Fasel Zwei Leben Adeo; 17,99 Euro Der querschnittgelähmte ehemalige Kunstturner über seinen Unfall bei „Wetten, dass ...?“ und die Bedeutung von Glück 2 3 4 5 6 7 (1) Philippe Pozzo di Borgo Ziemlich beste Freunde Hanser; 14,90 Euro (2) Rolf Dobelli Die Kunst des klaren Denkens Hanser; 14,90 Euro (3) Joachim Gauck Freiheit Kösel; 10 Euro (5) Hans-Ulrich Grimm Vom Verzehr wird abgeraten Droemer; 18 Euro (–) (4) Carsten Maschmeyer Selfmade Ariston; 19,99 Euro Norbert Robers Joachim Gauck – Vom Pastor zum Präsidenten – Eine Biografie Koehler & Amelang; 19,90 Euro 8 9 10 (6) Joe Bausch Knast Ullstein; 19,99 Euro (7) Jürgen Domian Interview mit dem Tod Gütersloher Verlagshaus; 16,99 Euro (9) Bill Mockridge Je oller, je doller Scherz; 14,99 Euro 11 (10) Hans Küng 12 (8) Jesus Piper; 19,99 Euro Harry Belafonte mit Michael Shnayerson My Song Kiepenheuer & Witsch; 24,99 Euro 13 (11) Wibke Bruhns Nachrichtenzeit Droemer; 22,99 Euro 14 (12) Walter Isaacson Steve Jobs C. Bertelsmann; 24,99 Euro 15 (18) Gunter Frank Schlechte Medizin – Ein Wutbuch Knaus; 16,99 Euro 16 (17) Thea Dorn / Richard Wagner Die deutsche Seele Knaus; 26,99 Euro 17 (13) Cid Jonas Gutenrath 110 – Ein Bulle hört zu – Aus der Notrufzentrale der Polizei Ullstein extra; 14,99 Euro 18 (20) Martin Wehrle Ich arbeite in einem Irrenhaus Econ; 14,99 Euro 19 (14) Heiner Geißler Sapere aude! Warum wir eine neue Aufklärung brauchen Ullstein; 16,99 Euro 20 (15) Adam Zamovski 1812 – Napoleons Feldzug in Russland C. H. Beck; 29,95 Euro D E R seine Gegenstimme, einer raunt: „Wozu bist du überhaupt hergekommen?“ „Stimmt“, sagt Spaemann und ist kuriert. Keine Systeme mehr, nie wieder Zwang! Was ist er nun, fragt Sattler, ein katholischer Philosoph? Nein, Spaemann protestiert mit Recht. Das wäre eine Verengung. Er ist freidenkender Philosoph, aber daneben strenggläubiger Katholik. Natürlich spielen diese Einstellungen für das Denken eine Rolle, aber das Gleiche besorgt der Atheismus schließlich für das Denken von Kollegen. Doch er denkt stets den Gegner und dessen Argumente mit: In Fribourg hört er Vorlesungen über Thomas von Aquin, aber auch die Systemtheorie eines Biologen, beides auf Latein. In Münster stößt er zum „Collegium Philosophicum“ um Joachim Ritter, das die konservative Antwort auf die linke „Frankfurter Schule“ um Horkheimer und Adorno bildet. Deren „Dialektik der Aufklärung“ begeistert ihn, was ihn nicht hindert, seine Promotion über einen frommen adligen Querkopf der Französischen Revolution, Louis-Gabriel-Ambroise de Bonald, zu schreiben und provokant den „Ursprung der Soziologie aus dem Geist der Restauration“ zu erklären. Einer wie Robert Spaemann weicht nicht zurück, als Studenten die Hörsäle stürmen in den späten sechziger Jahren. Er beantwortet die Flugblätter der marxistischen Gruppen mit eigenen, besser geschriebenen. Abends streitet er sich mit den Anführern darüber, wer wen im Falle einer Revolution erschießen sollte, aber als er den Ruf nach Heidelberg erhält, veranstaltet der Asta einen Fackelzug, um ihn zum Bleiben in Stuttgart zu bewegen. Aus jeder Seite dieses Gesprächs wehen den Leser die Abenteuerlust und die geistige Kampfbereitschaft dieses Gelehrten an, den es später nach Rio de Janeiro zieht, dann nach Salzburg und schließlich München, der den Papst in Castel Gandolfo berät, aber mit dem Boykott droht, als der unbequeme Johann Baptist Metz ausgeladen werden soll. Zwischendurch komische und bewegende Erinnerungen, etwa an einen Kaffee-Nachmittag mit dem Freund Heinrich Böll während der RAF-Hysterie, der von einem Sturmkommando der Polizei gestört wurde – man hatte die unbekannten Besucher beschattet. Aber auch eine Osternacht bei den Mönchen auf dem Berg Athos mit Meditationen über die Lithurgie. Beschlossen wird diese Buchkomposition mit einem funkelnden Essay über „Die zwei Interessen der Vernunft“, letztlich wieder über die Wahrheit. Ein besseres Geburtstagsgeschenk zum 85. hätte Robert Spaemann seinen Lesern nicht machen können. Es ist das Geschenk eines schöpferischen, unabhängigen Geistes. 1 9 / 2 0 1 2 S P I E G E L 119 Kultur Aufs Gemetzel hoffen KINOKRITIK: Sönke Wortmanns Film „Das Hochzeitsvideo“ beschreibt Eheschließungen als Horrortrip. chon die unterschiedlichen Antwor- Erfolgsfilme beruhen auf der Behauptung, und trumpft auf mit überraschenden Perten auf die Frage, wie man die ihre Bilder seien „found footage“, wie spektivwechseln, mit prachtvoll ausgeHochzeit plant, offenbaren einen der Fachbegriff lautet: von Laien gefer- leuchteten, sorgsam montierten Bildern. unlösbaren Widerspruch zwischen den tigtes Material, das sozusagen zufällig ans Obwohl der Film gelegentlich zurückGeschlechtern. Licht des Internets oder auf die Kinolein- kehrt zu Szenen, die angeblich nur der Warum nur verbringen viele Frauen wand gelangt ist, ohne Zutun des Urhe- die Kamera schwenkende Hochzeitsfilihr halbes Leben damit, sich die perfekte bers, der möglicherweise gar nicht mehr mer sah, ist es mit der Illusion, hier könnte alles ein maximal böses Ende nehmen, Feier vorzustellen, in der alles Harmonie unter den Lebenden weilt. und Tanzflächenseligkeit, FeuerwerksIn „Das Hochzeitsvideo“ spricht zu vorbei. Von nun an ist „Das Hochzeitsvideo“ himmel und Geigenschmalz ist? Beginn ein sympathischer junger Kerl Weshalb beschäftigen sich so viele namens Daniel, gespielt von dem Schau- ein Tischfeuerwerk der Sparwitze. Der Männer mit der Vorstellung, wie man so spieler Martin Aselmann, direkt in die Film begleitet die Braut zum Junggeseleine Heiratsparty spektakulär in die Luft Kamera. Er behauptet, er werde nun die linnenabschied mit Männerstrip, sieht ihjagen kann durch Enthüllungen, Suff- Hochzeit seines besten Freundes und die rem Hippie-Vater dabei zu, wie er einen Exzesse und Prügeleien? Hannes-Wader-Song auf Tatsache ist: Dieser Geder Gitarre klampft, und gensatz ernährt ein ganer lässt verkniffene Ariszes Genre der Kinokomötokraten über den Pöbel die, das wunderbar derbe schimpfen. Wortmanns Hollywood-Hits wie „Die Werk versinkt in einem Hochzeits-Crasher“ oder Chaos der Zoten und „Brautalarm“ hervorgeschon meilenweit vorher bracht hat. angekündigten Pointen. Auch in dem deutDer Regisseur zielt auf schen Film „Das Hochdas Popcornpublikum der zeitsvideo“ sind ein paar Multiplex-Kinos, der VerGeschmacklosigkeiten zu leih preist „Das Hochzeitsbesichtigen. Er erzählt video“ als „Achterbahnvon Pia (Lisa Bitter) und fahrt, die so schnell keiner Sebastian (Marian Kinvergisst“. Tatsächlich jagt dermann), sie eine StuWortmann seine jungen, dentin mit 68er-Eltern, er zum großen Teil bislang ein reicher Adelsspross. filmfremden Schauspieler Die beiden treten zur auf einen halsbrecheriHochzeitsfeier in einem schen Schleuderkurs und teuren Landhotel an. sieht ihnen dann ohne Szene aus „Das Hochzeitsvideo“ spürbare Emotion dabei Das Brautpaar trifft zu, wie sich ihre Gesichter auf einen Standesbeamzu Fratzen verzerren. ten, der beim Onanieren Er liebe Tierfilme, hat Regisseur Wortertappt wird; auf einen Ex-Freund der Vorbereitungen zum Fest festhalten. Braut, der als Pornodarsteller unter dem Dann legt er los mit wackligen Aufnah- mann verschiedentlich beteuert, es habe Namen „Carlos, die Keule“ sein Geld men des Brautpaars, eines Pfarrers, der ihn immer gereizt, sich selbst irgendwann verdient und seine Filme auf den Handys zwielichtigen Schnöseleltern des Bräu- mal in beobachtender Mimikry mit Tider Hochzeitsgäste vorführt; und es gibt tigams, und im Zuschauer keimt die Hoff- gern, Zwergwalen oder Murmeltieren zu eine endlos lange Oralsex-Szene, in de- nung, dass jetzt bald ein schlimmes Ge- beschäftigen. Die Art der Menschenbeobachtung in ren Verlauf sich die Braut derart übel metzel anheben könnte unter den vielen den Kopf stößt, dass sie eine Halskrause schönen, aber oft nervtötenden Figuren „Das Hochzeitsvideo“ zeigt, dass er diesem Ziel einen großen Schritt näher dieser Geschichte. tragen muss. Leider stellt sich ziemlich schnell her- gekommen ist: Er hat seine Helden und „Das Hochzeitsvideo“ ist angelegt als Horrorfilm. Er spielt eine Weile mit der aus, dass „Das Hochzeitsvideo“ doch sich selbst ganz schön zum Affen geFiktion, alles, was man hier zu sehen krie- nicht Daniels Werk ist, sondern ein Film macht. ge, sei aus Amateuraufnahmen zusam- des Kinoregisseurs Sönke Wortmann. Der WOLFGANG HÖBEL mengepappt. So etwas kennt der Kino- ist bekannt für Filme, die zuverlässig ein Video: Ausschnitte aus Wortzuschauer bisher aus Horrorwerken wie Millionenpublikum erreichen, ob sie manns „Das Hochzeitsvideo“ „Blair Witch Project“, „Rec“ oder „Para- „Der bewegte Mann“ (1994), „Das Wunnormal Activity“. Diese schreckenssatten der von Bern“ (2003) oder „Die Päpstin“ Für Smartphone-Benutzer: (2009) heißen. Hier schubst Wortmann Bildcode scannen, etwa mit Kinostart: 10. Mai. plötzlich den Erzähler Daniel zur Seite der App „Scanlife“. 120 D E R S P I E G E L 1 9 / 2 0 1 2 CONSTANTIN FILM S Prisma Virenforscher im Hochsicherheitslabor Burger: Es gibt eine australische Publikation, die zeigt, dass bei Versuchen mit Mausviren zufällig ein aggressiverer Erregertyp entstanden ist. SPIEGEL: Wer befindet in Deutschland darüber, ob bei wissenschaftlichen Studien die Gefahr besteht, dass sie von Terroristen für ihre Zwecke missbraucht werden könnten? Burger: Bislang ist dieser Aspekt nicht ausreichend berücksichtigt worden. Entscheidend ist daher, dass die Wissenschaftler sensibilisiert werden, eine Missbrauchsgefahr frühzeitig zu erkennen und diese möglichst zu reduzieren. SPIEGEL: Muss die Wissenschaft sich bei riskanten Versuchen selbst beschränken, etwa wenn es darum geht, einen HIV-Erreger zu bauen, der über die Atemluft übertragbar wäre? Burger: Bei diesem extremen Beispiel wäre das angebracht. SPIEGEL: In welchen Fällen würden Sie eine Veröffentlichung ablehnen? Burger: Vor einiger Zeit gab es eine Studie, die untersucht hat, wie sich eine Verseuchung von Milch mit Botulinumtoxin auswirken würde. Der Erkenntnisgewinn war zu gering, als dass man dafür Menschen mit schlechten Absichten inspirieren sollte. SEUCHEN Burger: Es entspricht unserer Empfeh- „Nichts für Garagenterroristen“ Der Präsident des Robert Koch-Instituts Reinhard Burger, 62, über das BiowaffenPotential von genmanipulierten Vogelgrippe-Viren SPIEGEL: Zwei Forschergruppen dürfen nach langem Streit veröffentlichen, wie sie hochansteckende Grippeviren erschaffen haben. Zu Recht? MACDOUGALL / AFP lung, solche Studien nicht zu unterdrücken. Denn sie helfen zu verstehen, wie man gefährliche Mutationen der Influenza-Erreger erkennt, ehe es zu spät ist. Dieser Nutzen überwiegt das Risiko, dass das Wissen missbraucht werden könnte. Garagenterroristen können mit diesen Publikationen sowieso nichts anfangen. SPIEGEL: War die Debatte übertrieben? Burger: Nein. Denn sie hat uns gelehrt, dass wir schon am Beginn solcher Studien das Missbrauchsrisiko abschätzen müssen. SPIEGEL: Können nicht auch später im Labor Überraschungen entstehen? ROBOTIK BERND KAMMERER / AP ARCHÄOLOGI E Ersatzteile aus Zaubersand Würfelzucker, die mit SpezialmagneSpezielle Sandkörner könnten sich in ten ausgerüstet waren. Eines Tages Zukunft wie von Geisterhand gesteuaber dürften auch sandkorngroße Körert zu jedem nur denkbaren Gegenper über entsprechende Fähigkeiten stand zusammensetzen. Einer Vision verfügen, meint Mikrorobotikexperte von US-Robotikexperten zufolge reicht Robert Wood von der Harvard Unies dazu, Miniaturvorlagen der Objekte versity: „Die bisherigen Würfel könin einem mit dem Sand gefüllten Benen an ihre Nachbarn andocken, Bothälter zu versenken – wenig später schaften austauschen und rudimentäre würden in dem Zauberkasten exakte Rechnerarbeit leisten – das ist nichts, Duplikate oder maßstabsgetreue Verwas man sich nicht auch in viel kleinegrößerungen der Modelle entstehen: rem Maßstab vorstellen könnte.“ „Nehmen Sie zu Bruch gegangene Autoteile“, erklärt US-Forscherin Kyle Gilpin vom Massachusetts Institute of Technology. „Man klebt sie mit Plastikband wieder zusammen, legt sie in das System und bekommt neue Teile.“ Erfolgreich getestet haben die Forscher diesen Verwandlungsprozess bisher allerdings nur zweidimensional und mit vergleichsweise großen Bauelementen: Quadern in der Größe von Mit Spezialmagneten ausgerüstete Würfel 122 D E R S P I E G E L 1 9 / 2 0 1 2 Maulwürfe als Helfer Whitley Castle, ein römisches Fort in Nordengland, unterliegt dem Denkmalschutzgesetz – und das verbietet dort Grabungen. Deshalb freuen sich die Forscher über ein Heer kleiner Hilfskräfte: Maulwürfe. Da die Tiere keine Gesetze lesen können, wühlen sie beharrlich römische Artefakte an die Oberfläche. Im April siebten drei Dutzend Hobbyarchäologen unter den strengen Augen der Aufsichtsbehörde English Heritage die Maulwurfshügel durch – und förderten römisches Tischgeschirr, ein Stück wertvoller Tafelkeramik und die Perle einer Halskette zutage. Schon im vergangenen Jahr hatte ein Maulwurf ein delphinförmiges Bronzestück aus dem Erdreich gebuddelt, wahrscheinlich der Handgriff eines antiken Wasserhahns. Mit ihrer Arbeit helfen die Tiere auch, wichtige wissenschaftliche Fragen zu beantworten. So fanden die Archäologen jede Menge Nägel in der Maulwurfserde. Damit ist wahrscheinlich: Die Römer bauten die Gebäude ihres Außenpostens nicht aus Stein, sondern aus Holz. M. SCOTT BRAUER Wissenschaft · Technik Crashtest für TV-Sender In einer mexikanischen Wüste hat der Dokumentationssender Discovery Channel eine alte Boeing 727 abstürzen lassen. Der Pilot sprang Minuten vor dem Aufschlag mit dem Fallschirm ab. Kameras an Bord und auf dem Boden zeichneten das Experiment auf. ARTENSCHUTZ Suche nach dem asiatischen Einhorn Mit Kamerafallen nach seltenen Tierarten zu fahnden ist ein mühseliges Geschäft. Jetzt aber verfügen Zoologen über eine viel einfachere und wirksamere Methode: Sie brauchen nur Blutegel einzusammeln und deren Mageninhalt nach Säugetier-DNA zu durchforsten. Erste Tests mit Blutschmarotzern aus dem vietnamesischen Gebirge Truong Son waren ein durchschlagender Erfolg. Ein dänischbritisches Team konnte in den Mahlzeiten der Blutegel DNA-Spuren von mehreren seltenen Tierarten identifizieren. Der Chinesische Sonnendachs, der Miniaturhirsch Annam-Muntjak und das auffällig gezeichnete Annamitische Streifenkaninchen waren zum Beispiel darunter. Jetzt soll der Blutegel helfen, das erst 1992 entdeckte Vietnamesische Waldrind aufzuspüren, das wegen seiner Seltenheit von manchen Forschern auch als „asiatisches Einhorn“ bezeichnet wird: „Die Methode ist sehr vielversprechend, so dass wir das Tier sicher bald nachweisen können“, glaubt Nicholas Wilkinson von der University of Cambridge. Die von den Artenschützern in Dienst genommenen Blutsauger kommen an Land wie im Wasser vor. DNA von Wirtstieren hält sich in ihrem Magen vier Monate, möglicherweise sogar mehr als ein Jahr lang. T. MARENT/MINDEN PICTURES/CORBIS MEDIZIN Livebilder aus der Lunge Australische Bio-Ingenieure haben ein Verfahren zur Beurteilung der Lungenfunktion entwickelt, das sich auch zur Früherkennung von Lungenkrebs eignet. Bei der neuen Methode wird die Lunge mit Röntgentechnik live bei der Arbeit gefilmt. Auf den bewegten Bildern lässt sich nach Angaben der Forscher mit bisher unerreichter Detailgenauigkeit ablesen, ob Teile des Atemorgans geschädigt sind und ob die Elastizität des Lungengewebes gelitten hat: „Wir haben es zum ersten Mal geschafft, den Luftstrom bereits innerhalb der Lunge zu messen“, erklärt Teammitglied Andreas Fouras von der Monash University bei Melbourne. Bei Tierversuchen bewährte sich das Verfahren, wie die Experten im „Journal of the Royal Society Interface“ berichten. Auch bei Lungenemphysemen und Asthma könnten die Livebilder hilfreich sein. Allerdings ist die Strahlenbelastung derzeit noch zu hoch. Mit einem beim Menschen einsetzbaren Prototyp rechnen die Forscher deshalb erst in fünf Jahren. 123 Blutegel D.HULSE / WILDLIFE / PICTURE ALLIANCE / DPA Vietnamesisches Waldrind D E R S P I E G E L 1 9 / 2 0 1 2 VANCE JACOBS 2012 124 Titel Planet der Freundschaft Kaum ein Jugendlicher kommt mehr ohne Facebook durchs Leben. Manche Eltern melden schon Neugeborene an. Gelingt dem Datensammler-Konzern die freundliche Übernahme einer ganzen Generation? ls der kleine Louis auf Facebook zur Welt kam, war seit Tagen schon alles vorbereitet für das Ereignis: Der Vater hatte den Sohn im Netzwerk angemeldet, ein Online-Profil erstellt, die Personalien eingetragen. Nur das Geburtsdatum fehlte noch. Bald darauf nahm die Mutter in einer Hamburger Gebärklinik ihren Neugeborenen in den Arm. Es war ein kühler, nebliger Herbsttag des Jahres 2010. Der Vater füllte feierlich das Datumsfeld aus. Noch rasch ein Foto dazu, und der nunmehr jüngste Netzbürger begann sein Dasein auf dem Planeten Facebook. Die Eltern, beide Studenten, wollten ihren Jungen von Anfang an dabeihaben im sozialen Netzwerk, im Kreis der Freunde, der Familie. Alle sollten Anteil nehmen können an seinem Leben, dem ersten Weihnachtsfest, dem ersten Tag in der Kita, dem lustigen Faschingsfoto, Louis im Piratenkostüm. „Die Oma schreibt immer fleißig Kommentare“, sagt die Mutter. „Auch zwei Tanten lesen mit.“ Louis ist jetzt anderthalb Jahre alt, und seine Chronik bei Facebook füllt sich stetig. Der Kleine wächst auf als Teil eines Netzwerks, das bereits 901 Millionen Nutzer umfasst. Er ist „on“ seit dem ersten Tag seines Lebens. Wird er sich einmal vorstellen können, wie die Menschen früher zurechtkamen, ohne Facebook? Vermutlich nicht – sehr zum Vorteil von Mark Zuckerberg. Der Gründer von Facebook wird sein Unternehmen voraussichtlich in der nächsten Woche an die Börse bringen. Der Marktwert wird auf 60 bis 96 Milliarden Dollar taxiert. In dieser Zahl steckt die Erwartung sagenhafter Gewinne (siehe Grafik Seite 127). Soll sie wahr werden, müssen noch mehr und immer mehr D E R S P I E G E L 1 9 / 2 0 1 2 A Menschen ihr halbes Leben im sozialen Netz verbringen. Am besten von Geburt an, wie Louis. Aber da gibt es auch noch Paul. Keine drei Monate nach Louis’ Geburt begann im hessischen Bad Soden eine andere Geschichte, nicht ganz so entzückend: Paul, 17 Jahre alt, war gerade in der Stadt unterwegs, als ihn eine Freundin ansprach: Wie er dazu komme, sie auf Facebook nach ihrer Körbchengröße zu fragen. Diese angebliche Wette mit den Kumpels, wer die meisten Mädchen schafft – das solle sie ihm abnehmen? Wette? Körbchengrößen? Paul begriff gar nichts. Zu Hause konnte der Junge sich plötzlich nicht mehr in sein eigenes FacebookProfil einwählen, das Passwort sei falsch. Da ging ihm langsam auf, was geschehen war: Jemand hatte seinen Zugang gekapert, sich eingeschlichen und das Passwort umgestellt. Nun sabberte der Einbrecher, getarnt als Paul, die Mädchen in seinem Freundeskreis an. Paul beschwerte sich bei Facebook – vergebens. „Ich bekam immer nur die gleiche vorgefertigte E-Mail“, sagt er. Was tun? Nach mehreren Anläufen gab er auf. Er legte ein neues Profil an, warnte die Freunde vor dem zweiten, dem falschen Paul. Er fing an, sich an eine ziemlich verrückte Vorstellung zu gewöhnen: das Leben mit einem Doppelgänger. Im August vergangenen Jahres läuteten Polizisten bei Pauls Eltern. Die Mutter einer 14-Jährigen hatte Anzeige erstattet wegen eines Sexualdelikts. Paul habe ihre Tochter in einen anzüglichen Chat verwickelt. Die Kripo präsentierte einen dicken Ordner: die Protokolle des Geplauders mit dem vermeintlichen Paul. Das Mädchen hatte ihm schließlich auch Nacktbilder von sich geschickt. Pauls Mutter erstattete Anzeige gegen unbekannt. Ge125 Titel In einer anderen Liga Vor dem Börsengang gibt es Zweifel, ob Facebook die hohen Erwartungen erfüllen kann. Die meisten Fragen wird Zuckerenn Facebook wie geplant Gleichzeitig kommen bei den Werbeam 18. Mai an die Börse berg wohl zur Entwicklung der Werbe- kunden Bedenken auf, ob all die Milgeht, dann ist das ein Zei- einnahmen beantworten müssen. lionen wirklich gut investiert sind. Bei chen seltener Selbstsicherheit. Jedes Denn damit macht Facebook den Facebook und anderen Netzwerken andere Unternehmen hätte es sich Großteil seines Umsatzes: gut drei Mil- zu werben gelte als sexy, und deswemindestens zweimal überlegt, ob aus- liarden Dollar im vergangenen Jahr. gen hätten sich die Unternehmen gerechnet jetzt der richtige Moment Zum Vergleich: Google nahm mehr ohne großes Nachdenken darauf gefür den Börsengang ist. Denn erstmals als 36 Milliarden Dollar mit Werbung stürzt, sagte Martin Sorrell, Chef des zeigen viele wirtschaftliche Daten des ein. An der Börse ist Google mehr als weltgrößten Werbekonzerns WPP, im sozialen Netzwerks nicht steil nach das Vierfache seines Werbeumsatzes März. WPP-Kunden würden dieses Jahr für rund 400 Millionen oben – sondern eher in die geDollar bei Facebook werben. genteilige Richtung. Doch mit steigendem Einsatz Der Gewinn fiel im ersten werde nun hinterfragt, was am Quartal gegenüber dem VorEnde dabei rumkommt. jahreszeitraum um 12 Prozent auf 205 Millionen Dollar. Die Die Marktforschungsfirma Gewinnmarge schrumpfte von eMarketer etwa wies jüngst in 53 auf 36 Prozent. Das Umeiner Studie darauf hin, dass satzwachstum sank von 154 bislang weitgehend unklar sei, Prozent im Jahr 2010 auf 88 wie sich die Werbeeinsätze bei Prozent im vergangenen Jahr sozialen Medien für Unternehauf nun 45 Prozent im ersten men konkret auszahlten. Quartal. Die Kosten dagegen Für Facebook sprechen allerhaben sich mit 677 Millionen dings die Erfahrungen des USDollar in den ersten drei MoAutobauers Ford. Der verzichnaten fast verdoppelt. tete bei der Markteinführung Als Facebook diese Daten eines neuen Modells auf FernMitte April verkündete, waren sehspots während des Super sich viele Beobachter an der Bowl 2010 und warb stattdessen Wall Street einig: Das soziale auf Facebook. Die Nachfrage Netzwerk werde seine Premienach dem beworbenen Ford re an der Technologiebörse Explorer sei um 104 Prozent geNasdaq sicher verschieben, bis stiegen, statt der üblichen 14 es wieder bessere WachstumsProzent nach Super-Bowl-Werdaten zu verkünden gibt. bung, so das Unternehmen. Schließlich soll der BörsenDoch Investoren und Börgang von Facebook der größte senexperten beurteilen die in der Geschichte des InterAussichten für Facebook zunets werden, der über zehn Gründer Zuckerberg: Rekordverdächtige Bewertung nehmend kritisch. „Wir sehen Milliarden Dollar einbringen sich verlangsamendes Wachskönnte. Und auch die Bewertung ist wert. Sollte Facebook tatsächlich mit tum, und das ist niemals gut“, warnt rekordverdächtig: Zwischen 60 und 96 über 90 Milliarden bewertet werden, Lou Kerner, Gründer des InvestmentMilliarden Dollar soll das acht Jahre wäre es das 30fache der Werbeein- fonds Social Internet Fund, der in sonahmen. alte Unternehmen wert sein. ziale Medien investiert. Bislang waren die Investoren davon Noch dazu hatte Facebook erst vor Facebook habe nichts zu suchen in wenigen Wochen für eine Milliarde ausgegangen, dass Facebook einfach derselben Liga wie Apple, Google Dollar den Foto-App-Anbieter Insta- so schnell wie bisher weiterwachsen oder Amazon, warnt das an der Wall gram übernommen – für doppelt so werde, um dann schon irgendwann Street vielbeachtete Finanzblog „The viel, wie das 13-Mann-Unternehmen die hohen Erwartungen zu erfüllen: Street“. Die Finanzexperten von Mareigentlich bewertet wurde. Manche Nach Expertenberechnungen müsste ket Watch erwarten sogar eine „gloBeobachter werteten die teure Über- das soziale Netzwerk bis 2022 jedes bale Bären-Attacke“ kritischer InvesJahr um 34 Prozent wachsen, um die toren auf Facebook: Das soziale Netznahme als Zeichen von Schwäche. Aber die Unternehmensführung Bewertung zu rechtfertigen. Doch in werk sei „völlig über-hyped“. Und um Mark Zuckerberg hat sich vorge- den ersten drei Monaten des Jahres nach der Aufregung des ersten Börnommen, bei einer in dieser Woche ging der Werbeumsatz im Vergleich sentags werde seine Aktie eine unter stattfindenden Werbetour für Investo- zum vorigen Quartal sogar um 7,5 Pro- vielen sein. zent zurück. ren alle Bedenken zu zerstreuen. THOMAS SCHULZ PAUL SAKUMA / DAPD W 126 D E R S P I E G E L 1 9 / 2 0 1 2 2011 3,7 Arbeitszeit im Wert von Milliarden $ 26,8 Mrd. € verlieren deutsche Unternehmen jährlich, weil ihre Mitarbeiter während der Arbeitszeit Facebook privat nutzen. Hochrechnung; Quelle: YouCom 107 $ beträgt der Wert eines Nutzerprofils bei Facebook. Basierend auf dem möglichen Börsenwert von 96 Mrd. $ und 901 Mio. Nutzern. 1 Mrd. $ Nettogewinn machte Facebook im Jahr 2011 – mit nur gut 3000 Mitarbeitern. Quelle: Facebook kostet die Vermittlung von 10000 Facebook-Fans über die Website „Fanslave“. Stand: 4. Mai Quelle: Fanslave 619 € Produktmarken mit den meisten Facebook-Fans in Millionen Stand: 4. Mai; Quelle: Fan Page List Rund des Umsatzes 2011 stammen aus der Werbung. Coca-Cola YouTube Umsatz 2004 85% Red Bull Converse All Star Starbucks 28,0 29,9 29,9 41,6 57,0 382000 $ fasst ist der Doppelgänger bis heute nicht. Bei Facebook sei so etwas schwierig, sagt die Kripo. Paul hält sich heute wohlweislich zurück mit dem Teilen und Mitteilen auf Facebook. Er macht dort nicht mehr als nötig: Er plaudert mit den Freunden, verabredet sich über die Chat-Funktion. Aber er nutzt kaum eine der zahllosen „Apps“, dieser kleinen eingebauten Programme, die dazu verlocken, noch mehr Zeit „on“ zu verleben. Paul hat sein Netzwerk gesundgeschrumpft. Für ihn ist es fast wieder die alte Freundeszentrale, die Facebook mal war, ehe das ganz große Geld in Reichweite kam. Er ist, mit einem Wort, kein besonders ergiebiges Mitglied mehr. Soll Facebook aber wirklich fast 100 Milliarden Dollar wert sein, wird jedes Mitglied seinen Teil beisteuern müssen: durch freizügiges Ausstellen seiner Vorlieben und Sorgen, seiner Absichten und Taten, möglichst rund um die Uhr und an jedem Tag des Jahres. Die Nutzer bezahlen nicht mit Geld, sondern mit der Datenspur ihres Lebens. Stets deren Ausbeutung im Blick, ändert die Firma häufig das Kleingedruckte; meist ist es hinterher um die Privatsphäre der Nutzer wieder etwas schlechter bestellt. Bislang ist Facebook damit fast immer durchgekommen. Denn vor allem junge Menschen finden das Netzwerk unwiderstehlich praktisch. Wer wissen will, warum die Menschen in Scharen zu Facebook ziehen, muss sich dementsprechend bei der Jugend umhören. Sie ist schon deshalb die Vorhut, weil in ihrer Lebensphase das Soziale im Vordergrund steht. Gerade Pubertierende schöpfen besonders begierig aus, was das Medium bietet. Der Zauber aber wirkt, wenngleich etwas milder, auch auf die Älteren, das belegen die Zahlen. Pro Sekunde kommen bei Facebook schätzungsweise sieben neue Mitglieder hinzu; wenn es so weitergeht, ist im September die Milliarde voll. Dennoch, die Firma muss damit rechnen, dass die Stimmung eines Tages kippt. Wenn es den Leuten zu mulmig wird, sind sie auch schnell wieder weg. Deshalb ist es gut, wahrscheinlich sogar entscheidend fürs Geschäft, wenn sie schon in jungen Jahren einsteigen. Am besten ist es, wenn sie, wie Louis, ihr Leben gleich als Mitglied beginnen. Dann sehen sie alles lockerer. den“, sagt Jennifer, „der sein Profil noch frei zugänglich hält.“ Auch viele jüngere Mitglieder sind bereits erstaunlich gewitzt, wie die große Studie „EU Kids Online“ zeigt. Kinder aus 25 Ländern Europas nahmen daran teil, alle zwischen 9 und 16 Jahre alt. Der Befund: Fast drei Viertel der Befragten haben den Zugang zu ihrem Profil bei einem sozialen Netzwerk eingeschränkt. Knapp zwei Drittel der Kinder ab elf Jahren wissen obendrein, wie sie Leute aussperren, von denen sie mit Gehässigkeiten oder anzüglichen Bildern belästigt werden. Gerade noch galt Facebook als Rummelplatz der Freizügigkeit und der Selbstentblößung. Und nun rasseln allenthalben die Rollläden herunter. Paul war auch mal naiv, ein begeisterter Netzwerker, wie ihn sich Datensammler nur wünschen können. Er erinnert sich an ein Erlebnis, das zeigt, wie es um ihn stand: Paul saß bei seinem Freund Max; sie wollten einen gemeinsamen Bekannten besuchen. Nur leider ging der nicht ans Handy. Also schrieben sie ihm Nachrichten auf Facebook, vergebens, es kam keine Antwort. Es dauerte eine ganze Weile, bis ihnen einfiel: Der junge Mann wohnt ja im selben Haus, zwei Treppen tiefer. Warum nicht einfach an der Tür klingeln? Die Jungs lebten damals wie in einem Traum: die Freunde stets am Bildschirm verfügbar, man sieht jederzeit, wer gerade „on“ ist – ein Klick, und die Verbindung steht. Die wirkliche Welt dagegen, die alte Welt der Dinge, schien 127 Der Kampf um die Jugend Doch die Nutzer werden wachsamer. Längst sind sie nicht mehr so naiv wie in den wilden Urzeiten der sozialen Netzwerke. Ein gesundes Misstrauen geht um auf Facebook. Das beobachtet auch Jennifer, die Mutter von Louis. Kürzlich zum Beispiel wollte ein Freund alle Bewerber für eine Lehrstelle erst einmal auf Facebook inspizieren – ganz der notorisch neugierige Personalchef also. Doch die Erkundungstour endete allseits vor verriegelten Profilen. Sämtliche Bewerber hatten ihre Daten auf privat gesetzt. „Ich kenne niemanD E R S P I E G E L 1 9 / 2 0 1 2 Welche persönlichen Daten Jugendliche am häufigsten im Internet preisgeben Basis: 1188 Internetnutzer von 12 bis 19 Jahren; Quelle: Jim-Studie 2011 Info über Hobbys 73% 65% 46% 40% 2010 72% der 11- bis 16-jährigen Internetnutzer wissen, wie sie die Privatsphäre-Einstellungen ihres sozialen Netzwerks ändern können; 64% sind in der Lage, unerwünschte Nachrichten zu blockieren. Quelle: EU Kids Online II 56% Eigene Fotos und Filme E-Mail-Adresse Fotos und Filme von Freunden und Familie 37 % 2011 Wen Kinder ihr Profil in sozialen Netzwerken sehen lassen nur Freunde nur Netzwerkmitglieder keine Einschränkung 43% 28% 26% 78%Community-Profil der Mädchen würden ihr auf keinen Fall verkaufen (Jungen: 58%). Quelle: Jim-Studie 2011; Basis: 1041 Nutzer von Online-Communitys von 12 bis 19 Jahren Anteil der 12- bis 19jährigen Internetnutzer, die bei Facebook angemeldet sind Quelle: Jim-Studie 2011 An 100 fehlende Prozent: „weiß nicht“ Basis: 9- bis 16-Jährige mit Profil in sozialen Netzwerken Quelle: EU Kids Online II in eine irreale Ferne entrückt. Niemand die USA, um das Online-Leben der Teenager zu erforschen. 165 ausführliche Invermisste das finstere Offline-Zeitalter. Dann aber kam der Tag, an dem Paul terviews hat sie geführt. Boyd fand herauf seinen Doppelgänger traf, und damit aus, dass viele Jugendliche heute Facebegann ein Bildungsroman, wie ihn so book verlassen, wenn sie mal unter sich drastisch nicht jeder erlebt. Aber auch sein wollen. Sie wechseln dann auf anseine Freunde, sagt Paul, hätten viel ge- dere Kanäle: E-Mail, Textnachrichten, Skype. Facebook ist eher das Medium für lernt in den vergangenen Jahren. Auch sie beherrschen Facebook heute das, was alle angeht. Eine Art Radio, das einigermaßen unfallfrei; sie achten auf in die große Runde funkt. Viele junge Mitglieder verwalten dort ihre Einstellungen und passen auf, dass ihnen kein Zwist entgleist. Persönliche riesige Freundeskreise, etliche hundert Dinge werden ohnehin kaum mehr vor Köpfe stark, darunter oft die halbe Schule. Publikum besprochen. „Das ist bei uns Kein Wunder, dass sich das Bedürfnis inzwischen die Norm“, sagt Paul. „Wenn nach kuscheligen Kleingruppen und Clies privat wird, heißt es: runter von der quen dann andere Nischen suchen muss. Facebook ist nicht mehr das Refugium Plattform!“ Sogar die kleine Melisa, 13 Jahre alt, des unbehelligten Herumhängens. ObenMittelschülerin in Augsburg, hat schon drein sind viele Eltern ja auch schon da – ihre Prinzipien. Melisa ist Mitglied seit und, schlimmer noch, die Lehrer. Martin Kurz unterrichtet an der Geihrem zehnten Lebensjahr; sie weiß auswendig, dass sie 367 Freunde hat, und samtschule im hessischen Langen. Auf muss auch keine Sekunde überlegen, was Facebook ist er seit Jahren zugange, und sie morgens als Erstes macht: „Isch geh er bekommt da einiges mit von seinen Schülern – manchmal auch mehr, als desofort Facebook.“ Dafür steht Melisa jeden Tag um sechs nen lieb ist. „Wenn einer online jammert, Uhr auf, eine Stunde früher als nötig. Am im Unterricht sei es gerade so langweilig, Computer öffnet sie ein Chat-Fenster, die bitte ich ihn natürlich am nächsten Tag Freundinnen sind auch schon zugange: zu mir ins Büro“, sagt Kurz. So lernen die Jugendlichen, dass sie Was machst du nach der Schule? Mit der Mama einkaufen? Wirklich? All das fin- die Plattform nicht für sich haben. „Im det sie „so interessant“, sie kriegt nicht Grunde finden sie das ja auch gut“, glaubt genug davon. Aber sie zieht eine klare Kurz. Beweis: Mehr als 600 Schüler haben Grenze: „Ich streite nicht auf Facebook“, ihm bereits ihre Facebook-Freundschaft angetragen. „Vor zwei Jahren“, sagt er, sagt Melisa. „Da lesen ja alle mit.“ Das passt zu aktuellen Befunden der „wäre das noch undenkbar gewesen.“ Wer die ungestümen Anfangszeiten amerikanischen Sozialforscherin Danah Boyd. Seit sechs Jahren reist sie durch des Netzwerks kennengelernt hat, erlebt 128 D E R S P I E G E L 1 9 / 2 0 1 2 nun staunend, wie sich Regeln und Sitten bilden und die Vorsicht zur ersten Tugend wird – ganz wie es sich gehört für einen halböffentlichen Raum. Lehrer Kurz deutet das so: „Der Neuigkeitseffekt ist vorbei, Facebook ist Alltag.“ Die Jugend, so scheint es, bekommt die Sache allmählich in den Griff. Viele wissen jetzt, wo sie ihre Häkchen setzen müssen, um Späher und unerwünschte Mitleser auszusperren. Sie fühlen sich sicher. Ebendas aber sei ein fataler Trugschluss, glaubt Netzforscherin Boyd; sie spricht von einer „Kontrollillusion“. Die Mitglieder sperren ja nur ihresgleichen aus, nicht aber den großen, unsichtbaren Mitleser im Hintergrund, die Firma Facebook. Die Jüngsten verstehen ohnehin noch nicht, was daran heikel sein soll. Und die Älteren? Ihnen wird irgendwann klar, dass sie sich einer Datensammelmaschine ausliefern. Aber darum auf Facebook verzichten? Schafft das noch jemand? Angst vorm Abschalten Teresa, 18, besucht gerade ein internationales College im britischen Bournemouth. Nach der Schule schaltet sie als Erstes den Computer ein, Startseite Facebook. Sie guckt, was es Neues gibt im Freundeskreis, dann schreibt sie vielleicht etwas ins Chat-Fenster. So geht das bis zur Schlafenszeit, meist nebenher, während sie andere Dinge tut – ein lebensbegleitendes Programm. In der nächsten Zeit jedoch muss Teresa aufpassen, denn bald beginnen die Abschlussprüfungen. Titel Facebook-Nutzerin Gloria (r.), Freundin: „Du bist so schön, ich will dich kennenlernen“ Sie wird ihr Facebook-Passwort dann einem Freund verraten. Der soll es ändern und erst zwei Monate später herausrücken. Es ist wie bei einem Alkoholiker, der den Schlüssel zum Schnapsschrank abgibt. „So machen es jetzt viele“, sagt Teresa. Sharon aus Bad Soden, eine Freundin von Paul, erprobte gerade den Entzug aus eigener Kraft. Sie nutzte dafür die Fastenzeit: 40 Tage ohne Facebook. Sharon, 16 Jahre alt, hatte es satt, dass selbst Alltägliches ohne Facebook nicht mehr machbar schien: das Referat mit dem Mitschüler, die Treffen der Tanzgruppe – alle Absprachen liefen über die Plattform. Und siehe da, mit ein bisschen Planung und ein paar Telefonaten ging es auch anders. „Eigentlich brauche ich Facebook gar nicht“, sagt Sharon. An der Schule erregte ihre Aktion Aufsehen, als hätte sie gesagt, sie gedenke, zum Mond zu fliegen. Einige Mitschüler, spontan beschwingt, schlossen sich an. Aber nach ein paar Tagen waren alle außer Sharon wieder rückfällig geworden. Auch Arijana, Realschülerin in Augsburg, kämpft hin und wieder gegen den Sog ins Netz. Am Wochenende versucht sie, möglichst wenig vorm Computer zu sitzen. Sie geht in die Stadt, unternimmt etwas mit den Freundinnen. „Ich will mich ablenken von Facebook“, sagt sie. Einmal besuchte Arijana eine Freundin, die musste nur noch eben auf dem Handy ein paar Textnachrichten beantworten. Dann noch an den PC, nur eine Minute, schnell was auf Facebook nachsehen. Aber da lief gerade ein Chat, ein Wort gab das andere, und am Ende wurde es der Besucherin zu dumm: „Ich saß da zwei Stunden lang unbeachtet herum. Die hat mich einfach vergessen.“ Erwachsenen erschließt sich der Reiz des Online-Geplauders nur schwer: „Na, was machst du gerade?“ – „Ich sitze am PC und chatte mit dir!“ Was kann daran so unwiderstehlich sein? Jugendliche aber lieben den schriftlichen Austausch so sehr, dass sie sich das früher epidemische Telefonieren fast schon abgewöhnt haben. „Telefonieren ist nicht mehr so in“, sagt Arijana. Zu lästig, dieses Klingeln, das zu sofortiger Reaktion zwingt. Sogar die SMS, lange Jahre liebstes Medium der Jugend für den schnellen Austausch, hat an Bedeutung verloren. Arijana brachte es früher leicht auf 2000 SMS im Monat, jetzt sind es „vielleicht noch 400“. Das Chat-Fenster auf Facebook ist angenehmer. Bei Arijana steht es immer offen. Sie sieht dort, wer gerade gesprächsbereit ist; sie kann aber auch einfach dem steten Strom der Konversation zusehen, ab und zu ein paar Worte hineinwerfen. Es ist wie beim Herumhängen vor der Eisdiele. Man ist zusammen, jeder kann etwas sagen, niemand muss. Aber jederzeit könnte sich alles Mögliche ergeben: ein witziger Schlagabtausch über die letzte Party oder ein kleines, gehässiges Drama zwischen Rivalen, von dem am folgenden Tag die halbe Schulklasse spricht. In jedem Fall gilt: Wer nicht zugeschaltet ist, kriegt es nicht mit. D E R S P I E G E L 1 9 / 2 0 1 2 Nie mehr allein Früher war es leichter, mal allein zu sein; denn die anderen waren es die meiste Zeit auch. Man traf sich, dann kam etwas in Gang oder auch nicht. In der Zwischenzeit versäumte man nicht viel. Heute glucken ununterbrochen irgendwelche Freunde im Chat-Fenster von Facebook zusammen. Das hat, fast rund um die Uhr, einen Wettlauf um die Zugehörigkeit ausgelöst: Entweder ich bin auch dabei, oder es läuft ohne mich. Das Problem ist nur, dass anderswo vielleicht sogar noch mehr los ist. Stets nagt die Angst, etwas zu versäumen. Paul findet das ziemlich befremdlich: „Man sitzt in einer Runde zusammen, fünf oder sechs Leute, und jeder Zweite guckt auf sein Handy.“ Viele Jugendliche – in Pauls Klasse fast die Hälfte – besitzen heute schon ein Smartphone mitsamt Datenvertrag. Das heißt, sie haben Facebook unterwegs überall dabei, und sie haben stets vor Augen, was sich in ihrem umfangreichen Freundeskreis gerade tut. Sie führen ein Leben, wie es auch der Urmensch kannte, der noch durch Steppen zog: fast immer in Reichweite der Horde. Die Technik bringt, so gesehen, die Zeitgenossen wieder näher an ihre Stammesgeschichte heran – nur dass die Horden heute riesig sind und übers ganze Land verstreut. Und irgendwer ist da immer „on“, rund um die Uhr. Der Psychologin Sherry Turkle macht das Sorgen. Sie gibt zu bedenken, dass Momente des Alleinseins gerade für 129 CARSTEN KOALL / DER SPIEGEL Titel Die Netzwerk-Mutter Jennifer, 25, richtete für ihren Säugling Louis ein Profil bei Facebook ein. Der Ernüchterte Paul, 17, hatte plötzlich auf Facebook einen Mädchen anbaggernden Doppelgänger. Die Geprüfte Arijana, 15, saß zwei Stunden lang unbeachtet auf dem Sofa ihrer Freundin. Heranwachsende wichtig sind. Irgendwann, meist im Alter zwischen 11 und 14 Jahren, wagen sich Kinder zum ersten Mal unbegleitet in eine fremde Umgebung. Sie fahren mit dem Zug zum Opa, oder sie streunen durch ein unbekanntes Stadtviertel. Den Anflug von Verlorenheit, der sie dann vielleicht anweht, müssen sie aushalten. Das stärkt ihr Selbstgefühl. Was aber, fragt sich Turkle, wenn die Kinder heute immer und überall in Verbindung mit ihrer Horde stehen? Wenn sie keine Anwandlung von Mulmigkeit mehr ertragen, ohne ihre Freunde virtuell herbeizuzaubern? Wenn sie nie mehr getrennt sind von der Mitwelt und deren Überangebot an Kurzweil und Anschluss? In Wahrheit wird es jeden Tag schwerer, sich auszuklinken. Wer wissen will, was los ist, kann sich das kaum mehr leisten. Denn die Jugend koordiniert auch ihre Verabredungen mehr und mehr übers Internet. Unter der Rubrik „Veranstaltungen“ lassen sich auch Partys oder größere Treffen planen. Anfänger scheitern damit gelegentlich spektakulär, indem sie als Empfängerkreis „öffentlich“ wählen – damit ist leicht mal ein tausendköpfiger Mob herbeibeschworen. Beschränkt auf den Freundeskreis, ist das aber ein Werkzeug, das viel Arbeit spart: Jeder trägt selbst ein, ob er kommt und was er mitbringt. Triumph der Nützlichkeit Neulich in Darmstadt luden Physikstudenten zu einem Ausflug in die Kneipe. 130 Über 50 Kommilitonen meldeten sich an, es wurde ein lustiger Abend. Mit dabei: Benjamin Pampel, 19 Jahre, Anhänger der Piratenpartei. Pampel ist weltanschaulich nicht übermäßig festgelegt: nennt sich linkslibertär, gehört aber auch der Burschenschaft Rheno-Markomannia an; er wohnt sogar in deren Haus, weil er die Leute nett findet. In der Netzpartei ist er als Schatzmeister des Jugendverbands, der Jungen Piraten, engagiert. Pampel findet Facebook praktisch, obwohl er weiß, „dass da nichts geheim bleibt und nichts je wirklich gelöscht wird“. Da müsse man eben aufpassen und nichts Privates ausplaudern. Für die politische Arbeit, glaubt er, habe Facebook allerdings nur begrenzten Wert. Zu leicht ist es für Querulanten und vagabundierende Blödler, jegliche Debatte zu ruinieren. Ernsthaft diskutieren lässt sich nur dort, wo nicht jeder beliebig herumlärmen kann. Dagegen ist die Plattform gut für die schnelle Kampagne zwischendurch. Wer einfach nur viele Leute erreichen will und zufrieden ist, wenn sie auf den „Gefällt mir“-Knopf klicken, kann mit wenig Aufwand einiges bewirken. Der Berliner Fridtjof Vieth, 17, hat das gerade ausprobiert; er ist Pressesprecher von „Jugend gegen Aids“. Die jüngste Aktion der Bewegung richtete sich gegen das Kondomverbot der katholischen Kirche. Leitspruch: „Gott sei Dank – Kondome schützen!“ Die Aktivisten hatten dafür eine präparierte Madonnenstatue in einer HamD E R S P I E G E L 1 9 / 2 0 1 2 burger Galerie quasi an Facebook angeschlossen: Jedes Mal, wenn im Netzwerk jemand den „Gefällt mir“-Knopf drückte, quoll der Madonna eine Träne aus dem Auge und tropfte in einen Behälter – zusehends stieg der Füllstand, gedacht als Zeichen der Trauer um die Aidsopfer. Fridtjof ist ein gläubiger Katholik, und doch gefiel es ihm, dass sie die Kirche in dieser Sache nachzählbar ärgern konnten: Fast 10 000 Tränen tropften der weinenden Facebook-Madonna vom Antlitz – das sind ebenso viele wertvolle Adressen, die man für künftige Aktionen rekrutieren kann. Denn jeder, der geklickt hat, ist nun bei den Veranstaltern aktenkundig. Kritiker machen sich gern über die Politik mittels „Gefällt mir“-Knopf lustig. So ein Klick sei zu billig, um etwas zu bedeuten. Man ziehe mit solchen Kampagnen nur stimmungsgeleitete Massen an, unberechenbar wie Fischschwärme: heute hier, morgen dort. Und doch ist Facebook inzwischen für viele Jugendliche das organisierende Zentrum, die Warte, von der aus sie gemeinsam auf die Welt schauen. Das gilt in fast jeder Lebenslage: Die Generation Facebook will die Musik der Freunde mithören, die Nachrichten mitlesen, die Politik mitklicken. Sie vertraut auch längst darauf, dass alles, was wirklich wichtig ist, sich rechtzeitig auf Facebook herumspricht. Dafür werden schon die Freunde sorgen und die Freunde der Freunde. Die Wahrnehmung und das Denken, das alles wird auf FOTOS: JULIAN BAUMANN / DER SPIEGEL JULIAN BAUMANN / DER SPIEGEL Der Pirat Benjamin, 19, nutzt Facebook für die schnelle Kampagne zwischendurch. Der Aktivist Fridtjof, 17, entlockte mittels Facebook einer Madonna 10 000 Tränen. Der Frischling Frank, 12, änderte für 40 „Gefällt mir“Klicks seinen Facebook-Namen. dieser Plattform freundschaftlich sozialiZu ähnlichen Ergebnissen kommt die den sozialen Netzwerken aber steht nun siert – sogar das Gedächtnis. Studie „EU Kids Online“: Eines von 20 jederzeit ein großes Publikum bereit, ein Manche Eltern mag noch ein seltsames Kindern wurde schon einmal im Internet Reservoir von Schaulustigen, deren BeiGefühl beschleichen, wenn sie ihr Kind bedrängt – offline kommt das aber mehr fall jede Mühe wert scheint. „Konflikte nach den Hausaufgaben fragen und die als dreimal so oft vor. Dennoch setzt von werden öffentlich ausgetragen“, schreibt Antwort lautet: „Da muss ich mal eben allen Risiken der Online-Welt das Mobbing Boyd, „um Unterstützer für die eine oder auf Facebook gucken.“ Tatsächlich haben den Kindern am meisten zu. Drei Viertel andere Seite zu mobilisieren.“ So bekommt jetzt auch nichtiges Alldort viele Lehrer, begleitend zum Unter- der Verfolgten holen sich irgendwann Hilfe richt, geschlossene Facebook-Gruppen bei Eltern, Lehrern oder Freunden. Sechs tagsgezänk, da es sich vor Hunderten Zueingerichtet. Was sich früher der einzelne von zehn wissen sich auch online zu weh- schauern abspielt, gelegentlich die Wucht Schüler merken musste, wird jetzt ausge- ren: Sie löschen verletzende Nachrichten antiker Schauspiele. Chöre von Unterstützern sammeln sich auf den Seiten der lagert ins Kollektiv. oder blockieren den Verfolger. Auch Gesamtschullehrer Kurz im hesWer die Tricks kennt, verliert nicht so Streitparteien, zahllose Kommentatoren sischen Langen nutzt Facebook für den leicht die Kontrolle über sein Leben. Die bestärken ihre jeweiligen Favoriten, stille Unterricht. In seinen Gruppen geht es Netzforscherin Boyd stellte bei ihren Mitleser hämmern unentwegt auf den vor allem um Organisatorisches: die Haus- Interviews fest, dass viele Teenager den „Gefällt mir“-Knopf. Jungs geben zwar oft den Anlass, aufgaben, das Geld für die Klassenfahrt, Begriff „Mobbing“ (englisch: „Cyberden Stoffplan für die nächste Arbeit. Bullying“) nicht mögen. Denn er unter- halten sich auf der Bühne aber eher zuAber sie sollen auch mit der Plattform stellt Opfer, die sich herumschubsen lassen. rück. Wenn sie mal in Streit geraten, prüumgehen lernen, findet der Lehrer. Die Die Netzjugend spricht lieber von geln sie sich lieber kurz oder vergessen Gesamtschule in Langen, wo Kurz den „Dramen“. Darunter fällt das Kesseltrei- die Sache. Ein Kampf unter Mädchen Realschulzweig leitet, hat deshalb gerade ben auf Außenseiter ebenso wie das mut- aber kann sich auf offener Bühne dahinein Experiment in Medienpädagogik be- willige Anzetteln von Zwistigkeiten: alles schleppen bis zur Erschöpfung. Heidemarie Brosche, Mittelschullehrerin in gonnen. 15 Schüler aus den oberen Klas- nur Theater, irgendwie. Augsburg, merkt schon morgens im Unsen bekamen eine kleine Fortbildung, terricht, wenn es mal wieder Krieg gab. und nun dürfen sie sich Medien-Scouts Dramen der Pubertät nennen. Jetzt bringen sie den Kleinen bei, In der Tat ist Facebook eine große Schau- „Die ganze Klasse ist dann angespannt“, was Datensparsamkeit heißt und was sie bühne, die schon vieles gesehen hat, ne- sagt sie. Oft ähneln sich die Drehbücher der tun können, wenn sie im Internet jemand ben Schurkenstücken auch die ergreifenattackiert. den Seifenopern der Pubertät. Vor allem Dramen: Wenn etwa ein Paar sich trennt, Das ist ein Problem an fast allen Schu- die jüngeren, weniger geübten Nutzer las- setzen beide in der Regel, oft fast simullen. Einzelne Schüler werden verspottet, sen sich noch leicht entflammen. Es ge- tan, ihren Beziehungsstatus auf „Single“. schikaniert, gedemütigt. „Dieses Mob- nügt eine sarkastische Bemerkung zum Nicht selten folgt auf den Krach dann bing fängt fast immer in der Offline-Welt Foto von den neuen Klamotten, und noch ein Austausch von Gehässigkeiten an, auf dem Pausenhof oder im Klassen- schon kommt ein Scharmützel in Gang, auf Facebook, an dem, wenn es dumm läuft, bald die ganze Klasse teilnimmt. zimmer“, sagt Kurz. „In vielleicht einem das leicht außer Kontrolle gerät. Wenn so ein Konflikt Kreise zieht, Drittel der Fälle schwappt es dann über Früher kam so etwas selten über den ins Internet.“ kleinen Kreis der Streithähne hinaus. In merkt so mancher Kombattant: Alles, was D E R S P I E G E L 1 9 / 2 0 1 2 131 JULIAN BAUMANN / DER SPIEGEL AMIN AKHTAR / DER SPIEGEL er je bei Facebook geäußert hat, kann gegen ihn verwendet werden – kleine Gemeinheiten, unbedachte Schwüre, längst vergessene Klatschgeschichten. Alles bleibt nachlesbar, und so geht den Gegnern nie die Munition aus. Vielen Jugendlichen mache das schwer zu schaffen, sagt Sozialforscherin Boyd. Sie seien aber auch sehr erfinderisch, wenn es um Lösungen gehe. Zwei Freundinnen, Mikalah, 18, und Shamika, 17, haben Boyd besonders beeindruckt. Shamika hatte es satt, dass bei Streitereien alte Wortmeldungen und Kommentare hervorgeholt wurden: Aber damals hast du noch! Oder: Du warst doch immer schon! Shamika beschloss, kurzen Prozess zu machen. Täglich leert sie nun ihr Facebook-Profil. Sie löscht alle Kommentare ihrer Freunde mitsamt ihren eigenen Status-Updates und Mitteilungen vom Vortag. Nichts findet Gnade, was älter ist als 48 Stunden. Mikalah kam auf eine andere, nicht minder radikale Lösung: Jeden Tag, sobald sie mit Herumstöbern und Schreiben auf Facebook fertig ist, legt sie ihren Zugang still. Anderntags meldet sie sich wieder an – stets aufs Neue. In der Zwischenzeit, das ist der Sinn des Hin und Her, kann niemand hinter ihrem Rücken Ärger machen. Auf diese Weise sichert Mikalah sich die Oberaufsicht – sie ist die Gastgeberin und Facebook ihr Salon. Die Kontrolle über ihre Privatsphäre, ihr eigenes Reich in der Online-Welt, bedeutet den Jugendlichen viel. Viele haben schon erlebt, dass Sachen, die sie sicher verwahrt wähnten, ihnen dann doch entglitten. Freunde kopieren ihre Statusmeldungen oder Fotos, Eltern spähen ihnen unbemerkt über die Schulter. Auch die 14-Jährige, die Nacktfotos an Pauls Doppelgänger schickte, fühlte sich unbeobachtet. Sie kann wahrscheinlich noch froh sein, dass die Mutter ihr beizeiten auf die Schliche kam. Hin und wieder kommt es aber auch zur schlimmsten Form von Kontrollverlust: Ein freizügiges Foto gerät in die Öffentlichkeit. Gesamtschullehrer Kurz: „Der Neuigkeitseffekt ist vorbei, Facebook ist Alltag“ Entblößung wider Willen Im Herbst 2009 ging der Fall Hope Witsell durch die Medien. Hope, 13 Jahre alt, ein Mädchen aus dem ländlichen Amerika, schickte ihrem Schwarm ein Foto aufs Handy, das sie oben ohne zeigte. Eines Tages kursierte die Aufnahme im Internet, Mitschüler zeigten sie feixend herum. Die Schule suspendierte das Mädchen vorübergehend; die Eltern verhängten Hausarrest. Wenig später erhängte Hope sich in ihrem Zimmer. Seltsam, dass sich damals kaum jemand über die Leute aufregte, die das Bild rechtswidrig verteilt hatten. Nicola Döring, Netzforscherin an der TU Ilmenau, hat den Brauch des Nacktfototauschs, genannt „Sexting“, untersucht. Und stets 132 stieß sie auf ein ähnliches Schema: Wenn so etwas auffliegt, zeigen alle auf das Mädchen. Die Schule, die Eltern, die Mitschüler tadeln seinen Leichtsinn. Auf Facebook sammeln sich die Lästermäuler: Ist es nicht billig, dumm und irgendwie schlampenhaft, sich unverhüllt zu zeigen? Hat sie es nicht sogar auf den Skandal angelegt? Die Hamburger Sexualforscherin Silja Matthiesen sieht darin einen Rückfall in alte Zeiten. „Das moderne Bild der sexuell aktiven, selbstbewussten Frau kann offenbar schnell kippen“, sagt sie. „Es ist nicht so fest verankert, wie wir dachten.“ Die meisten Jugendlichen – über 80 Prozent – lehnen Sexting ab. Sie halten es für riskant und peinlich. Eine Minderheit probiert es dennoch: Partner schicken einander freizügige Fotos, gemeint als Geschenk, als Liebesbotschaft oder auch als Geste nach einem Streit. „Fast immer geht das an den festen Freund oder die feste Freundin“, sagt Matthiesen. In den weitaus meisten Fällen sind die Partner vorsichtig genug, um keinen Ärger auszulösen. Aber schiefgehen kann es natürlich. „Die Frage ist immer: Wie kann ich die Aufmerksamkeit erregen, die ich will, und zugleich diejenige vermeiden, die ich nicht will?“, sagt Matthiesen. „Mit dieser Gratwanderung müssen sich heutige Jugendliche sehr früh im Leben auseinandersetzen.“ Das gilt auch schon für die ganz normale Selbstdarstellung im Netz. Facebook ist die Bühne, auf der die JugendD E R S P I E G E L 1 9 / 2 0 1 2 lichen ihre Wirkung erproben. Wichtigstes Mittel: das Profilbild. Man zeigt sich in wechselnden Posen, wartet bang auf die ersten Kommentare, zählt die „Gefällt mir“-Klicks der Freunde. Aber nicht jeder Zuspruch ist erwünscht. Die Berlinerin Gloria, 15, ist seit drei Jahren auf Facebook. Viermal schrieben ihr schon fremde Männer: „Du bist so schön, ich will dich kennenlernen.“ Sie hat sich daran gewöhnt. Alles für den Status Für ein hübsches Mädchen ist es auf Facebook der Normalzustand, umschwärmt zu sein. In der Regel beschränkt sich das aber auf den Freundeskreis: Dieser bekommt häufig neue Profilbilder präsentiert und tritt dann zur Parade der Huldigungen an: „wie ein Moddel“ – „Wundeeeeerhüüübsch“ – „sehr schön :)“ – „selber:)“ – „Schönes Mädchen“ – „hüpschee“ – „Wie hübsch du bist“ – „Dankeschön :)“ – „Schönee“. Das Liebgetue unter Mädchen ist epidemisch: Lang und länger werden die Ketten der Kommentare, immer noch eine „Hüpschee!“ und zwölf Herzchen dazu. Bei den Jungs geht es anders zu. Dort gibt es Kommentarfolgen wie „Scheiß Dortmund !“ – „xy yees babyyy“ – „! Da bin ich geboren !“ – „Dortmund ist geil ! – „Ich mein die Fußballmannschaft Beno Bär !“ – „Die ist auch geil :D“ – „hahahhah eben :D !“ – „Geht scheißen“ – „DOOOOOORTMUND !!!!!!!!!!!!“. Jungs filmen einander auch nicht beim Shoppen; da sind die Stereotype noch JULIAN BAUMANN / DER SPIEGEL Titel 7 neue Nutzer kommen jede Sekunde dazu. 901 Mio. Menschen weltweit nutzen Facebook mindestens einmal im Monat. Stand: Ende März; Quelle: Facebook zum Vergleich: 2,2 526 Mio. davon sind täglich auf Facebook aktiv. Anteil der Facebook-Nutzer an der Bevölkerung… Durchschnitt März; Quelle: Facebook Anhänger der größten Weltreligionen in Milliarden 1,6 0,9 0,9 300 000 Freiwillige haben das Facebook-Portal in über 70 Sprachen übersetzt. Quelle: Facebook 13% 28% 53% … weltweit … in Deutschland … in Nordamerika Hindus Muslime Christen ziemlich intakt. Ihre Fotos und Videos handeln oft von Streichen oder Albereien: wie Max in Frauenkleidern durch die Schule läuft. Oder: wie wir gestern fünf Bänke im Stadtpark gestapelt haben. Doch arbeitet auch die männliche Netzjugend mit feiner Ästhetik, wenn es um die Selbstdarstellung geht: Auf den Profilbildern zeigen Jungen sich gern von schräg unten, wie zufällig aus der Hüfte geknipst, damit nicht auffällt, wie sorgsam sie vorher die Haare zerwuschelt haben. Immer ist das Publikum im Blick: Wird es applaudieren? Bekomme ich auch genügend „Gefällt mir“-Klicks? 30 dieser „Likes“ sollten es schon sein, ab 100 kann man sich was einbilden. Likes sind die neue Währung der Aufmerksamkeit. Sie verkörpern, sichtbar für alle, Zuspruch, Status und Begehrlichkeitsfaktor. Und sie ermöglichen, bitter für viele, den direkten Vergleich: Was finden die alle an dem Typen? Schon nach einer halben Stunde 50 Likes für nichts? Facebook macht vieles abzählbar; das heizt den Wettbewerb um das coolste Bild und den witzigsten Kommentar an. Den beliebten Typen schreibt jeder gern was auf die Pinnwand. Auf Bennos Profil ist zu lesen: „125 Freunde haben in Bennos Chronik etwas zu seinem Geburtstag gepostet.“ Und dann gibt es welche, da stehen drei Kommentare und zwei Geburtstagswünsche, mehr nicht. „Vielen Erwachsenen mag diese Obsession der Teens für Status und Beliebtheit unreif erscheinen, doch betrachtet man ihr Leben, macht das durchaus Sinn“, re- durchgeschlüpft. Der jüngste Nutzer, den sümiert Netzforscherin Boyd. Sie haben Frank kennt, ist neun Jahre alt. ja sonst nichts: Heranwachsende ohne echte Aufgaben, an denen sie sich bewäh- Invasion der Knirpse ren könnten. Da ist es kein Wunder, wenn Allein in den USA finden sich unter den sie sich in inhaltslosen Statuswettbewer- aktiven Facebook-Mitgliedern rund 7,5 ben aufreiben. Teenager haben nur eine Millionen, die jünger als 13 sind. Das melwirkliche Macht, sagt der US-Soziologe dete vor knapp einem Jahr das Magazin Murray Milner: „Sie können eine soziale „Consumer Reports“. Die Aufregung war Parallelwelt schaffen, in der sie sich ge- groß, denn die Altersgrenze hat dort prakgenseitig evaluieren.“ tisch Gesetzeskraft. Websites dürfen keiSchon bei den Kleinen sind die Likes ne Daten von Kindern unter 13 Jahren wichtig. Sie verstehen noch kaum, was sammeln, ohne dass die Eltern zugedas soll, aber sie spielen eifrig mit. „Man stimmt haben. guckt da schon drauf“, sagt Frank, zwölf Facebook-Chef Zuckerberg sah die GeJahre, Mittelschüler in Augsburg. Einer legenheit für eine lobbyistische Offensive: aus seiner Klasse fragte ihn neulich: Wo Facebook sei doch auch für kleine Kinder bleiben deine Likes für mein Profilbild? schon überaus nützlich, das Gesetz müsse Er selbst, zum Glück, liege recht verläss- also geändert werden. „Das ist ein lich über dem Durchschnitt. Kampf“, sagte er, „den wir zu gegebener Neulich bot Frank dem Freundeskreis Zeit aufnehmen werden.“ an, für 40 Likes seinen Facebook-Namen Datenschützer hörten das gar nicht zu ändern. Der Tauschhandel gelang. So ungern. Würden Kinder zugelassen, so was machen die Kleinen gern: „Für fünf ihr Kalkül, müsste die Firma in Sachen Likes zähle ich die fünf schönsten Mäd- Datenschutz und Transparenz erheblich chen der Klasse auf.“ Oder: „Für zwanzig nachbessern – was letztlich auch den älLikes lasse ich mir die Haare schneiden.“ teren Mitgliedern zugutekäme. Wenig Frank chattet für sein Leben gern. Sein später ruderte Zuckerberg zurück: Es sei Profil mitsamt Freundesliste, Fotos und technisch zu aufwendig, Kinder besonallem, was er je mitgeteilt hat, ist für alle ders zu schützen. Die Altersfrage werde sichtbar. Schließlich will er erkannt und bis auf weiteres vertagt. gefunden werden. Der Facebook-Chef kann sich GelasEigentlich hat Frank bei Facebook noch senheit leisten. Das Einstiegsalter sinkt gar nichts zu suchen. Die Firma hat in auch so, auch in Europa. Luka und Kiet den Nutzungsbedingungen das Mindest- zum Beispiel gehen in die siebte Klasse alter auf 13 Jahre festgelegt. Aber das eines Gymnasiums im Berliner Stadtteil wird nicht überprüft. Millionen Kinder Prenzlauer Berg. Kiet hat rund 350 Freunsind schon unter dieser Schwelle hin- de, fast alle sind unter 13. Von den 31 D E R S P I E G E L 1 9 / 2 0 1 2 133 Titel Flashmob vor dem Hauptbahnhof in Hannover im Juli 2011: Leicht lässt sich eine tausendköpfige Meute herbeibeschwören Klassenkameraden sind mehr als 20 bei Facebook aktiv, viele davon täglich. Die Eltern haben den beiden täglich eine Stunde im Internet genehmigt. Das Pensum verbrauchen Luka und Kiet fast vollständig für Facebook. Halten sie sich an das Limit? Luka lächelt schelmisch. Auf ihrem neuen Handy, einem Smartphone, hat sie Facebook auch unterwegs dabei – außer Reichweite der Eltern. Kinder finden es toll, durch dasselbe Netzwerk wie die Großen zu strolchen. Kiet verteilt seine „Gefällt mir“-Klicks gern an Fan-Seiten für „Das Leben ist kein Ponyhof“ oder den rothaarigen Troll Pumuckl. Es gebe aber auch „böse Fallen“ in der Online-Welt, weiß Luka. Sie ist selbst schon zweimal in eine getappt. Einmal klickte sie auf das nette Angebot, auf ihrem Smartphone das blaue Facebook-Logo rosa umzufärben. Das „Geschenk“ war freilich eine AboFalle, Luka sollte dafür monatlich bezahlen. Viele Eltern sehen mit Sorge, wie zügig Facebook von ihrem Nachwuchs Besitz ergreift. Aber was tun? Ganz verbieten? Die Zeit beschränken? Wenn die Kinder nur lange genug betteln, geben die Eltern am Ende doch lieber nach: Wer wollte den eigenen Nachwuchs ausschließen, wenn die Freunde alle drin sind? Die Altersgrenze von 13 Jahren spielt bei der Abwägung offenbar kaum eine Rolle: Die Netzforscherin Danah Boyd hat ermittelt, dass in den USA rund zwei Drittel der Eltern sogar beim Einrichten des Zugangs halfen. 134 Christine Feil, Soziologin am Deut- den öffentlich-rechtlichen Rundfunk, eine schen Jugendinstitut in München, ist von Art Kinderkanal für die Online-Welt? Das Einstiegsalter bei Facebook sinkt dieser Entwicklung nicht begeistert. „Die Eltern geben damit Informationen preis, unterdessen zügig gegen null. Der überderen Tragweite das Kind nicht absehen zeugte Netzbürger meldet sein Kind kann“, sagt sie. „Man muss sie da schon schon bei der Geburt an, wie es Jennifer an ihre Erziehungsaufgabe erinnern. und ihr Mann mit Louis getan haben. Eine Altersgrenze für soziale NetzwerFacebook ist keineswegs für Kinder gedacht, die gehören da einfach nicht hin.“ ke findet Jennifer abwegig. „Viele von Nicht nur, dass die Kleinen bedenken- Louis’ Freunden können doch schon die los auf Geschenkangebote klicken, auch iPhones ihrer Eltern entsperren“, sagt sie. die Weisheit der Zurückhaltung ist ihnen „Dann patschen sie so lange darauf herschwer zu vermitteln. Sie verstehen nicht, um, bis sie bei den Spielen sind.“ Louis warum sie ihr Profil verriegeln sollten – selbst ist noch nicht so weit; er trägt nur sie wollen ja gesehen und gefunden wer- Mutters iPhone sehr gern herum, und den. Sie finden es auch toll, ungebremst wenn es klingelt, kommt er damit geFreunde zu sammeln, mit denen sie dann laufen. Jennifer findet, ihr Sohn sei auf Faceeifrig chatten. „Natürlich nur Banalkram“, sagt Feil. „Wo wohnst du? Hast book gut aufgehoben. Alle Einstellungen du Geschwister? Dadurch steigen die Nut- hat sie auf maximalen Schutz der Privatsphäre gesetzt. Und sollte Louis später zungszeiten.“ Die Zeit sei jedoch gar nicht das Pro- mal Anstoß nehmen an den vielen süßen blem: „Das Internet ist ja kein Fernsehen, Babyfotos, kann er sie ja löschen. Sie wüsste wirklich nicht, worum sie die Kinder können da nicht einfach einschalten und zugucken, sie müssen lesen sich da groß sorgen sollte. Und bei aller und schreiben, das macht in dem Alter Abwägung, am Ende ist es wie immer noch schnell müde.“ Deshalb hält Feil bei Facebook: Die Vorteile überwiegen. auch wenig von einem Zeitlimit, von Me- „Wenn wir uns mit Freunden treffen, müsdienerziehung mit der Zeitschaltuhr, wie sen wir nicht erst lang und breit über das manche Eltern das machen. Für die So- Kind reden.“ ziologin ist wichtiger, dass die Kinder MANFRED DWORSCHAK, MARCEL ROSENBACH, hochwertige Angebote im Internet bekomHILMAR SCHMUNDT men. „Wir brauchen dringend eine kindVideo: So optimieren Sie gerechte Alternative zu Facebook“, sagt Ihr Facebook-Profil Feil. Ein behütetes Netzwerk also, mit ausgebildetem Personal, das jeden Beitrag Für Smartphone-Benutzer: liest, bevor es ihn freischaltet für alle – Bildcode scannen, etwa mit wäre das nicht eine schöne Aufgabe für der App „Scanlife“. D E R S P I E G E L 1 9 / 2 0 1 2 JULIAN STRATENSCHULTE / PICTURE ALLIANCE / DPA Wissenschaft Die ersten Exoten kamen schon Anfang der fünfziger Jahre aus dem Zoo im WILDTIERE zwei Autostunden entfernten San Antonio hierher. Heute tummeln sich 60 Wildtierarten auf der texanischen Savanne. Paris Hilton war schon hier, um eine Folge ihrer Doku-Soap „The Simple Life“ zu drehen. Safaritouren bietet Schreiner Auf texanischen Ranches jagen betuchte an. Auch Selbsterfahrungswochen für Manager hat die Ranch im Programm. Gerade Amerikaner vom Aussterben bedrohte Antilopen. Kann waren 25 Firmenchefs aus Deutschland da, der Abschuss das Überleben der Arten sichern? um einmal im Leben Rinder zu treiben. Vor allem aber lebt Schreiner von den ie Dama-Gazelle kommt ganz Association (EWA), eines Interessenver- Jägern. Gnus und Wasserböcke aus Afrika nah an den Jeep heran. Ihre S-för- bands der Rancher. „Wir betreiben hier kann der Weidmann von Welt hier ebenso migen Hörner krümmen sich eines der größten Artenschutzprojekte, erjagen, wie Tahre aus der HimalajaRegion oder ostasiatische Sika-Hirsche. über einem feingeschnittenen Gesicht. die jemals unternommen wurden.“ Auch der Besitzer der Y. O. Ranch, Anmutig dreht sie ihren Kopf zur Seite Die „All inclusive“-Pakete der Ranch und blickt mit dunklen Augen in die Charles Schreiner, glaubt an den Arten- lassen kaum Wünsche offen: Für 6400 schutz per Schusswaffe. „Nur wenn die Dollar etwa hat der geneigte Jäger zwei Runde. „Fiona, möchtest du deine Kekse?“, Tiere einen Wert für den Menschen ha- Tage lang Zeit, eine Elen-Antilope in die fragt Debbie Hagebusch mit sanfter Stim- ben, werden sie langfristig überleben“, ewigen Jagdgründe zu schicken. Erfolgsme und füttert das Tier mit Gebäck. sagt Schreiner. Liebevoll nennt er die strit- garantie wird zwar nicht gewährt. Dafür „Sieht sie nicht großartig aus, gesund und tigen Wildtiere seine „drei Amigos“. „In dürfen Kinder gratis mit auf die Pirsch. stark?“, fragt die Tourismusdirektorin der Texas sind sie sicher nicht vom Ausster- Abends gibt es Wildbret von der Weide nebenan und Wein an der All-you-cantexanischen Y. O. Ranch und streichelt ben bedroht“, versichert er. Schreiner ist Rancher in der sechsten drink-Bar. dem Huftier über den rotbraunen Hals. Für einen afrikanischen Spießbock verUnd doch überlegt Hagebusch, ihre ge- Generation. „Little Africa“ nennen die hörnten Lieblinge loszuwerden. „Wenn Leute in der Gegend seine 16 000 Hektar langt Schreiner 8000 Dollar, der Schädel die Tiere nicht gejagt werden dürfen“, sagt große Y. O. Ranch. Vom texanischen State mit den lanzenförmigen Hörnern als Trophäe ist inklusive. Einen sie traurig, „sind sie für uns Großen Kudu, Schulterhöhe kaum mehr etwas wert.“ 1,40 Meter, bekommen die In Texas ist ein bizarrer Streit entbrannt. Rancher Gäste erst ab 19 000 Dollar bieten dort Wildtiere aus vor das Hightech-Jagdgealler Welt für happige Trowehr. Damit niemand unter phäengebühren zum Abdie Hufe kommt, stehen die schuss feil. Artenschützer Profi-Jäger der Ranch den laufen Sturm gegen die Kunden allzeit hilfreich zur Jagd auf die Exoten. Die Seite. zentrale Frage: Lassen sich Nicht mehr buchbar ist Tiere vor dem Aussterben indes derzeit das „Trobewahren, indem man sie phäen-Säbel-Antilopenbulabschießt? len-Spezial“ der Farm (4500 Die Auseinandersetzung Dollar). Auch Mendes-Anist eskaliert, seit Anfang tilope (5500 Dollar) und April die Jagd auf drei beDama-Gazelle (6950 Dollar) sonders seltene Tiere durch haben Büchsenruhe. Und den Beschluss eines USnicht nur Schreiner ärgert Bundesbezirksgerichts erdas maßlos. Hunderte Jagdfarmen in Texas seien von heblich erschwert wurde. der Neuregelung betroffen, Dama-Gazelle, Säbel-Antiberichtet EWA-Chef Seale. lope und Mendes-Antilope Seit dem Abschussverbot heißen die strittigen Arten. sei die Zahl der strittigen Alle drei sind akut vom Jäger mit erlegter Säbel-Antilope in Texas: „Obszönes Geschäft“ Tiere in Texas bereits um 20 Aussterben bedroht. Für manch einen Artenschützer ist die Highway 41 aus geht es zunächst ins offe- bis 30 Prozent gesunken, meint Seale. Gerichtsentscheidung ein Grund zum Fei- ne Land hinein. Hinter einem doppelt „Das Geld, das wir mit der Jagd gemacht ern. Seit langem schon kämpft etwa die mannshohen Tor, gekrönt von einer stili- haben, hat es uns erlaubt, diese Tiere zu US-Organisation Friends of Animals da- sierten Giraffe und einem Metallcowboy, vermehren.“ Lee Hall von Friends of Animals hält gegen, dass im eigenen Land Rote-Liste- beginnt die Ranch. Von einer Anhöhe aus Arten geschossen werden. Die Rancher lässt sich das Gelände überblicken. Jetzt das für Mumpitz: „Jagd ist ein gutes Gein Texas sehen das ganz anders. Sie im Frühjahr blühen zwischen Eichen und schäft für Leute, die Köpfe und Hörner schmähen die richterliche Entscheidung Mesquite-Bäumen gelbe, rosa- und lila- verkaufen. Mit Artenschutz hat das nichts als „Hinrichtungsbefehl“ für die betrof- farbene Wildblumen. Kojoten gibt es hier, zu tun.“ Den „makabren Jagdtourismus“ Pumas und Hunderte texanischer Long- findet sie schlicht „obszön“. fenen Exoten. Zudem fürchtet Hall, dass mit der Jagd „Ohne uns werden diese Tiere von der horn-Rinder. Vor allem aber ziehen AnErdoberfläche verschwinden“, warnt tilopen, Schafe und Hirsche aus fernen in den USA ein Markt für die Trophäen geschaffen wird, der die Wilderei in den Charly Seale, Chef der Exotic Wildlife Ländern über die Ebene. Artenschutz per Schusswaffe D 136 D E R S P I E G E L 1 9 / 2 0 1 2 Dama-Gazelle auf der Y. O. Ranch: Für 6950 Dollar in die ewigen Jagdgründe Ursprungsländern der Tiere anheizt. „Die Seit 2005 dürfen sie auch in den USA weExistenz eines legalen Markts befördert der getötet noch verkauft werden. Allein eine Ausnahmeregelung erlaubden Schwarzmarkt und schafft die Gelegenheit, illegal beschaffte Trophäen rein- te bislang das fröhliche Halali im Cowboyzuwaschen“, meint auch Jay Tutchton land – ein „inakzeptabler Doppelstanvon der US-Organisation WildEarth Guar- dard“, wie Artenschützerin Hall kommentiert. Während Wilderer in Afrika streng dians. Tatsächlich ist die Jagd auf die drei strit- bestraft würden, wenn sie diese Tiere abtigen Arten und der Handel mit ihnen schössen, werde dasselbe in den USA als seit langem international geächtet. Die „Spiel und Spaß“ verkauft. „Die große Frage ist, wie wir ArtenTiere stehen auf den Listen der Weltnaturschutzunion IUCN und des Washing- schutz definieren“, sagt Hall. Es sei falsch, toner Artenschutzübereinkommens Cites. Tiere „als Faustpfand“ in Gefangenschaft D E R S P I E G E L 1 9 / 2 0 1 2 zu halten und abzuschießen, nur um sagen zu können, dass es sie noch gibt. Um Arten zu retten, müssten sie in ihren Heimatländern besser geschützt und vermehrt werden, sagt Hall. Friends of Animals etwa beteiligt sich derzeit daran, die Säbel-Antilope wieder im Senegal anzusiedeln. Die bislang noch hinter Zäunen lebende Herde sei bereits auf 175 Stück angewachsen, berichtet die Tierschützerin. Doch auch die EWA-Rancher können bemerkenswerte Zuchterfolge vorweisen. Über 5000 Mendes-Antilopen weiden auf ihren Farmen. Rund 900 Dama-Gazellen hat die EWA gezählt. Von beiden Arten leben nur noch wenige hundert in der freien Wildbahn Afrikas. Besonders imposant aber sind die Herden der Säbel-Antilopen. Zwischen 2004 und 2010 habe sich ihre Zahl auf etwa 11 000 Tiere verneunfacht, berichtet Seale. In der Wildnis ist die Art ausgestorben. Viele Wildtierexperten mögen den Nutzen der Exotenjagd daher auch nicht ganz von der Hand weisen. „Wenn die JagdRanches Teil eines umfassenden Artenschutzprogramms sind, sehe ich keinen Grund, warum wir eine kontrollierte Jagd verbieten sollten“, sagt etwa Russell Mittermeier, Präsident der Naturschutzorganisation Conservation International. Auch die US-amerikanische Zoovereinigung AZA und sogar der U. S. Fish and Wildlife Service (FWS), der die Jagd kontrolliert, stehen auf der Seite der Weidmänner. „Der amerikanische Jäger hat eindeutig vielen Arten geholfen“, heißt es in der neuen Verordnung, die vom FWS umgesetzt wird. Für die texanischen Rancher ist der Kampf noch nicht vorbei. Dutzende von ihnen haben Sondergenehmigungen beantragt, um ihren Kunden auch weiterhin die raren Trophäen anbieten zu können. „Artenschutz als Gewerbe ist unsere Mission“, sagt Seale. Die Tierschützer behandelten die Wildtiere „wie Museumsstücke“, schimpft er: „Sie wären zufrieden, wenn nur noch eine Handvoll davon übrig wären, in irgendeinem Schutzgebiet in Afrika.“ Allerdings ist auch dem Jäger daran gelegen, die seltenen Antilopen wieder in ihren Ursprungsgebieten anzusiedeln. Ähnlich wie die Tierschützer von Friends of Animals unterstützt auch die EWA die Erweiterung eines Säbel-Antilopen-Reservats im Senegal. 250 000 Dollar habe man kürzlich überwiesen, berichtet Seale. Zwölf der eindrucksvollen Huftiere will er demnächst nach Afrika verschicken. Aus dem Ziel der Artenschutzaktion macht der Texaner allerdings keinen Hehl: „Wenn die Wiederansiedelung erfolgreich ist, erhoffen wir uns natürlich, dass die Tiere dort irgendwann wieder gejagt werden können.“ PHILIP BETHGE JOEL SALCIDO / DER SPIEGEL 137 Wissenschaft Ein Team um den Meeresbiologen Mark Browne vom University College in Dublin hat erst unlängst noch eine weitere Quelle für die Teilchenschwemme entdeckt: Synthetikkleidung. Bei der Analyse von Waschmaschinenabwasser erkannten die Forscher, dass ein einziges Stück davon pro Waschgang mehr als 1900 Kunststofffussel abgeben kann. Besonders dramatisch fiel die PlasMit dem Abwasser gelangen tikernte bei Fleece-Pullis aus. Schwaden winziger Plastikpartikel Dass die winzigen Fasern über Klärins Meer und gefährden die anlagen und Flüsse in die Weltmeere geTiere. Über die Nahrungskette kann langen, zeigten Stichproben von 18 Stränder Müll auf dem Teller landen. den auf sechs Kontinenten. „Die mikroskopisch kleinen Flusen kontaminieren die Küsten in einem globalen Maßstab, ET-Flaschen, Feuerzeuge, Einkaufswobei dichtbesiedelte Regionen stärker tüten, Kunststoffverpackungen: Plasbelastet sind“, konstatiert Browne. tikmüll im Meer war für den BioloÖkotoxikologen sorgen sich nun wegen gen Lars Gutow jahrelang das, was sichtbar der Folgen für die Meeresfauna. Denn auf den Wellen dümpelt. die Kunststoffteilchen ziehen giftige CheIm großen pazifischen Müllstrudel etmikalien wie das Insektizid DDT oder powa kreist ein riesiger Teppich aus Abfall: lychlorierte Biphenyle an und konzentrieMillionen Tonnen Plastik werden von Winren diese auf ihren Oberflächen. den und Strömungen zwischen KaliforAuch im Inneren der toxischen Reisenden befinden sich Müll im Meer giftige Inhaltsstoffe wie Weichmacher und FlammschutzmitHauptquellen für die Verschmutzung der Ozeane durch Mikroplastikteilchen tel, die das Erbgut und den Hormonhaushalt vieler MeeresKosmetika und HausAltplastik Synthetikkleidung Plastik-Pellets bewohner schädigen können. haltsreiniger Von den unteren Gliedern der Nahrungskette gelangt der Plastikmüll in den Biokreislauf. Labortests haben Rohmaterial für die Schleif- und ScheuermaZermahlener Großmüll Kunststofffasern im gezeigt, dass „Filtrierer“ und Herstellung von Kunstterial in vielen Hautpflege- aus Kunststoff Waschmaschinen„Sedimentfresser“ wie Seestoffprodukten mitteln und Reinigern abwasser pocken, Wattwürmer oder Seegurken die Schadstoffe in ihrem Verdauungstrakt konzentrieren. Aus Experimenten mit Miesmuscheln wissen die Forscher, dass die Partikel die Verdauungsorgane durchdringen und in die Körperzellen wandern können – „je kleiner die Teilchen, desto eher geschieht das“, berichtet Browne. Am Ende gelangen Kunststoff und angereicherte Toxine PPS / REFLEX auch auf die Teller der Mennien und Hawaii gefangen gehalten. Auch stehen „plastic pellets“, wenige Milli- schen. „Speisefische unterscheiden nicht, im Südpazifik, im Nordatlantik und im In- meter große Plastikteilchen, die als ob ihre Beute vor Plastik strotzt oder dischen Ozean fahren Plastikabfälle in rie- Rohmaterial für die Herstellung von nicht“, sagt Gutow. Ideen, wie sich die Plastikflut eindämKunststoffprodukten verwendet werden. sigen Mahlströmen unablässig Karussell. Inzwischen aber weiß Gutow, dass noch „Wenn mit diesem Zeug beim Be- und men ließe, gibt es nicht. Aus den Welteine andere, tückische Plastikschwemme Entladen der Schiffe in den Häfen nicht meeren herausfischen lassen sich die Midas Leben in den Weltmeeren bedroht. Ge- sorgfältig umgegangen wird, bläst der kroteilchen noch weit weniger als der in waltige Mengen von mikroskopisch klei- Wind eine Menge davon über Bord“, sagt den Strudeln treibende Großmüll. Von selbst aber werden die schwebennen Kunststoffpartikeln treiben im Wasser, Gutow. Als weitere Verursacher gelten Plastik- den Schädlinge kaum verschwinden. Bis werden an die Küsten geschwemmt oder partikel, die als Scheuermaterial in vielen auf Nanogröße zermahlen, geistern sie verkleistern die Meeresböden. „Plastikflaschen und Plastiktüten an Kosmetika und Haushaltsreinigern ent- wie Untote durch die Ozeane – bis Kunstden Stränden nerven“, sagt Gutow, For- halten sind. Aber auch der Großmüll stoff im Meer vollständig abgebaut ist, scher am Alfred-Wegener-Institut für Po- wird irgendwann zermahlen – wenn kann es den Expertenschätzungen zufollar- und Meeresforschung in Bremerha- Sonne und Wellen ihn spröde gemacht ge Jahrhunderte dauern. GÜNTHER STOCKINGER ven. „Aber die winzigen Partikel könnten haben. U M W E LT Toxische Reisende P Tiere und Pflanzen in den Ozeanen sogar noch stärker gefährden.“ Die Rede ist von Teilchen, die meist kleiner sind als Sandkörner – mit dem Auge ist der schwebende Kunststoff deshalb kaum auszumachen. Noch ist unklar, wie dicht die Mikroplastikwolke in den Ozeanen eigentlich ist. Methoden und Standards, die Verschmutzung zu messen, werden von Wissenschaftlern erst entwickelt. Fest steht: Die Forscher finden umso größere Mengen von dem unscheinbaren Treibgut, je genauer sie danach suchen. „Wir könnten aus der Wassersäule das Hunderttausendfache an Mikroteilchen fischen, wenn wir die Maschenweite unserer Netze von einem halben Millimeter auf einen Zehntelmillimeter reduzieren würden“, berichtet der Meeresforscher Martin Thiel, der derzeit die Belastung von mehreren chilenischen Küstenabschnitten untersucht. Die Winzlinge stammen aus unterschiedlichen Quellen. Unter Verdacht 138 D E R S P I E G E L 1 9 / 2 0 1 2 Technik die Temperatur auf der Erde bei einem Plus von zwei Grad Celsius stabilisieren lassen. Amundsen glaubt, dass die Technik seiner Anlage aus diesem Dilemma heraushelfen kann. Dass die Anlage in Norwegen steht, ist kein Zufall. Dort träumt man bereits von einem transkontinentalen Kreislaufsystem: Pipelines könnten dereinst Kohlendioxid aus Mitteleuropa an die Fjorde befördern, wo es hilft, das Erdgas aus den Lagerstätten zu pressen – dieses wiederum würde dann über Rohre zu den Gaskraftwerken in Deutschland geleitet. Der Reiz dieser Vision war es, was den Staat bewog, fast eine Milliarde Euro in die Versuchsanlage von Mongstad zu stecken. Auch andernorts wird an einer abgasfreien Zukunft gebastelt: Einer der Golfstaaten plant derzeit ein 700-MegawattGaskraftwerk mit CO²-Abscheidung. Und China investiert Milliarden in eine Pilotanlage. Kohle dient dabei dazu, Wasserstoff zu erzeugen, dessen Verbrennung dann seinerseits den Strom erzeugt. Das Kohlendioxid lässt sich so schon vor der Verbrennung abführen. Doch so verheißungsvoll das alles klingt: Das Auffangen von Kohlendioxid ist umstritten, vor allem in Deutschland. Klimaaktivisten befürchten, die Energiekonzerne wollten nur ihre alten Kohlemeiler retten – und erneuerbare Energien verhindern. Ökologen warnen vor dem ENERGIE Mondlandung am Fjord In Norwegen eröffnet die weltgrößte Anlage zum Herausfiltern von Kohlendioxid aus Industrieabgasen. Das soll dem Klima helfen – viele Umweltschützer lehnen die Technik dennoch ab. m Eingang steht ein Versprechen. Gern nennt Stoltenberg das Projekt auch „Die Zukunft einfangen“, so lau- „Norwegens Mondlandung“. Das ist nur geringfügig übertrieben: tet der Slogan, an dem Tore Das Weltklima vor der aufheizenden WirAmundsen vorbeiläuft. Nach einer sauberen Zukunft riecht es kung des Verbrennungsgases Kohlenin Mongstad, an der Westküste Norwe- dioxid zu retten ist eine gewaltige Aufgagens, wahrlich nicht. Süß-säuerliche be. Aus Stahlhütten quillt es, aus ZementSchwaden hängen in der Luft. „Das fabriken und Chemiewerken. Vor allem kommt von der Raffinerie drüben“, sagt aber giert die Menschheit nach billiger Amundsen und zeigt auf eine fauchende Energie. „Klimafreundliche Wind- und Gasfackel. „Wir sind hier schließlich im Solarenergie werden nicht ausreichen“, zweitgrößten Rohölhafen Europas“, ent- behauptet Mongstad-Manager Amundsen schuldigt er sich und klappt den Augen- und hat die Statistiken der Internationalen Energieagentur IEA auf seiner Seite: schutz seines Helms herunter. Amundsens Ziel liegt genau im Wind- Allein in China hat sich die Menge an schatten der müffelnden Raffinerie. Zwei Kohlestrom in den vergangenen 20 JahTürme recken sich in den Himmel, um ren versechsfacht. Gleichzeitig raten Wissenschaftler drinsie herum wickelt sich ein Gewirr aus gend, bis zum Jahr 2050 den GesamtausRohren. „Hier fangen wir die Zukunft ein“, sagt stoß an Treibhausgasen im Vergleich zum Amundsen, der in diesem Moment so Jahr 1990 zu halbieren. Nur so werde sich stolz ist, dass er seine skandinavische Zurückhaltung aufgibt. Eine „weltweit einzigartige Anlage“ sei das, schwärmt er. Tore Amundsen ist Direktor des CO² Technology Centre in Mongstad. Das Werk wird aus den Abgasen des benachbarten Gaskraftwerks und der Raffinerie 85 Prozent des klimaschädlichen Kohlendioxids herausfiltern. Anschließend, so ist es geplant, soll das CO² in Gaskavernen endgelagert werden. Carbon Capture and Storage (CCS) heißt das Verfahren, und noch nie wurde es in einem so großen Maßstab ausprobiert. An diesem Montag wird Norwegens Premierminister Jens Stoltenberg gemeinsam mit dem EUKommissar für Energie, Günther Oettinger, die Anlage einweihen. Ein Meilenstein sei das auf dem Weg in eine klimafreundliche Zukunft, so ließ der norwegische Regierungschef verkünden. CO²-Abscheidungsanlage in Mongstad: „Irgendwann stoßen wir an physikalische Grenzen“ 140 HELGE HANSEN A D E R S P I E G E L 1 9 / 2 0 1 2 Kohlendioxid, das aus unterirdischen La- Verfahren installiert. Die Praxis soll ergerstätten austreten könnte. Und Politiker weisen, welches das effektivere ist. Beide Prozesse bedienen sich einer fürchten den Widerstand der Bürger. Voriges Jahr scheiterte ein Gesetzent- Waschflüssigkeit. Die eine enthält Amwurf, der die CCS-Technik in Deutsch- moniak, die andere Amine. In dem Turm land gefördert hätte. Wütend stampfte für das Amin-Verfahren, 60 Meter hoch, der Energiekonzern Vattenfall seine Plä- strömt das Abgas von unten nach oben. ne für ein 300-Megawatt-Testkraftwerk in Es wird gepresst durch kleine Löcher in Brandenburg ein. Die Suche nach End- Platten, auf denen die Waschsubstanz entlagerstätten ist faktisch zum Erliegen ge- langfließt. Dabei reagieren die Amine mit dem im Abgas enthaltenen Kohlendioxid kommen. Als vergangene Woche Bundeskanzle- und nehmen das Klimagas dabei aus dem rin Angela Merkel zum Energiegipfel ins Rauch auf. Anschließend fließt die Brühe in einen Kanzleramt lud, nahm sie das Wort CCS nur einmal in den Mund – als abschre- weiteren Turm. Dort zischt Dampf durch ckendes Beispiel dafür, wie Klimaschutz- die Flüssigkeit und trennt das Kohlentechniken im Mahlwerk der Politik zer- dioxid ab, damit es verflüssigt und endgelagert werden kann. „Alle diese Vorrieben werden. Mongstad-Direktor Amundsen lässt gänge kosten allerdings eine ganze Menge sich von den Widerständen gegen seine Energie“, gesteht Amundsen. Kritiker halten dies für die eigentliche Anlage nicht beeindrucken. „Die Realitäten werden die Politik schon bald über- Achillesferse der CO²-Abscheidung, und auch Amundsen macht sich nichts vor: zeugen“, sagt er. Während Arbeiter gerade die Bühne „Bei einem Gaskraftwerk verlieren wir für die Einweihungszeremonie aufbauen, rund acht Prozent beim Wirkungsgrad“, interessiert er sich für die ersten Testläufe rechnet er vor, und sein Mund wird dabei an der Anlage. „An über hundert Stellen noch spitzer, als er ohnehin schon ist. können wir Messungen vornehmen“, er- „Das würde den Strompreis derzeit um gut 30 bis 40 Prozent verteuern.“ klärt er. Amundsen hofft, dass seine Ingenieure Die Zusammensetzung des Gases, das Volumen, die Leitfähigkeit: An jeder Stel- den Energieverbrauch der CO²-Filterung le des komplizierten Prozesses wird der weiter drücken können. KraftwerkstechReinigungsvorgang überwacht. Auf dem niker von Siemens zum Beispiel haben Gelände sind gleich zwei unterschiedliche ein vielversprechendes Verfahren entwi- Doppelter Nutzen Strom Funktionsweise eines Kraftwerks mit CO2-Abscheidung Erdgas CO2-arme Emission Wie in einem herkömmlichen Kraftwerk erhitzen mit Kohle oder Gas befeuerte Heizkessel Wasser in einem Kreislauf. Der erzeugte Dampf treibt eine Turbine an, die wiederum über einen Generator Strom erzeugt. Das bei der Verbrennung entstehende Kohlendioxid wird mit einer Waschsubstanz aus den Abgasen herausgefiltert. Den Absorptionstürmen am Ende der Anlage entweicht Wasserdampf, jedoch kaum mehr klimaschädliches CO2. Das hochkomprimierte CO2 wird über Bohrleitungen in die Tiefe verpresst. Dort könnte es dazu dienen, Erdgas aus seiner Lagerstätte zu treiben. Mit der Gewinnung neuen Brennstoffs ließen sich die hohen Betriebskosten der CO2Abscheidetechnik teilweise ausgleichen. Gaslagerstätte ckelt. Es nutzt eine neuartige Waschsubstanz, die noch effektiver sein soll. In einer dritten Anlage könnte die Methode schon bald auf dem Gelände von Mongstad ausprobiert werden. Vielleicht schaffen es die Anlagenbauer auf diese Weise, die Energieverluste zu halbieren. „Aber irgendwann stoßen wir zwangsläufig an physikalische Grenzen“, prophezeit Amundsen. Rechnet sich CCS dann überhaupt noch für Energiekonzerne? Im Rahmen des Emissionshandels müssen sie für jede Tonne Kohlendioxidausstoß Geld bezahlen, derzeit rund sieben Euro. Das allerdings ist zu wenig, als dass sich CCS auszahlen würde. Entscheidend ist zudem, wie schnell die Herstellungspreise für erneuerbare Energien fallen. Vor allem die Windkraft dürfte heute schon billiger als Kohle- oder Gaskraftwerke mit CCSTechnik sein. Deshalb traue sich in Deutschland kein Stromkonzern an diese neuen Verfahren heran, sagt Felix Matthes vom Öko-Institut in Berlin. Dennoch kritisiert der Energie-Experte, dass die deutsche Politik die Entwicklung der CCS-Technik in großem Maßstab, so wie in Mongstad, aufgegeben hat. Vor allem für Stahlwerke und Zementfabriken stehe sie ohne Alternative da. „Wie deren Emissionen reduziert werden könnten, dafür haben die Kritiker von CCS keine Ideen“, sagt Matthes. Die IEA jedenfalls kalkuliert, dass fast zwanzig Prozent der weltweit notwendigen CO²-Einsparungen durch CCS-Technik erreicht werden müssten, wenn sie einigermaßen kostengünstig realisiert werden sollen. Matthes geht noch weiter: Am Ende ließe sich der Erdatmosphäre sogar Kohlendioxid entziehen, etwa wenn die Technik in Holzpellet-Kraftwerken eingesetzt wird. Schließlich hätten die Bäume beim Wachstum Kohlenstoff aus der Erdatmosphäre im Holz eingebaut. „Wird es verbrannt, herausgefiltert und im Untergrund eingelagert, verringern wir damit die Konzentration des Klimagases in der Erdatmosphäre“, sagt Matthes. Mongstad-Manager Amundsen freut sich über solche Argumente von Klimaschützern. Denn auch in Norwegen sprudelten die Forschungsgelder angesichts der Skepsis vieler Experten nicht so, wie er es sich erhofft hatte. Mehrmals musste die Fertigstellung der Anlage verschoben werden. Für die Zukunft aber ist Amundsen hoffnungsfroh. „Wenn ein Produkt erst mal im Markt eingeführt ist, geht die Entwicklung blitzschnell“, sagt er. Als sein damaliger Arbeitgeber ihm 1988 sein erstes Handy kaufte, habe das Gerät zehn Kilogramm gewogen. „Und jetzt schauen Sie sich das hier an“, sagt Amundsen und zieht sein Smartphone aus der Tasche des Overalls. GERALD TRAUFETTER D E R S P I E G E L 1 9 / 2 0 1 2 141 Szene Sport Spieler des THW Kiel HANDBALL Festgefahren Noch nie hat ein Verein die Handball-Bundesliga so dominiert wie der THW Kiel: Vergangenen Dienstag wurde der Club zum 17. Mal Deutscher Meister, fünf Spieltage vor dem Ende der Saison, unbesiegt bis dahin, noch nicht einmal ein Unentschieden, 58:0 Punkte. Der ehemalige Nationalspieler Stefan Kretzschmar, 39, der als neuer Sportdirektor beim Konkurrenten HSV Hamburg im Gespräch ist, hält es für notwendig, die Kieler Überlegenheit zu brechen: „Wenn wir Spannung und Wettbewerb wollen, müssen die anderen Vereine in der Sommerpause ihre Hausaufgaben machen.“ Ein Club wie der HSV etwa, der voriges Jahr noch den Meistertitel gewann, habe „sich nicht weiterentwickelt, sondern zwei, drei Schritte zurück gemacht, die Spielkultur hat gelitten“. Der Verein müsse den Kader verjüngen und perspektivischer denken. „Der HSV wird zu familiär geführt, man hält zu lange an altgedienten Profis fest und holt kurzfristig Spieler, die gerade auf dem Markt sind.“ In Kiel arbeite man professioneller. „Die denken jetzt schon an den Kader für die Saison 2014/15“, sagt Kretzschmar, „die sichten zurzeit Talente, die sie vielleicht in fünf Jahren brauchen.“ Beim HSV sei die Lage „sehr festgefahren“. Der Club sei eine „TopAdresse im Handball, weltweit“, sagt Kretzschmar, der im Aufsichtsrat des Zweitligisten SC DHfK Leipzig sitzt. „Trotzdem sehe ich für einen wie Nationaltorwart Silvio Heinevetter keine Notwendigkeit, zu diesem Zeitpunkt aus Berlin zum HSV zu wechseln.“ MEDIZIN „Krankhafte Verdickung“ Wolfgang Fehske, 60, Chefarzt der Klinik für Innere Medizin des St. Vinzenz-Hospitals Köln, über die Ursachen für den plötzlichen Herztod bei Profi-Sportlern SPIEGEL: Der norwegische Schwimmweltmeister Alexander Dale Oen ist im Trainingslager in Flagstaff gestorben, vermutlich wegen eines plötzlichen Herztods. Wie kann das bei einem Athleten wie Oen passieren? Fehske: Der Fall ist tragisch. Oen gehörte sicherlich zu den Sportlern, die im Vorfeld ausreichend untersucht wurden. Aber er trainierte im Höhenlager auf 2100 Metern, klagte offensichtlich schon länger über Schulterschmerzen und wurde deshalb mit Cortisonspritzen behandelt. Das macht man nur, um einen Sportler fit zu machen. SPIEGEL: Sie glauben, er hat das Risiko, das Herz-Kreislauf-System zu überlasten, in Kauf genommen? Fehske: Oen ist geschwächt in diese extreme Belastung hineingegangen, und sein Körper scheint das nicht ausgehalten zu haben. SPIEGEL: Was ist die häufigste Ursache für Herzprobleme bei Sportlern? Fehske: Die meisten Betroffenen leiden an einer krankhaften Verdickung des Herzmuskels, der sogenannten hypertrophen Kardiomyopathie. Bei körper- Schwimmer Oen 2010 D E R S P I E G E L 1 9 / 2 0 1 2 licher Anstrengung kann diese zum plötzlichen Herztod führen, indem das Gehirn nicht mehr mit genügend Blut versorgt wird und das Herz aus dem Rhythmus kommt. Aber es gibt auch andere angeborene Erkrankungen, die erst nach einem plötzlichen Herztod vermutet werden. Sebastian Faißt, ein Junioren-Handballnationalspieler, starb mit 20 Jahren während eines Spiels, er hatte wahrscheinlich eine Verengung der Körperschlagader, hierbei kann es unter Belastung zu hohen Drücken im Herz und Gehirn und zum plötzlichen Herztod kommen. SPIEGEL: Kann so eine genetische Disposition durch eine Vorsorgeuntersuchung festgestellt werden? Fehske: Die Verdickung des Herzmuskels kann nur durch eine Herz-Ultraschalluntersuchung diagnostiziert werden. Faißt ist leider durch dieses Raster gefallen, weil diese Untersuchung nur im Profi-Bereich vorgeschrieben ist. Das Screening der Nachwuchsund Amateursportler muss noch erheblich verbessert werden. 143 LASZLO BALOGH / REUTERS ZWEIKAMERADEN / IMAGO Sport Dortmunder Stadion FUSSBALL Die Botschaft der Wade HANS BLOSSEY / IMAGO Hohe Arbeitslosigkeit, leere Kassen – die Stadt Dortmund hat den Strukturwandel noch nicht geschafft. Die Menschen halten sich an ihrem Fußballclub Borussia fest, der gezeigt hat, dass Erneuerung möglich ist. ens-Daniel Herzog steht nach dem Ende der Vorstellung in seinem Opernhaus und sucht den Dortmunder Oberbürgermeister. Herzog ist seit September Intendant der Dortmunder Oper, und Oberbürgermeister Ullrich Sierau war noch nie in einer seiner Premieren. Jetzt kommt der OB aus dem Opernsaal. Er trägt einen BVB-Fanschal. Neben ihm strömen die Menschen durch die Tür, viele tragen ein Fußballtrikot. Vor ein paar Sekunden grölten sie im Saal: „Und schon wieder Deutscher Meister, BVB!“ Einige schwenkten Fahnen. Das Stück heißt „Fangesänge – Fußball-Hymne in zwei Halbzeiten“. Es geht um Gewalt, um Kommerz, um das Glück, für den Ballspielverein Borussia zu sein und nicht für Schalke. Der Chor sang: „Ihr seid Schalker, asoziale Schalker, ihr schlaft unter Brücken oder in der Bahnhofsmission, ihr seid ein großer Haufen Scheiße.“ Es ist der Tag, nachdem Borussia Dortmund zum zweiten Mal in Folge Deutscher Meister geworden ist. Herzog ist einer der gefragten Opernregisseure Deutschlands, im Juli wird seine „Zauberflöte“ die Salzburger Festspiele eröffnen. Herzog wusste, dass er Sierau 144 J mit Fußball kriegt. Der BVB geht immer in Dortmund. Sein Opernhaus hat einen lächerlich niedrigen Etat. Es wäre nicht schlecht für Herzog, jetzt mit dem mächtigsten Politiker der Stadt über Kultur zu sprechen. Dortmund ist eine Stadt, in der eine Opernkarte im Schnitt billiger ist als eine Fußballkarte. „War ja nicht so voll“, sagt Sierau, der nicht vorhat, über Kultur zu reden. Er schwärmt von Trainer Jürgen Klopp, der jungen Mannschaft, der Euphorie in der Stadt. Das Gespräch dauert vier Minuten, dann muss Sierau weg. Herzog bleibt etwas verloren zurück. Da ist es wieder. Die erste Lektion für Zugezogene. Dortmund, das ist nicht die Oper, die Uni, die Wirtschaft. Dortmund, das ist der BVB. „Es zieht sich durch alle Schichten – es hat etwas Irrationales, etwas Religiöses“, sagt Herzog später über die Fußballbegeisterung in der Stadt. Kaum ein Verein in Europa hat mehr Zuschauer als die Borussia. Die Technische Universität lädt ihre 6000 Erstsemester zur offiziellen Begrüßung ins Stadion ein. Als Dortmund voriges Jahr die Meisterschaft feierte, wurde die B 1 gesperrt, D E R S P I E G E L 1 9 / 2 0 1 2 400 000 Menschen tanzten auf der Straße. Die katholische Gemeinde organisierte einen „Meisterschaftsgottesdienst“, der Pfarrer sprach von einem „Steilpass in den Himmel“. Und weil damals Verteidiger Neven Subotić spontan aus einem Auto stieg, um in der Innenstadt mit Fans zu feiern, gibt es jetzt, mitten auf einer Linksabbiegerspur in Dortmund, einen reservierten Subotić-Parkplatz. Man kann mit Dutzenden Dortmundern sprechen und wird immer wieder hören, dass der BVB das Wichtigste in ihrem Leben sei, aber kaum einer kann sagen, warum. Außer, dass es bei „Vatter und Großvatter“ auch schon so gewesen sei. Dortmund stand mal für Kohle, Stahl und Bier. Es war einer der größten Brauereistandorte der Welt. Die Stadt war nicht schön, weil 98 Prozent des Zentrums im Krieg zerstört worden waren, aber es gab genug zu tun. Irgendwann lohnte sich Bergbau in Deutschland nicht mehr, Stahlwerke wurden hier abmontiert und in China aufgebaut, 1987 schloss die letzte Zeche. Das Ganze nannte sich Strukturwandel, vernichtete fast 80 000 Arbeitsplätze in der Zeit von 1970 bis 2000 und hat Spu- Gottesdienst In Dortmund, Opernaufführung, BVB-Spieler, Großkreutz-Tätowierung: „Es hat etwas Irrationales“ ren hinterlassen. Kohle, Stahl und Bier schwanden. Es blieb nur der BVB. Dortmund sucht sich heute selbst. Es gibt ein paar Wirtschaftsansiedlungen in Zukunftsbranchen, trotzdem liegt die Arbeitslosenquote bei 13,4 Prozent. Die Stadt ist voll von Leuten, die immer hart gearbeitet haben und denen irgendwann jemand sagte, dass man sie nicht mehr braucht. Friedrich Küppersbusch, Fernsehproduzent, Dortmunder und BVB-Fan, sagt, dass „Trotz“ ein wichtiges Wort in Dortmund sei. Eine bockige Haltung, in die sich Stolz mischt. Ein „Wir brauchen euren Scheiß-Kohlepfennig nicht“. Küppersbusch liebt, wie die meisten, die hier zu Hause sind, diese Stadt, aber er glaubt, dass viele Dortmunder heute noch denken: „An meinem Geburtstag regnet’s immer.“ Manchmal aber, alle zehn Jahre, sagt Küppersbusch, „regnet’s nicht, da wird der BVB Meister“. Jens-Daniel Herzog, der Opernintendant, hat viel über die Rolle des Vereins in der Stadt und über das Dortmunder Fußballgefühl nachgedacht. Er formuliert einen überraschenden Satz: „Es gibt hier die Wade von Kevin Großkreutz.“ Großkreutz ist derzeit der beliebteste BVB-Spieler. Er ist in Dortmund geboren und stand als Kind auf der Südtribüne des Westfalenstadions. Journalisten streiten, ob er mehr Profi ist oder mehr Ultra. Einen zweiten Spieler in der Bundesliga, der sich so radikal mit seinem Club identifiziert, wird man nicht finden. Er hat kürzlich verlangt, ab und an bengalische Feuer in Stadien zu erlauben. Großkreutz gibt zurzeit keine Interviews. Nach dem DFB-Pokal-Halbfinale gegen Fürth ging er auf Gerald Asamoah los. Asamoah hat mal für Schalke gespielt. Als Großkreutz noch Interviews gab, hat ihm der Verein häufig einen Kollegen zur Seite gestellt, einen eloquenten, besonnenen wie Mats Hummels, den Verteidiger, oder Roman Weidenfeller, den Torwart. Großkreutz ist ein Profi, der wie ein Fan denkt. Die Südtribüne vergöttert ihn. Weil er zu Dortmund steht, weil er Schalke „die Pest“ nennt – und wegen der Wade. Nach der letzten Meisterschaft hat sich Kevin Großkreutz die Skyline von Dortmund auf die rechte Wade tätowieren lassen. Die Reinoldi-Kirche, die Zeche Germania, den Florianturm, das BVB-Stadion D E R S P I E G E L 1 9 / 2 0 1 2 und die Silhouette von Herzogs Oper. Das ultimative Bekenntnis zur Stadt. „Ich wünsche mir die Offenheit, die Urbanität von Großkreutz’ Wade für die Stadt“, sagt Herzog, „ich möchte, dass sich die Politik zum BVB bekennt, aber auch zur Kultur und zu all den anderen Dingen in dieser Stadt.“ Ein Opernintendant, der die Bedeutung seines Hauses aus der tätowierten Wade eines Fußballers ableitet. Was sagt das über eine Stadt? Sebastian Kehl spielt seit fast zehn Jahren für den BVB, er ist der Kapitän der Mannschaft. „Vor ein paar Jahren, als es dem Verein schlechtging, stand mal ein Briefträger vor der Tür und weinte“, erzählt Kehl. In solchen Momenten verstehe man, wie wichtig den Menschen der Club sei. „Es stimmt schon, dass der BVB für Dortmund eine große Bedeutung hat, mehr vielleicht als die Bayern für München oder der HSV für Hamburg.“ Michael Zorc, der Sportdirektor des BVB, sitzt in seinem Büro in der vierten Etage der BVB-Geschäftsstelle. Seit 34 Jahren ist er im Verein. Zorc ist im Norden Dortmunds aufgewachsen, hat 463 Bundes145 V.L.N.R.: BERND THISSEN / PICTURE-ALLIANCE / DPA; THOMAS.M. JAUK; ANKE FLEIG/SVEN SIMON / PICTURE ALLIANCE / DPA; IMAGO ligaspiele gemacht, alle für den BVB. „Die Jungs spielen Vollgas-Fußball“, sagt Zorc, „das merken die Fans.“ Er glaubt, dass sich die Fans derzeit besonders mit der Mannschaft identifizieren. Hungrige, junge Leute, manche, wie Mario Götze, aus der eigenen Jugend. Trainer Jürgen Klopp lässt modernen Fußball spielen. Der basiert auf Ballbesitz, auf Pressing und Gegenpressing, auf Verteidigern wie Mats Hummels, die beidfüßig die Spieleröffnung ermöglichen, auf Spielern wie Shinji Kagawa und Götze, die technisch perfekt sind. Klopp hat mit dem Verein bereits den Strukturwandel geschafft, in dem die Stadt noch steckt. Das war nicht zu erwarten. 2002, dank einer suizidalen Transferpolitik und dem Geld aus dem Börsengang, wurde der BVB Meister. Der Club hatte Stars gekauft wie Rosický, Koller und Amoroso, große Spieler, für großes Geld. Drei Jahre später war man praktisch pleite. Zorc denkt oft an diese Zeit. Sie war lehrreich, sagt er. Demut sei in der Geschäftsstelle nach wie vor ein dominantes Gefühl. Die Borussia sei noch lange nicht Bayern München. Aber das Schöne an der jungen Mannschaft von Jürgen Klopp ist, dass sie die Leinwand für Träume ist. Mut, Eleganz, Kampf und Glück – das alles bringt sie auf den Platz. Fußballfans in ganz Deutschland bewundern heute den BVB, sie sehen in dem Team eine Art charmantes Bayern München, eine Übermannschaft, die man gernhaben kann, die einen Zeitenwechsel für ganz Deutschland einleiten wird. Jogo bonito aus dem Pott, der auf andere Vereine abstrahlen wird. Dortmund als Blick in die Zukunft. Und für viele Dortmunder steht die Mannschaft als Symbol dafür, dass Erneuerung möglich ist, dass man es mit Einsatz und Fleiß nach oben schaffen kann. Der Verein ist weiter als die Stadt, er hat den Sprung in die Moderne geschafft. Und obwohl vermutlich die meisten BVB-Fans wissen, dass Fußball berechenbarer ist als das Leben, gibt das Hoffnung. Wer sich anstrengt und die richtigen Entscheidungen trifft, der könnte irgendwann die Bayern ablösen. Warum soll das nur im Fußball so sein? Der BVB hat seine Anhänger oft enttäuscht, aber am Ende doch immer geliefert. Am kommenden Samstag spielt er wieder gegen die Bayern, im DFB-Pokalfinale in Berlin. Vielleicht die nächste Jubelfeier. Sportdirektor Zorc steht in der Geschäftsstelle und überlegt, was das Besondere an diesem Verein ist. Dann fällt ihm der Mannschaftsbus ein. Den ziert ein großes BVB-Logo, und gleich daneben steht: „Echte Liebe“. In jeder anderen Stadt wäre der Spruch ironisch gemeint, sagt Zorc. Nicht aber in Dortmund. RAFAEL BUSCHMANN, JUAN MORENO Nationalmannschaftskapitän Lahm: „Nicht meine Vorstellungen von Demokratie“ SPORTPOLITIK „Wir stehen für Werte“ Philipp Lahm über die Debatte um die Menschenrechte im EM-Ausrichterland Ukraine – und den heiklen Umgang mit Machthaber Wiktor Janukowitsch Fußballprofi Lahm, 28, ist Kapitän des FC Bayern München und der Nationalelf. Die Mannschaft des Deutschen FußballBundes (DFB) bestreitet bei der Europameisterschaft alle drei Gruppenspiele in der Ukraine, darunter am 13. Juni das Match gegen die Niederlande in Charkow. Dort sitzt die ehemalige Ministerpräsidentin Julija Timoschenko nach einem fragwürdigen Prozess in Haft. SPIEGEL: Herr Lahm, interessieren Sie sich für Politik? Lahm: Natürlich. Es gehört auch zu meinem Job, mich über das Weltgeschehen zu informieren. Ich schaue Fernsehen, ich surfe im Internet. Und ich lese täglich Zeitung – nicht nur den Sportteil. D E R S P I E G E L 1 9 / 2 0 1 2 SPIEGEL: Viele Ihrer Kollegen beim FC Bayern spielen auch in der deutschen Nationalmannschaft. Sprechen Sie untereinander über die Zustände in der Ukraine und den Hungerstreik von Julija Timoschenko? Lahm: Klar machen wir uns Gedanken. Alles andere wäre ja schlimm, denn das Thema wird uns in den nächsten Wochen begleiten. Jeder Nationalspieler hat inzwischen von DFB-Präsident Wolfgang Niersbach ein Schreiben erhalten, das erklärt, worum es in der Ukraine politisch geht. Auf dem aktuellen Stand zu sein ist für uns sehr wichtig. Dafür wird der DFB auch weiterhin sorgen. SPIEGEL: Was wissen Sie über das Land, das Sie besuchen werden? 146 DEFODI / ACTION PRESS Sport Lahm: Mir ist bewusst, dass die Ukraine Lahm: Das müsste ich mir dann ernsthaft ein junger Staat ist, der nicht unseren Maßstäben entspricht, was Freiheit und Menschenrechte betrifft. Aber ich kann die Hintergründe nicht gut genug einschätzen. Das müssen Sportverbände und Politiker tun. SPIEGEL: Wie bereiten Sie sich auf solch eine Reise vor? Lahm: Das handhabt der DFB schon seit langem sehr gründlich: Jedes Mal, wenn wir ins Ausland reisen, egal wohin, bekommen wir eine Art Dossier über Fußball, Gesellschaft und Politik zur Hand. SPIEGEL: Uli Hoeneß, der Präsident Ihres Clubs, hat vorige Woche ein Plädoyer für mündige Profis gehalten und Respekt vor Nationalspielern bekundet, die sich solidarisch mit den Oppositionellen in der Ukraine zeigen würden. Ihnen selbst ist es wichtig, Stellung zu beziehen. Hat Hoeneß Sie persönlich dazu ermutigt? Lahm: Nein. Ich weiß ja, dass ich als Kapitän der Nationalelf in der Verantwortung stehe. Aber Hoeneß mischt sich ein, in politische oder gesellschaftliche Debatten, sein Wort hat Gewicht. Das imponiert mir. Da ist er ein Vorbild für mich. SPIEGEL: Überrascht es Sie, dass die innenpolitischen Zustände in der Ukraine die EM zu überschatten drohen? Lahm: Der Fußball ist zu groß geworden, um davon unbehelligt zu bleiben. Als ich die ersten Berichte über Timoschenkos angegriffene Gesundheit las, ahnte ich, in welche Richtung es geht. SPIEGEL: Sollte sich Timoschenkos Zustand durch den Hungerstreik dramatisch verschlechtern und das Regime nicht einlenken, dreht sich die Debatte bereits darum, das Turnier zu boykottieren. Könnten Sie sich das vorstellen? Lahm: Mit dieser Frage sind wir Sportler überfordert. Das müssten die Verbände und die Politik entscheiden, denen vertraue ich. Andererseits: Eine EM ist stets ein riesiges Medienereignis, sie könnte noch mehr Aufmerksamkeit auf die Missstände lenken. Das würde den politischen Druck auf die Ukraine erhöhen. SPIEGEL: Die EU-Kommission wird den Spielen in der Ukraine geschlossen fernbleiben. Kanzlerin Angela Merkel und die meisten Bundesminister werden sich wahrscheinlich genauso verhalten, um das Regime nicht aufzuwerten. Wollen Sie den Kontakt zu Politikern des Landes ebenfalls meiden? Lahm: Normalerweise kommen wir Fußballer nicht mit den Regierungsvertretern eines Ausrichterlandes in Kontakt. Ich muss ehrlich sagen: Darüber bin ich im konkreten Fall durchaus froh. SPIEGEL: Das EM-Finale wird in der ukrainischen Hauptstadt Kiew gespielt. Sollte die deutsche Elf dabei sein, könnte es passieren, dass Ihnen Präsident Wiktor Janukowitsch auf der Ehrentribüne die Hand reicht. Würden Sie annehmen? überlegen. Meine Ansichten zu demokratischen Grundrechten, zu Menschenrechten, zu Fragen wie persönlicher Freiheit oder Pressefreiheit finde ich in der derzeitigen politischen Situation der Ukraine nicht wieder. Wenn ich sehe, wie das Regime Julija Timoschenko behandelt, dann hat das nichts mit meinen Vorstellungen von Demokratie zu tun. Dafür ist jemand verantwortlich. Soviel ich weiß, machen die Siegerehrung in Kiew aber nur UefaLeute. SPIEGEL: Die Uefa betont als Veranstalter des Turniers ihre politische Neutralität, Präsident Michel Platini hat sich bislang nicht öffentlich zu Fragen wie denen der Öffentlichkeit, weil die Medien viel ausführlicher informieren. Wir wollen Zusammenhänge erklärt bekommen, und wir sprechen selbstverständlicher und differenzierter über die politische Dimension des Sports. SPIEGEL: Vor kurzem begann eine weitere politische Debatte über die EM. Der Präsident des Zentralrats der Juden, Dieter Graumann, forderte die Nationalmannschaft auf, sie solle während des Aufenthalts in Polen das ehemalige Konzentrationslager in Auschwitz besuchen. Lahm: Ich habe das zur Kenntnis genommen. Wichtig ist, dass wir wissen, was in Auschwitz Schreckliches geschehen ist – und dass wir dazu eine Haltung haben. Menschenrechte in der Ukraine geäußert. Erwarten Sie von Platini, dass er gegenüber den Machthabern Stellung bezieht? Lahm: Ich glaube, dass er Position beziehen sollte. Und ich bin gespannt, was er zu sagen hat. SPIEGEL: Sind Sport und Politik noch voneinander zu trennen? Lahm: Beides gehört zusammen, es lässt sich nicht voneinander trennen. Wir Nationalspieler repräsentieren Deutschland, wir stehen für eine demokratische Gesellschaft, für Werte wie Fairness und Toleranz, für Integration. Nehmen wir zum Beispiel die jüngsten Weltmeisterschaften, 2006 hierzulande und 2010 in Südafrika: Viele haben sich positiv über unser Auftreten geäußert. Das trägt zum Bild bei, das sich die Welt von Deutschland macht. SPIEGEL: Als die deutsche Mannschaft bei der WM 1978 in Argentinien auf die damals dort herrschende Militärjunta angesprochen wurde, sagte Kapitän Berti Vogts: „Ich habe keinen einzigen politischen Gefangenen gesehen.“ Könnte sich ein deutscher Nationalspieler solch eine Aussage heute noch erlauben? Lahm: Die Zeiten haben sich geändert. Und damit auch wir Profis. Wir werden als Vorbilder wahrgenommen, wir stehen viel stärker als die Spieler früher in der D E R S P I E G E L 1 9 / 2 0 1 2 Vom DFB weiß ich, dass ein Besuch geplant ist. SPIEGEL: Fühlen Sie sich von Graumann unter Druck gesetzt? Lahm: Nein, es bleibt unsere Entscheidung, ob wir zur Gedenkstätte reisen oder etwas Ähnliches machen. Wir werden das im Mannschaftsrat diskutieren und gemeinsam mit dem DFB entscheiden. Wir sollten nicht vergessen, dass wir in erster Linie bei dem Turnier sind, um Fußball zu spielen und sportlich zu überzeugen. SPIEGEL: Ihr EM-Quartier liegt in Polen, nahe Danzig, nicht in der Ukraine. Beruhigt Sie das? Lahm: Das spielt keine Rolle. SPIEGEL: In Timoschenkos Geburtsstadt Dnjepropetrowsk sind vor einer Woche vier Bomben explodiert, die Hintergründe der Attentate bleiben unklar. Macht Ihnen das Angst? Lahm: Nein. Ich habe kein ungutes Gefühl, so weit geht es noch nicht. Ich hoffe darauf, dass sich die Lage nicht verschärft, sondern entspannt. Über Südafrika hatten vorher auch viele gesagt, die Sicherheitslage sei wegen der hohen Kriminalität kritisch. Trotzdem mussten wir uns dort keine Sorgen machen. INTERVIEW: DETLEF HACKE, MICHAEL WULZINGER 147 THOMAS PLASSMANN Jeden Tag. 24 Stunden. MONTAG, 7. 5., 23.00 – 23.30 UHR | SAT.1 SPIEGEL TV REPORTAGE Die Küche ist kein Ponyhof (1) Kochlehrlinge unter Dampf Ihre Ausbildung ist zuweilen brutal: Köche schuften in aufgeheizten, fensterlosen Räumen, in gebückter Haltung. Wer Koch werden will, muss vor allem Leidenschaft mitbringen. Sonst sind die Belastungen nicht zu ertragen. Ralph Quinke hat Koch- MARIO VEDDER/DDP IMAGES/DAPD THEMA DER WOCHE SPIEGEL TV Gefährliche Pillen VOLKER HARTMANN / DDP IMAGES / DAPD Zehn Millionen gefälschte Tabletten stellte der deutsche Zoll 2010 sicher. Oft sind es Sex- und Schlankheitsmittel, doch zunehmend werden auch lebenswichtige Arzneien im Internet verscherbelt. ‣ Der Kampf gegen den illegalen Online-Handel ‣ Wie gefährlich die Medikamente wirklich sind Auszubildender Azubis durchs erste Lehrjahr begleitet. Wenige waren dem Stress gewachsen. SONNTAG, 13. 5., 22.15 – 23.00 UHR | RTL SPIEGEL TV MAGAZIN POLITIK | Kraft-Probe in Düsseldorf In Nordrhein-Westfalen kämpft Rot-Grün um den Machterhalt und die FDP ums Überleben. SPIEGEL ONLINE berichtet live mit Reportagen sowie mit Analysen und Kommentaren. Spurensicherung nach einem Mord WIRTSCHAFT | Zwischen Protest und Pose Wie zeitgemäß sind Aktionen von Umweltschutzorganisationen? Ein Treffen mit Greenpeace-Chef Kumi Naidoo. Mord im Namen der Ehre – Der Fall Arzu Ö.; Kunst oder Vandalismus – Sprayerkrieg in Leipzig; Schnipsgummipistolen und Kartoffelkanonen – Wenn Männer nichts zu tun haben MITTWOCH, 9. 5., 19.25 – 20.15 UHR | PAY-TV SPIEGEL TV WISSEN SPORT | Dortmund auf Double-Jagd Borussen gegen Bayern! Im DFB-Pokalfinale treffen die beiden stärksten deutschen Mannschaften aufeinander. Zweimal triumphierten die Dortmunder in dieser Saison über München. Gelingt ihnen der dritte Streich? SPIEGEL ONLINE berichtet live. Will ich wissen! Wie entsteht ein Motorrad? Seit mehr als 40 Jahren werden im einzigen deutschen Motorradwerk in Berlin-Spandau Motorr äder von BMW gebaut. Vom Roller bis hin zum Sechszylinder-Luxustourer laufen täglich mehr als 500 Maschinen vom Band. Hightech-Verfahren und traditionelle Handarbeit kommen hier in besonderem Maße zusammen. SPIEGEL TV Wissen dokumentiert den Bau eines SechszylinderSupertourers in einer der modernsten Motorradfertigungen der Welt. 149 | Argentiniens Atlantis Vor 90 Jahren entstand in der argentinischen Pampa der Badeort Villa Epecuén. Zehntausende Kur-Urlauber genossen das Wasser des Sees, der fast so salzig wie das Tote Meer war. Dann brach ein Damm, und das Badeparadies versank metertief im Wasser – bis die Trockenheit der vergangenen Jahre die Ruinen wieder ans Licht brachte. ALBERTO CLAVERÍA www.spiegel.de – Schneller wissen, was wichtig ist D E R S P I E G E L 1 9 / 2 0 1 2 PHILIPP GUELLAND/DDP IMAGES/DAPD Register GESTORBEN David Weiss, 65. Der Schweizer Künstler war ein zurückhaltender Mensch, der die Öffentlichkeit mied und doch ein großes Publikum fand. Der Sohn eines Pfarrers kam in Zürich zur Welt, studierte in Basel und bildete seit 1979 mit seinem Kollegen Peter Fischli ein Duo, das bald berühmt wurde. In ihren Videos warfen die beiden einen hintersinnigen, humorvollen Blick auf die Gegenwart. Für eine ihrer ersten gemeinsamen Arbeiten verkleideten sich die Künstlerfreunde als Bär und Ratte und spazierten durch Hollywood. Später stellten sie auf der Documenta aus, auf der Biennale von Venedig, die Tate Modern in London würdigte sie mit einer großen Schau. Konzeptkunst, so zeigten sie, kann unterhaltsam sein. Für eine Wandprojektion und ein Buch mit dem Titel „Findet mich das Glück?“ sammelten sie die wichtigen Fragen des Lebens, etwa: „Hätte aus mir etwas anderes werden können?“ Oder: „Kommt ein Bus?“ David Weiss, der an Krebs erkrankt war, starb am 27. April in Zürich. Tomás Borge, 81. „Unerbittlich im Kampf und großzügig im Sieg“, so lautete der Leitspruch des Studenten, der 1961 in Nicaragua zu den Gründern der Sandinistischen Befreiungsfront gehörte. Die Taktik des Guerillakriegs lernte er in Kuba, zusammen mit einer Handvoll Mitstreiter nahm er in seiner Heimat den Kampf gegen das Regime des Somoza-Clans auf, das ihn später verhaftete und folterte. Nach dem Sturz der Diktatur 1979 wurde Borge als Innenminister der starke Mann der Revolutionsregierung. Von nun an verfolgte er Oppositionelle mit gnadenloser Härte, er soll in ein Massaker an 37 politischen Gefangenen verwickelt gewesen sein. Privat war er ein Lebemann und Frauenheld. Er bewunderte Fidel Castro und Muammar al-Gaddafi, die Niederlage der Sandinisten bei den Wahlen 1990 verwand er nie. Später vertrat er die Sandinistische Partei im Zentralamerikanischen Parlament und in der Nationalversammlung. Nach dem Sieg des einstigen Revolutionsführers Daniel Ortega bei der Präsidentschaftswahl 2006 war er Botschafter. Tomás Borge starb am 30. April in Managua. 150 D E R Benzion Netanjahu, 102. Im Alter von zehn Jahren war der israelische Historiker mit seiner Familie von Warschau nach Palästina emigriert. Enttäuscht von der seiner Meinung nach zu kompromissbereiten zionistischen Führung, schloss sich der Student 1930 der revisionistischen Bewegung an, einer radikalen Abspaltung des Zionismus. 1940 ging er nach New York, um der Bewegung als Sekretär zu dienen. Danach pendelte Netanjahu zwischen Israel und den USA. Er lehrte an US-Universitäten, doch vom politischen und akademischen Establishment Israels wurde der rechte Ideologe abgelehnt – das verbitterte ihn bis zuletzt. Netanjahu trat für ein Großisrael ein, bestritt die Existenz eines palästinensischen Volkes und sah Araber als ewige Feinde, mit denen kein Frieden zu machen sei. Dass sein Sohn, Benjamin Netanjahu, als Premierminister die Zweistaatenlösung anerkannte, kritisierte er. Benzion Netanjahu starb am 30. April in Jerusalem. Heinz P. Lohfeldt, 76. Ihm gelang 1978 als Washingtoner SPIEGEL-Korrespondent eine journalistische Sensation: Jimmy Carter empfing Lohfeldt allein im LincolnRoom des Weißen Hauses. Es war das erste Mal, dass ein amtierender US-Präsident einem europäischen Journalisten ein Einzelinterview gab. 20 Jahre zuvor war Lohfeldt als Stenograf zum SPIEGEL gekommen, auch da schaffte er mehr Silben pro Minute als alle anderen; bald stieg er zum Auslandskorrespondenten auf. Er begleitete Robert Kennedy 1968 auf dessen letzter Wahlkampfreise; zwei Stunden bevor der Bruder des ermordeten früheren Präsidenten John F. Kennedy ebenfalls getötet wurde, sprach er mit ihm und machte ein Foto, das dann auf dem SPIEGEL-Titel erschien. Er stapfte schon mit Carter über dessen Erdnussacker, als kaum jemand den Kandidaten ernst nahm. Lohfeldt liebte das schöne Amerika genauso wie das hässliche und beschrieb es in Dutzenden Titeln. Er traf viele der obersten US-Politiker, am meisten aber mochte er Henry Kissinger, den ehemaligen Außenminister. Bis zuletzt meldete Lohfeldt dem aus Bayern stammenden Kissinger die Ergebnisse der Fußball-Bundesliga, per Fax, weil der Technikfreak Lohfeldt dem Computermuffel Kissinger Elektronisches nicht zumuten mochte. Bis 1994 war Lohfeldt Chef vom Dienst beim SPIEGEL, danach arbeitete er noch bis 2001 für das Haus. Amerika blieb er immer verfallen. Heinz P. Lohfeldt starb am 29. April in Hamburg an Krebs. 1 9 / 2 0 1 2 S P I E G E L SVEN SIMON / IMAGO JO SCHWARTZ Personalien Klaus Ernst, 57, umstrittener Parteivorsitzender der Linken, verliert Einfluss an allen Fronten. Sogar das ehemalige SEDBlatt „Neues Deutschland“ („ND“) verschmäht seine Avancen. Der Linken-Chef hatte dem „ND“ einen Beitrag angeboten. Thema sollte die Konkurrenz zwischen Linken und Piraten sein. Doch in dem abgelieferten Text ging es hauptsächlich um Ernsts Kritik an der innerparteilichen Personaldebatte, die auch ihn betrifft; „ND“-Chefredakteur Jürgen Reents verweigerte den Abdruck. Ernst wollte nicht einmal einer Bearbeitung des Textes zustimmen und klagte über „Zensur“. Reents konterte kühl: „Wir drucken keinen Artikel über Belgien, wenn einer über Dänemark vereinbart war.“ Wolfgang Apel, 60, Ehrenpräsident des Deutschen Tierschutzbundes, muss sich minister (CSU), packte eine Welle der Wehmut, als er vergangene Woche durch das nächtliche Washington joggte. Als junger Student hatte er 1983 für einige Monate in der amerikanischen Hauptstadt gelebt, um an einem juristischen Gutachten über künstliche Befruchtung zu arbeiten. Eines Morgens joggte Friedrich in einem olivgrünen Bundeswehrhemd am Ufer des Potomac und geriet in eine Gruppe von amerikanischen Soldaten. Friedrich, der im Bundeswehr-Outfit kaum auffiel, schloss sich den GIs an, folgte ihnen in die Kaserne und erkundete unauffällig das Gelände, ehe er sein Training fortsetzte. Damals sei eine „phantastische Zeit“ gewesen, sagte der Minister, allerdings habe es auf den Straßen in der Nähe seines Apartments im Stadtteil Anacostia häufiger Schießereien gegeben. Der Minister ist bis heute ein leidenschaftlicher Läufer. Derzeit versucht er, jene zusätzlichen Kilos wieder abzutrainieren, die er seit seinem Wechsel ins Bundesinnenministerium im März 2011 zugelegt hat. teidigen. Als er vor gut einer Woche in Bremen auf einer Kundgebung gegen Tierversuche auftrat, warfen ihm vegan lebende Tierrechtler vor: „Wolfgang Apel legitimiert Gewalt an Tieren.“ Die radikalen Vegetarier essen keine Eier und tragen keine Lederschuhe, sie ärgern sich Erdogan (4. v. l.) um 1977 Recep Tayyip Erdogan, 58, türkischer Mi- Hans-Peter Friedrich, 55, Bundesinnen- gegen Zweifel an seiner Tierliebe vernisterpräsident, stand als junger Mann auf der Theaterbühne. Gemeinsam mit politischen Weggefährten führte er von 1975 bis 1980 das antisemitische Stück „MasKom-Yah“ („Freimaurer-KommunistenJuden“) in der Türkei auf. Er soll das Drama selbst verfasst haben und übernahm angeblich auch die Regie, so die Recherchen türkischer Journalisten. Offensichtlich betrachtet Erdogan die Schauspielerei noch heute hauptsächlich unter propagandistischen Aspekten. Seit Wochen laufen Tausende Theaterangestellte Sturm gegen staatliche Einmischung in die Spielpläne. Der Protest verärgerte Erdogan so sehr, dass er ankündigte, sämtliche Bühnen zu privatisieren. Offiziell begründet Erdogan diesen Plan mit seiner Sparpolitik, aber Kritiker glauben eher, dass die Theater Erdogan stören, weil sie liberale und säkulare Bastionen der türkischen Gesellschaft sind. Er drohte, den Theatern den Geldhahn komplett zuzudrehen. Ohne Geld „könnt ihr spielen, wie ihr wollt“, so der Ministerpräsident. ÖZNUR KARSLI / KENAN BUTAKIN Apel ZITAT KAI REGAN / CORBIS OUTLINE „Ich weiß, dass der Tod ein Thema ist, mit dem ich mich in meinem Alter beschäftigen sollte. Aber ich vertiefe das nicht. Es gibt noch viel zu tun.“ Iggy Pop, 65, Musiker und Pionier der Punkbewegung 152 D E R S P I E G E L 1 9 / 2 0 1 2 über eine Nebenbeschäftigung Apels: Er ist Vorstandsmitglied des Vereins Neuland, der ein Qualitätssiegel für Fleischprodukte aus tiergerechter Haltung vergibt. Damit stehe er für die Ausbeutung und Tötung von Tieren, so die Fundi-Kritiker. Apel kontert: „Ich bin nicht der Vorsitzende der Veganer.“ Kein Fleisch zu essen sei ja „eine gute Einstellung“. Aber er habe nicht die Illusion, dass sich die Menschen in absehbarer Zeit zum Fleischverzicht bewegen ließen. Deshalb wolle er wenigstens die Haltungsbedingungen für Tiere verbessern. Den Tod könne er ihnen nun mal nicht ersparen – auch wenn er selbst „fast gar kein“ Fleisch esse. ULLSTEIN BILD Hannelore Kraft, 50, SPD-Ministerpräsidentin von Nordrhein-Westfalen, hat in ihrer knapp zweijährigen Regierungszeit die Landesverwaltung weiblicher gemacht. Als die Sozialdemokratin ihren Vorgänger Jürgen Rüttgers (CDU) ablöste, arbeiteten 45 Frauen als Ministerinnen, Staatssekretärinnen, Abteilungs- und Gruppenleiterinnen – nun sind es 57, so viele wie nie zuvor. Rund 26 Prozent der Verwaltungs-Spitzenpositionen sind von Frauen besetzt, in der Staatskanzlei sind es sogar 39 Prozent. Frauen stellen drei von fünf Regierungspräsidenten, auch 8 von 18 Polizeipräsidenten sind weiblich. Drei dieser Frauen hat Kraft ins Amt geholt, darunter Elke Bartels, seit anderthalb Jahren Polizeipräsidentin in Duisburg. Bartels will ihrerseits gern mehr Frauen befördern, noch sei sie „ziemlich alleine unter Männern“. Sie hoffe auf den Nachmacheffekt: „Wer als Vorbild agiert, wird auch kopiert.“ Bérénice Marlohe, 32, französische Schauspielerin, rechnet mit der heimischen Filmbranche ab. „Sie werden niemals Karriere machen“ – so etwas habe sie sich oft anhören müssen, sagte das neue Bond-Girl dem Magazin „Paris Match“. Die Einladung zum Casting für den 007-Film „Skyfall“ hätten amerikanische Freunde organisiert. Fünf Tage danach habe sie den Job bekommen. Anna Wintour, 62, Chefredakteurin der amerikanischen „Vogue“, stellt ihre Expertise Barack Obamas Wahlkampfteam zur Verfügung. Dabei berät die wohl einflussreichste Frau der Modebranche den Präsidenten nicht etwa in Stilfragen. Wintour wählt jene Produkte aus, die auf Obamas Merchandising-Website unter der Rubrik „runway to win“ angeboten werden. Für den „Laufsteg zum Sieg“ hat Wintour namhafte Designer gewonnen, die im Dienste Obamas T-Shirts und Accessoires mit seinem Wahlkampflogo entworfen haben. Eine Einkaufstasche von Vera Wang ist für 85 Dollar zu haben. Sollte das Budget des geneigten Wählers dafür nicht ausreichen, könnte er in der Rubrik „Kitchen“ zwei Obama-Weingläser für 25 Dollar oder unter „Pets“ ein Obama-Hunde-T-Shirt für 30 Dollar erwerben, um den Demokraten zu unterstützen. Hans-Christian Ströbele, 72, GrünenPolitiker, setzt sich aus persönlicher Betroffenheit für den Verbraucherschutz ein. Nachdem er auf der Verpackung seiner Lieblingsmilch im Kleingedruckten entdeckt hatte, dass der weiße Trunk in Köln abgefüllt wird, wandte sich Ströbele an die Herstellerfirma. Der Produktname „Mark Brandenburg“ lasse vermuten, dass die Milch vor den Toren Berlins ihren Ursprung habe. Und seine Wahl sei genau deswegen auf jene Marke gefallen, so Ströbele in seinem Brief, „weil ich die Kuhhaltung im Umland unterstützen und ökologisch korrekt regional kaufen will“. Wenn die Milch aus anderen Gebieten stamme, könne man „eine Irreführung der Verbraucher vermuten“. Tatsächlich musste das Molkereiunternehmen „Friesland Campina“ mit Sitz in Heilbronn zugeben, dass besagte Milch nicht von Brandenburger Kühen stammt, sondern von deren Artgenossen in Hessen, Nordrhein-Westfalen und Rheinland-Pfalz. Der Grüne schrieb daraufhin an die Verbraucherzentrale und forderte den Vorstand auf: „Bitte veranlassen Sie, dass diese Täuschung künftig verbindlich unterbleibt.“ Ströbele sucht derweil nach einem korrekten Angebot aus der Region Berlin. Die von seiner Parteifreundin Renate Künast empfohlene Vollmilchsorte sei ihm zu fett. D E R S P I E G E L 1 9 / 2 0 1 2 ALL ACTION / ACTION PRESS Wintour 153 EVERETT COLLECTION / ACTION PRESS Hohlspiegel Aus den „Kieler Nachrichten“: „Immer wieder hämmern tiefste Klaviertasten wie Fäuste auf den Boden.“ Rückspiegel Zitat Das „Hamburger Abendblatt“ zur Diskussionsveranstaltung „Der Montag an der Spitze“ von der Körber-Stiftung und dem SPIEGEL mit Jean-Claude Juncker vergangenen Montag: „Das ist Teil des Problems, so zu tun, als ob Deutschland das einzige tugendhafte Land der Welt wäre, also Deutschland die Zeche für alle anderen Länder bezahlen müsste. Das ist in hohem Maße beleidigend für die anderen“, betonte der luxemburgische Regierungschef am Montag in Hamburg. Von den 17 Euro-Ländern hätten sieben Staaten weniger Schulden als Deutschland. Dies sei … nie ein Thema, beklagte Juncker. Er war auf Einladung des Nachrichten-Magazins DER SPIEGEL und der Körber-Stiftung … in die Hansestadt gekommen. Aus der „Westdeutschen Allgemeinen Zeitung“ Aus einem Plakataushang in Hamburg Der SPIEGEL berichtete … Aus dem „Tagesspiegel“: „Ein aufmerksamer Mieter hat am Mittwochabend in Prenzlauer Berg verhindert, dass wegen eines beschädigten Gasrohrs nichts Schlimmeres passiert ist.“ … in Nr. 18/2012 im SPIEGEL-Gespräch „Schmidt ist kein Mensch“ mit Manuel Andrack und Herbert Feuerstein über deren Einschätzung der Zukunftsperspektiven ihres ehemaligen Chefs Harald Schmidt: Feuerstein: … Manuel, ich wäre bereit, dir eine Wette anzubieten, dass Schmidt innerhalb eines Jahres wiederkommt. Andrack: Schmidt wird bis Mai 2013 nicht wieder auf dem Schirm erscheinen. SPIEGEL: Ihr Wetteinsatz? Andrack: Deine Berliner Wohnung? Feuerstein: Wenn ich jetzt, was ich sofort täte, eine Million Euro setzen würde, und der Schmidt kriegt das mit, dann sorgt er aus Bosheit dafür, dass er erst im Juni 2013 mit seiner nächsten Sendung kommt. Deswegen wetten wir bitte nur um die Ehre. Aus der Anzeige eines Bestattungsinstituts in der „Chiemgau-Zeitung“ Aus dem Bonner „General-Anzeiger“: „Der Fuß wird mit der Ferse aufgesetzt, und dann über die ganze Fußsohle in Gehrichtung abgerollt. Die Füße zeigen während der Abrollbewegung in Laufrichtung.“ Zwei Tage nach Erscheinen des Gesprächs wurde bekannt, dass Schmidt einen Vertrag mit dem Pay-TV-Sender Sky unterzeichnet hat. ... in Nr. 21/2011 „Kriminalität – ,Hey Hase, lebst du noch?‘“ über den Rentner Ernst B., der 2010 den 16-jährigen Einbrecher Labinot S. durch einen Schuss in den Rücken tötete. Die Staatsanwaltschaft Stade hat gegen den Rentner Anklage wegen Totschlags erhoben, nachdem sie das Verfahren zunächst wegen des Vorliegens einer Notwehrsituation eingestellt hatte. Die Angehörigen des Getöteten hatten dagegen Beschwerde bei der Generalstaatsanwaltschaft Celle eingelegt. Jetzt entscheidet eine Schwurgerichtskammer des Landgerichts Stade, ob ein Hauptverfahren eröffnet wird. D E R S P I E G E L 1 9 / 2 0 1 2 Aus dem „Ostholsteiner Anzeiger“ Aus der „Thüringischen Landeszeitung“: „Etwa 75 Prozent der verstorbenen Babys überleben, so Experten.“ 154
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